«Lieber freiwillig als mit Zwang»
20 Jahre Minergie
1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.
TEC21: Wir gratulieren dem Verein Minergie zum 20. Geburtstag. Was wünscht sich der Jubilar?
Andreas Meyer Primavesi: Qualität und Einfachheit. Die letzten Jahre waren für die Bau- und Immobilienbranche ziemlich turbulent und unter anderem von der Energiestrategie 2050, der Digitalisierung und den tiefen Zinsen geprägt. Wir wünschen uns darum nicht etwas für uns selbst, sondern für die ganze Branche: dass man die Kräfte bündelt und sich aufs Wesentliche besinnt.
TEC21: Auch für den Verein Minergie haben die letzten Jahre einige Veränderungen gebracht; 2017 hat man erstmals substanzielle Korrekturen am Gebäudestandard vorgenommen. Was zeichnet diesen heute aus?
Andreas Meyer Primavesi: Ein Minergie-Haus ist etwa ein Viertel besser in der Energie- und CO2-Bilanz als ein konventioneller Neubau. Berücksichtigt man die niedrigen Betriebs- und Nebenkosten, die günstigeren Hypothekarzinsen oder den Mehrwert einer Minergie-Liegenschaft, dann lohnt sich der Aufwand auch wirtschaftlich. Minergie ist nur unwesentlich teurer und aufwendiger zu realisieren als der Mainstream. Denn ein zentrales Anliegen ist, dass wir möglichst viele Bauträger ansprechen können. Darum ist Minergie das erfolgreichste Gebäudelabel auf dem Markt. Man hat bereits vor 20 Jahren ein Gespür für das Machbare entwickelt, sonst hätte es kaum überlebt.
TEC21: Wenn Sie zurückblicken: Wie hat der Verein dies erreicht?
Milton Generelli: Mit Mut zur Innovation: Vor 20 Jahren hat der Standard erstmals eine thermische Bilanz eingefordert; gesetzlich erforderlich war einzig der Qualitätsnachweis für eine gut gedämmte Gebäudehülle. Dennoch war das primäre inhaltliche Anliegen nicht die Energieetikette, sondern die Steigerung des Komforts. Dies hat damals die Akzeptanz erhöht. Energiesparen war nicht populär und wurde eher mit Verzicht in Verbindung gebracht. Darum der Claim «mehr Komfort, mehr Energieeffizienz»: Dieser war den Endkunden einfach zu vermitteln. Doch es ist mehr als nur Marketing. Dahinter steckt ein fachlich fundiertes Konzept, das die Anforderungen zur Nutzerbehaglichkeit und qualitativen Gebäudesubstanz kombiniert.
Andreas Meyer Primavesi: Die sportliche Vorgabe bestand darin, das energetische Niveau von Neubauten um den Faktor zwei bis drei zu unterbieten; der Standard verlangte damals einen jährlichen Heizwärmebedarf von 42 kWh/m2 für neue Wohnbauten anstelle der gesetzlich erlaubten 120 kWh/m2. Erstaunlich ist sicher, dass trotzdem eine solche Breitenwirkung entfaltet werden konnte.
Milton Generelli: Die Messlatte war weder zu tief noch zu hoch. Es hätte strengere Lösungen gegeben, aber die wären nicht derart breitenwirksam gewesen. Es war eben nie die Absicht von Minergie, nur vorbildliche Leuchttürme zu präsentieren, die zwar alles richtig machen, aber keine Verbreitung finden.
TEC21: Welche Rolle spielen die Kantone, die wesentlich zur Gründung des Vereins beigetragen haben?
Andreas Meyer Primavesi: Das enge Zusammenspiel mit den Behörden war sogar sehr wichtig und ist ein zentraler Erfolgsaspekt. Der Standard Minergie wäre ein Nischenprodukt geblieben, hätten sich die Erfinder und die Kantone nicht einigen können. Da waren anfänglich auch Hürden zu überwinden. Richtig vorwärts ging es, als die Kantone und anschliessend auch der Bund den Standard in ihre Energiepolitik integrierten. Dadurch hat sich die Sichtbarkeit wesentlich erhöht. Inzwischen ist Minergie ein Partnerprojekt zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Es geht darum, dass wir freiwillig etwas leisten, was sonst mit Zwang realisiert werden müsste.
TEC21: Die Zertifizierungsregeln sind im letzten Jahr erneuert worden. Nun darf ein Neubau nicht mehr fossil beheizt werden. Ist das ein Versuchsballon für die Kantone, ihre Gesetze künftig darauf auszurichten?
Andreas Meyer Primavesi: Der Verein ist sich bewusst, dass diese Vorgabe aneckt und im Markt umstritten ist. Dennoch glauben wir nicht, dass die Versorgung mit fossiler Energie Bestandteil des zukunftsfähigen Gebäudestandards sein darf. Nicht nur bei Neubauten, auch bei Sanierungen ist dies zu hinterfragen. Was die Absichten der Kantone diesbezüglich betrifft, bin ich nicht die richtige Ansprechperson. Doch was der Verein tut, ist sicher kein Zufall. Unsere Vision tragen die Kantone massgeblich mit, respektive sie haben bereits bei der Formulierung mitgewirkt. Ein Zweck des Standards ist: Wir sollen nachweisen, dass ein innovatives Baukonzept technisch und ökonomisch machbar ist. Der Gesetzgeber kann dann übernehmen, was er seinerseits für machbar und nachfrageorientiert hält.
Milton Generelli: Wichtig ist, dass wir – wie schon vor 20 Jahren – mutige Impulse setzen. Die neuen Vorgaben sind darum eine logische Fortsetzung. Zentral ist, dabei die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, ebenso wie die Verpflichtung, die Eigenversorgung etwa mit Photovoltaik anzustreben. Die Technik, die es dazu braucht, gibt es heute schon.
TEC21: Nicht nur die Wärme, neuerdings wird auch der Stromkonsum bei Minergie mitgezählt. Warum hat man diesen Schritt, die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, nicht mit weniger Vorgaben verknüpft?
Andreas Meyer Primavesi: Hätte man zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäudehülle komplett fallen gelassen und nur noch auf die Gesamtenergiebilanz gesetzt, hätten das sicher einige als grossen Wurf wahrgenommen. Aber daraus wären Konflikte mit den kantonalen Gesetzen und den Baunormen entstanden. Das Bewertungssystem ist jedoch so aufgebaut, dass der Zielwert für die Gesamtenergieeffizienz auf unterschiedliche Weise erreicht werden kann. Die Qualität der Gebäudehülle, der Eigenversorgungsgrad und die gebäudetechnischen Massnahmen können untereinander abgestimmt werden. Den zwingenden Rahmen aber setzen die gesetzlichen Anforderungen an die Gebäudehülle und den Mindestanteil an erneuerbarer Energie. Das ist ein weiterer Mehrwert unseres freiwilligen Gebäudestandards: Ein Bauträger erhält mit der Zertifizierung die Sicherheit, dass er sämtliche Vorgaben für eine Baubewilligung erfüllen kann.
Milton Generelli: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Standard weitgehend auf gültige SIA-Normen abstützt und eine Absicherung bietet, dass diese Grundlagen berücksichtigt werden. Allerdings wird das Bauen immer komplizierter; zusätzliche Qualitätsaspekte kommen dazu. Den generellen Anstieg der Komplexität darf man Minergie aber nicht zum Vorwurf machen.
Andreas Meyer Primavesi: Ein Übermass an Anforderungen wird uns immer wieder vorgeworfen. Oder es wird wiederholt kritisiert, wie wenig Freiheiten das Konzept bietet. Aber wenn wir nicht genau hinschauen, wie gut die realisierte Bauqualität und der Komfort sind, würden uns substanzielle Baumängel vorgehalten. Nur darum müssen wir jetzt zum Beispiel nicht über Schimmel in Minergie-Häusern sprechen; den gibt es nicht. Auch die Abweichungen in der Energieperformance zwischen Planung und Alltag wären weitaus grösser, als sie sind. Die erfassten Differenzen sind nüchtern betrachtet nicht so riesig. Ein Erfolgsprinzip des Gebäudestandards steckt auch in der Planungssicherheit und im Investitionsschutz.
Lesen Sie auch:
«Blühende Fantasie»
TEC21: Vereinfachungen waren also bei der letzten Erneuerungsrunde kein Thema?
Andreas Meyer Primavesi: Selbstverständlich hinterfragen wir selbst einiges. Aktuell ist die Belüftung von sanierten Gebäuden ein internes Diskussionsthema. Auf ein Lüftungssystem verzichten oder die Anforderungen fallen lassen werden wir bestimmt nicht. Die Lüftung ist für uns immer noch das richtige Mittel zum Zweck. Aber wir denken an eine flexiblere Beurteilung und schauen, welche neuen Technologien für Anpassungen oder Vereinfachungen genutzt werden können. Wir nehmen Kritik ernst, aber wir hören lieber auf konstruktive, lösungsorientierte Beiträge als auf laute Vorwürfe.
TEC21: Wie tauscht sich der Verein mit der Fachwelt aus, um Probleme aus der Praxis in Erfahrung zu bringen?
Andreas Meyer Primavesi: Wir sind am Erfahrungsaustausch interessiert und führen in allen Regionen regelmässige Treffen mit Architekten und Fachplanern durch. Aktuelle Themen neben der Lüftung sind der sommerliche Wärmeschutz und das Monitoring des Energieverbrauchs. Wir sind uns bewusst, dass es die Balance zwischen zu detaillierten und zu vagen Anforderungen zu halten gilt.
Milton Generelli: Die Neuerungen für die Zertifizierung sind nicht im stillen Kämmerlein entwickelt worden, sondern waren Teil eines zweijährigen Vernehmlassungs- und Bereinigungsprozesses.
Andreas Meyer Primavesi: Das hilft uns. Nach den ersten zwölf Monaten und den Erfahrungen, die wir mit den neuen Zielen und Kenngrössen sammeln konnten, kann ich sagen: Sie kommen gut an.
TEC21: Aber die Pflicht zur Eigenerzeugung von Strom ist kostenrelevant. Wie viel mehr ist für ein Minergie-Haus zu investieren im Vergleich zum konventionellen Niveau?
Andreas Meyer Primavesi: Früher hat der Verein kommuniziert, dass mit Mehrkosten von rund 5 % zu rechnen sei. Doch diese Analysen treffen heute nicht mehr zu, und aktualisierte Angaben gibt es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Mehraufwand für die Energieerzeugung positiv auf die Lebenszyklus- und Betriebskosten auswirken wird. Zudem wird der Zusatzaufwand für die Technik entschärft, weil die Dämmanforderungen dieselben wie beim Gesetzesstandard sind. Hier ist nicht mehr zu leisten als bei allen anderen auch.
Milton Generelli: Darum setzt der Verein auf den Markt. Bei der Solartechnologie sind heute schon günstige Lösungen verfügbar. Zudem glaube ich, dass ein Minergie-Haus nicht teurer sein muss als ein konventionelles Gebäude, wenn das Gesamtkonzept von Anfang an darauf ausgerichtet ist.
TEC21: Der Standard Minergie hat sich regional unterschiedlich verbreitet. An Orten mit hoher Baudynamik wie im Raum Zürich ist der Standard ausserordentlich gut vertreten. Warum funktioniert das etwa im Tessin weniger gut?
Milton Generelli: Der Kanton hat kein generelles Problem, sondern ist nur zeitlich verzögert unterwegs. Der Gesetzgeber war beim Vollzug der Energieziele etwas im Verzug. Erst vor etwa 15 Jahren wurde die SIA Norm 380/1 für die Baubewilligung verbindlich gemacht. Mittlerweile wird auf Sensibilisierung und Weiterbildung gesetzt. Öffentliche Bauten müssen nach Minergie zertifiziert werden, und das Bauen nach Minergie wird finanziell gefördert. Zudem hat die Einführung des Standards Minergie-A, der die Stromerzeugung ins Zentrum stellt, bei den Zertifizierungen im Tessin einen eigentlichen Aufschwung gebracht.
Andreas Meyer Primavesi: Sich in der ganzen Schweiz und in allen drei Landesteilen aktiv zu bemühen, ist für den Verein Minergie sicher ein Kraftakt. Unsere Ressourcen für das Marketing sind beschränkt. Gleichzeitig können wir von der Vernetzung und den regionalen oder klimatischen Unterschieden fachlich profitieren. So kümmert sich die Agentur im Tessin in Zusammenarbeit mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi) um die angewandte Forschung, wie wir mit dem steigenden Kühlbedarf umzugehen haben. Auch bei den Vorgaben für den sommerlichen Wärmeschutz können wir so voneinander lernen.
Milton Generelli: Effektiv können wir klimatisch bedingte Einflüsse einbringen. So wissen wir, dass Minergie-Häuser im Tessin vergleichsweise weniger gut gedämmt werden müssen, im Gegenzug aber mehr Energie produzieren. Zudem bereitet uns der Sommer mit dem steigenden Kühlbedarf mehr Mühe. Wir müssen kluge Ansätze entwickeln, damit man Wohnhäuser nicht nachträglich mit Kühlaggregaten ausstatten muss.
TEC21: Einem Jubilar wünscht man immer auch ein langes Leben. Wie lang wird es Minergie noch geben?
Milton Generelli: Solange wir Innovationen setzen und die Wirtschaft antreiben können, braucht es uns.
Andreas Meyer Primavesi: Sobald die Energiestrategie 2050 erreicht ist, braucht es uns nicht mehr. Oder wenn jedes Gebäude plus/minus eine Nullbilanz besitzt. Aber die Bauwirtschaft ist träge. Darum wird es den Verein in 20 Jahren sicher noch geben.
Katalysator der kantonalen Energiepolitik
Das Gebäudelabel Minergie fand bei den Kantonen frühe Befürworter. Ohne das Plazet des Bundes wären die Erfolgschancen allerdings gering geblieben. Denn das damalige Bundesamt für Energiewirtschaft begann vor etwa 30 Jahren selbst, über einen zertifizierbaren Standard nachzudenken. 1990 wurden als Support für die damals neue nationale Energiegesetzgebung das Programm «Energie 2000» und das Förderinstrument «Diane Ökobau» lanciert; Letzteres untersuchte das Potenzial für einen erstmaligen Niedrigenergiestandard. Parallel dazu strebte man eine Auszeichnung für eine umfassende nachhaltige Bauweise an, die auch städtebauliche, architektonische und ökonomische Aspekte beinhalten sollte. Auf die Pläne, das Minergie-Label in Umlauf zu bringen, reagierte man beim Bund zuerst reserviert. Aber auch einige Kantone etwa in der Westschweiz gaben sich anfänglich eher zurückhaltend oder kritisierten ein zu restriktives Regelwerk. Die politischen Haupttreiber waren derweil die Kantone Zürich und Bern, die die Marke Minergie den privaten Erfindern abkauften und sie zur Förderung der Energieeffizienz im Gebäudebereich verwenden wollten. Ohne das Engagement der Konferenz der kantonalen Energiefachstellen wäre ein Konsens jedoch nicht gefunden worden.
Im Oktober 1998 beschlossen die Energiedirektoren aller Kantone aber einstimmig, den Verein Minergie zu gründen und das Gebäudelabel gemeinsam zu promoten. Bis heute ist der freiwillige Standard ein wichtiges Element in der kantonalen Energiepolitik. Zum einen werden Gebäudezertifizierungen durch Förderprogramme belohnt; zum anderen werden veränderte Anforderungsregeln von Minergie teilweise automatisch in den Baugesetzen übernommen. Ein vergleichbares, derart enges privat-öffentliches Zusammenspiel fand in der Energiepolitik schon früher statt: In den 1980er-Jahren hatten sich die Normen und Empfehlungen des SIA und die kantonalen Bauvorschriften wechselseitig zu einer Verschärfung der Dämmregeln angetrieben. (Paul Knüsel)