«Der Markt für grünen Stahl wird sich stark entwickeln»
Die Stahlindustrie soll bis 2050 klimaneutral werden. Doch mit welchen Technologien kann man bei der Stahlherstellung CO2 einsparen, und was sind die Voraussetzungen für die Umstellung? Ein Gespräch mit Experten des weltweit grössten Stahlproduzenten.
TEC21: Arne Langner, Alain Witry und Marc May, ArcelorMittal ist der grösste Stahlproduzent der Welt. Der Konzern will seine CO2-Emissionen bis 2030 global um 25 % senken und bis 2050 CO2-neutral sein. Wie werden diese Ziele umgesetzt?
Arne Langner: Unsere Strategie nennt sich «XCarb». Aktuell gibt es zwei Wege, um Stahl herzustellen: erstens über die kohlenstoffintensive Hochofenroute mit Kokskohle als Reduktionsmittel, zweitens über den Elektrolichtbogen-Ofen (Electric Arc Furnace [EAF]). Eine dritte Technologie ist der EAF in Verbindung mit sogenanntem Eisenschwamm (Direct Reduced Iron [DRI]), der mithilfe von Erdgas aus Eisenerz hergestellt und im EAF eingeschmolzen wird. In Zukunft wird dieser dritte Weg entscheidend sein, um grünen Stahl zu erzeugen: Wenn man das Erdgas durch grünen Wasserstoff ersetzen kann und die Energie zum Einschmelzen des Stahlschrotts im EAF aus erneuerbaren Quellen bezieht, gelingt eine signifikante Reduktion der CO2-Emissionen.
Welche Voraussetzungen sind dafür zu erfüllen?
Langner: Wichtig sind die richtigen politischen Rahmenbedingungen. Um den Technologiewechsel vorzunehmen, müssen die Stahlhersteller milliardenschwere Investitionen tätigen. Allein in Deutschland, wo wir an vier Standorten Werke betreiben, beläuft sich der Investitionsbedarf auf mehr als 1.3 Milliarden Euro. Eine solche Summe können wir nicht allein stemmen. Hier ist finanzielle Förderung nötig, auch bezüglich Wettbewerbsfähigkeit mit aussereuropäischen Produzenten, die dem Innovationsdruck nicht in gleichem Masse ausgesetzt sind.
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Das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ist ein massgeblicher Initiator für Innovationen – ohne diesen politischen Druck würde der Weg hin zu grünem Stahl mit geringerem Tempo beschritten. Erwächst für die Politik daraus eine Verantwortung, die europäische Stahlindustrie zu fördern und ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt zu sichern?
Langner: Wir haben in der EU ein Emissionshandelssystem, bei dem eine energieintensive Industrie wie die unsere Zertifikate hinzukaufen muss. Einen Teil davon bekommen wir frei zugeteilt, dennoch kommt es zu einer sogenannten Unterdeckung, einem Mangel an Zertifikaten. Diesem Druck sind Produzenten ausserhalb Europas nicht ausgesetzt, was für uns einen Wettbewerbsnachteil darstellt. Deshalb erkennt die öffentliche Hand die Notwendigkeit finanzieller Förderung. Kommunen, in denen unsere Anlagen stehen, unterstützen uns bei der Finanzierung von Anlagenteilen, ebenso wie die Bundesländer. Die EU hat zudem das Programm «Important Projects of Common European Interest» (IPCEI) aufgesetzt. Seit Mitte letzten Jahres warten wir auf einen Bescheid, ob wir die dort eingereichten Projekte – den Ersatz von Hochöfen in bestehenden Anlagen durch EAF und Direktreduktion ab 2026 – umsetzen können. Die deutsche Bundesregierung und die Regierungen in Frankreich, Spanien, Belgien und Polen haben ihre Unterstützung zugesichert. Es hängt gerade in Brüssel.
Wie sieht es mit Innovationen in der Stahlherstellung aus, die nicht erst in einigen Jahren, sondern schon jetzt einsatzbereit sind?
Langner: Im Rahmen unserer «Smart Carbon»Strategie setzen wir zum Beispiel auf die sogenannte Carbalyst®-Technologie, bei der CO2 abgeschieden und mithilfe von Mikroben in Bioethanol umgewandelt wird, das in der Produktion von chemischen Vorprodukten oder Treibstoff Verwendung findet. Bei einem anderen Projekt wird Altholz verkohlt, um Kokskohle als Reduktionsmittel zu ersetzen. Mit solchen Projekten erreicht man allerdings keine signifikante CO2-Reduktion. Die grössten CO2-Einsparungen wird der Technologiewechsel bringen: Direktreduktionsanlagen mit grünem Wasserstoff und Elektrolichtbogenöfen, die mit grünem Strom betrieben werden.
Weitere Beiträge zum Bauen mit Stahl finden Sie in unserem E-Dossier.
Welchen CO2-Fussabdruck hat grüner Stahl aktuell im Vergleich zu herkömmlichem, grauem Stahl? Wie gross ist zurzeit die Nachfrage nach ersterem?
Langner: Bei der Herstellung von herkömmlich im Hochofen produziertem Stahl fallen rund 1.8 t CO2 pro Tonne Stahl an, bei unserem XCarb-Stahl nur rund 330 kg – fünfeinhalbmal weniger. Damit sind wir bei Langstahlprodukten bereits auf dem Weg zum grünen Stahl. Bei Produkten für den Bausektor gibt es erste Entwicklungen, die wir «grüne Leitmärkte» nennen: Da CO2-armer Stahl in der Herstellung teurer ist, hat er auch einen höheren Preis. Deshalb testen wir derzeit seine Marktgängigkeit mit verschiedenen Produkten, die das Label «XCarb Recycled and Renewably Produced» tragen. Beim Flachstahl verkaufen wir «Green Steel Certificates». Zwar wird der «Green Steel»-zertifizierte Stahl auf herkömmlichem Weg hergestellt, die Kunden kaufen jedoch Zertifikate über CO2-Einsparungen, die unser Konzern europaweit durch Verbesserungen in den Herstellungsprozessen erreicht hat. 2021 wurden hiervon insgesamt 120 000 t verkauft, im laufenden Jahr rechnen wir mit einer Verfünffachung. Wenn man bedenkt, dass wir jährlich zig Millionen Tonnen Stahl verkaufen, ist das noch ein zartes Pflänzchen. Das Interesse für solche Produkte ist aber da, ebenso wie die Bereitschaft, mehr dafür zu bezahlen. Wir könnten zurzeit mehr grünen Stahl verkaufen, als wir herstellen, uns fehlen noch die Produktionsanlagen.
Marc May: Die Nachfrage ist schwer zu beziffern. Viele Bauherrschaften wollen nachhaltig bauen, wissen aber nicht, dass es bereits entsprechende Produkte gibt. Wir rechnen damit, dass sich der Markt für grünen Stahl in den nächsten Jahren stark entwickeln wird – vor allem, sobald entsprechende legislative Rahmenbedingungen da sind. Um die Klimaziele zu erreichen, braucht es sowohl auf europäischer Ebene als auch auf allen nationalen Ebenen einen Rahmen, der klimafreundliches Bauen einfordert. Dann wird die Nachfrage stark ansteigen.
Alain Witry: Beim Langstahl sind wir dem grünen Stahl bereits recht nah. Und obwohl wir mit den grünen Langstahlprodukten erst seit Oktober 2021 im industriellen Massstab auf dem Markt sind, ist das Interesse schon gross. Im Moment sind die europäischen Stahlimporte noch sehr grau. Doch wir beobachten, dass beispielsweise in Skandinavien Lagerbestände an grauem Stahl vermehrt durch grünen Stahl ersetzt werden, um in naher Zukunft auf eine wachsende Nachfrage zu reagieren.
Das Gesagte gilt für den europäischen Markt. Zeichnen sich globale Trends ab?
Langner: Der Trend ist vor allem ein europäischer. Zwar setzt auch in anderen Weltteilen, vor allem in China, eine ähnliche Entwicklung ein, doch herrschen dort andere legislative Rahmenbedingungen. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 hat in anderen Regionen der Welt keine Entsprechung.
Witry: Für uns ist grüner Stahl keine Exportstrategie. Es geht darum, in Europa unsere Hausaufgaben zu machen. Doch aufgrund der hiesigen Technologieführerschaft und der ambitionierten Ziele schauen alle auf Europa: So stellen wir fest, dass auch in China Stahlwerke abgeschaltet werden, deren Emissionswerte nicht mehr tragbar sind.
Sehen Sie mittel- und langfristig auf dem globalen Markt einen Wettbewerbsvorteil darin, kohlenstoffneutralen Stahl herstellen zu können?
Langner: Bei den Bauprodukten sieht die Entwicklung schon gut aus, aber wir haben noch ein Stück Weg vor uns bis zum grünen Stahl. Letztlich testen wir die Marktentwicklung erst aus.
Witry: Auf lange Sicht können wir unsere Technologien sicherlich exportieren. Produzenten aus Drittländern, die Zugang zum europäischen Markt haben wollen, werden bestimmte CO2-Emissionswerte nicht überschreiten dürfen. Dann werden sie auf einen Technologietransfer angewiesen sein.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 23–24/2022 «Konstruktion und Kreisläufe».