Asylarchitektur im Umbruch
Nutzerdurchmischt
Unterkünfte für Flüchtlinge sind ein brisantes Thema. Viele Gemeinden brauchen in diesen Wochen schnell temporäre Lösungen. Bei all der Eile ist es aber wichtig, bauliche Langzeitstrategien zu finden. Das Baubüro NRS in situ befasst sich seit 2010 mit der Aufgabe.
Umgerüstete Zivilschutzanlagen im Untergrund, Hüttendörfer in Hallen, Militärzelte auf Kasernenplätzen oder leer stehende Kommunalbauten an gesichtslosen Einfahrtsstrassen sind Orte, an denen Asylsuchende in der Schweiz untergebracht werden. Diese Unterkünfte sollen nur einen zeitlichen Aufschub bieten, bis passendere Lösungen gefunden sind. In Wirklichkeit jedoch bleiben viele Asylsuchende länger als geplant darin.
Unterbringungsmöglichkeiten bieten auch in aller Eile erstellte Containersiedlungen. Meist sind die Einheiten pragmatisch aufeinander gestapelt, zu Zeilen zusammengefasst und befinden sich ausserhalb vom Dorf- oder Stadtzentrum. Nicht zuletzt weil Containerbauten wenig Gestaltungsspielraum lassen, sind sie architektonisch und städtebaulich nicht besonders prestigeträchtig. Es verwundert also nicht, dass die Aufgabe bis anhin unter Architekten keinen grossen Stellenwert hatte und entsprechend wenig gestalterische Denkarbeit dafür aufgewendet wurde.
Doch es gibt Ausnahmen. Pascal Angehrn, Sebastian Güttinger und Marc Angst mit ihrem Team vom Baubüro NRS in situ befassen sich seit 2010 mit Asylunterkünften: «Wir sind Idealisten aus den Bereichen Industriedesign, Stadt- und Landschaftsplanung sowie Architektur, die mit engen Vorgaben hinsichtlich Kosten, Qualität und Terminen das Bestmögliche für Menschen in Not erreichen möchten», sagt Pascal Angehrn.
Drei Nutzergruppen, eine Brache
Die Büroräume von NRS in situ liegen im Basislager an der Aargauerstrasse in Zürich Altstetten; unmittelbar daneben steht auf dem gleichen Grundstück eine Asylunterkunft. Beide Bereiche sind dreistöckige Containersiedlungen – die eine für rund 200 Leute aus dem Kunst-, Kultur- oder Gewerbebereich, die andere für 120 Asylsuchende. Auf der gegenüberliegenden Seite platzierte die Stadt 2013 ausserdem die umstrittenen Strichboxen. Alle drei Anlagen hat NRS in situ geplant und ausgeführt.
Nachdem die Verträge im Zürcher Binz-Quartier ausgelaufen waren, wurden die Ateliercontainer 2012 nach Altstetten transportiert. Die Stadt Zürich verpachtet Swiss Life, der Eigentümerin des Basislagers, das Areal an der Aargauerstrasse bis ins Jahr 2027 – danach soll hier ein Tramdepot entstehen. Das Grundstück diente früher als Abfalldeponie. Später befanden sich eine Autolackiererei und Schrebergärten auf der ins Altlastenverzeichnis eingetragenen Brache.1
Die periphere Lage zwischen Autobahnzufahrt und Gleisfeldern scheint typisch für eine Asylunterkunft – und doch unterscheidet sie sich von anderen. Leute aus den Ateliers gehen an den Asylcontainern vorbei und durch die Gartenwirtschaft «zum Transit», die sich unmittelbar gegenüber befindet. So kommen Asylsuchende und Gäste miteinander in Kontakt. Die Bauten sind einzeln oder gruppenweise angeordnet, und aus dem gestampften Kiesboden wachsen Grasbüschel. Vor den Eingangstüren einiger Stahlcontainer stehen schwere Gefässe, Prototypen für Kunstwerke oder verblasste Möbel.
Betriebsstudien vor Ort
Von ihrem Arbeitsplatz in der ersten Etage können Pascal Angehrn und sein Team mitverfolgen, wie sich das Areal entwickelt und wie es genutzt wird. Sie erfahren, wo es Probleme gibt und was verbessert werden kann. Der direkte Kontakt mit der Asylorganisation Zürich (AOZ), die die Flüchtlingsunterkünfte leitet, erlaubt es, das Baukonzept für die Zukunft weiterzuentwickeln. Materialisierung, Raum- und Fenstergrössen, Rückzugsorte und Stehtoiletten können verbessert werden. So wurden aufgrund von Gesprächen mit der AOZ die Module von fünf Schlafzimmern, wie sie an der Aargauerstrasse vorkommen, bei später gebauten Unterkünften zugunsten eines Schaltzimmers auf drei modifiziert. Auch die Gemeinschaftsräume wurden zugunsten des Schaltzimmers verkleinert.
Eine grössere Anzahl von Menschen verschiedener Nationalitäten und Kulturen in einer Wohneinheit zu platzieren erwies sich als problematisch. Künftig sollen die Projekte kleinteiliger werden, ähnlich wie Wohngemeinschaften für Studierende. Der aus zwei Flügeln bestehende Haupttrakt an der Aargauerstrasse ist aus 70 Raummodulen zusammengesetzt, die in zwölf Wohneinheiten gegliedert sind. Jede Einheit enthält vier bis fünf Schlafzimmer sowie eine Küchen- und Sanitäranlage. Bei einer Zweierbelegung wohnen acht bis zehn Personen darin. Ein zusätzlicher Pavillon bietet 26 Personen Wohnraum. Da die Bauten aus Kostengründen ohne Aushub auf einem Betonplattenfundament stehen, mussten die alten Bäume nicht gefällt werden. Den Bestand zu erhalten ist oft besser und kostengünstiger als etwas neu anzulegen.
Auch die Verbindung mit der Umgebung ist wichtig für die Integration. Die meisten Leute, die in einem Quartier leben, kommen gar nie persönlich mit Flüchtlingen in Kontakt. Dadurch wachsen Vorurteile. Dabei sind die Synergien, die zwischen den Nutzergruppen entstehen, meist positiv – wenn sie auch zurückhaltend erscheinen. Die Durchmischung der Flüchtlinge und der Kreativen weist durchaus Schnittstellen auf. An den Tischen in der «Wirtschaft zum Transit» machen Kinder, wenn es dort keine Gäste hat, ihre Hausaufgaben, oder es finden Malkurse statt. Und auch wenn unter den Gästen kaum Asylsuchende sind, so haben einige hier später eine Anstellung gefunden.
Raumprogramme hinterfragen
Der Bau einer Asylanlage erfordert von den Planern geschickte Verhandlungen mit Auftraggebern, Gemeinden, Kantonen, Investoren und Politikern. Problematisch wird es, wenn sich Auftraggeber nicht auf einen gemeinsamen Planungsprozess einlassen, sondern auf die Umsetzung eines unsinnigen Programms bestehen. In solchen Fällen hinterfragt NRS in situ teils vorgegebene Standorte, Raumprogramme und Anforderungsprofile und arbeitet auf Eigeninitiative Vorschläge aus. Das kann an der Gemeindeversammlung auf Unverständnis stossen.
Das Planungsbüro hat Elemente und Module in Holz, Metall oder Beton umgesetzt. Holz wird immer häufiger verwendet, weil es wohnlicher wirkt als Stahl. Um rentabel zu sein, erfordern temporäre Bauten eine andere Kostenrechnung, indem man eine Nachnutzung mit einkalkuliert. Unabhängig vom Material ist dies aus einem weiteren Grund sinnvoll: Die Erschliessung kann nicht gezügelt werden, und damit entsteht ein Verlust von rund 40 % der Erstellungskosten. Auch das erfordert Überzeugungsarbeit bei den Bauträgern. Baulich müssen die Container gängige Auflagen hinsichtlich Brandschutz und Energie erfüllen. Hinzu kommt, dass von der Projektierung bis zur Fertigstellung oft nicht mehr als zehn Monate bleiben.
Gesellschaftlich relevant
Angesichts der politischen Situation im Nahen Osten, am Hindukusch und in Afrika werden Menschen auch künftig nach Europa und in die Schweiz flüchten. Sie bilden eine heterogene Gruppe, über deren Position in unserer Gesellschaft wir nachdenken müssen. Gerade wenn Menschen aus meist anderen Kulturkreisen für Jahrzehnte bei uns Fuss fassen sollen, kommt ihrer Wohnsituation eine Schlüsselrolle zu.
Architekten sind gefordert, offene Potenziale wie Brachen, Umnutzungen oder Leerbestände in Innenstädten und Dörfern in ihre Planung mit einzubeziehen. Es geht darum, wohnlichen, flexibel nutzbaren und auch kostengünstigen Wohnraum zu schaffen, der über seine Vernetzung mit der Umgebung Integration ermöglicht. Da die Unterkünfte erfahrungsgemäss schnell verfügbar sein müssen, sollten auch unkonventionelle Ideen realisierbar sein. Das setzt voraus, dass sie bei Bedarf jenseits von starrem Regelwerk und Normen entstehen, und dafür muss die Politik demokratische und bauliche Prozesse beschleunigen.
Die Antwort auf die Frage, wie Menschen nach ihrer Flucht bei uns wohnen, weitet sich in Zukunft hoffentlich von der allzu oft üblichen Praxis der «Gated Communities» an der Peripherie auf das Zusammenleben in Wohnquartieren und an öffentlichen Orten aus. Nur so kann der zweiseitige Prozess der Integration ein gesellschaftliches Entwicklungspotenzial entfalten.
Anmerkung
1 Der Standort von der Würzgrabenstrasse bis zur Duttweilerbrücke ist gemäss Altlastenverzeichnis der Stadt Zürich belastet und überwachungsbedürftig.