Die Ar­chi­tek­tur Ja­pans und der Be­völ­ke­rungs­rück­gang

Nach 150 Jahren des stetigen Wachstums gehen in Japan die Bevölkerungszahlen seit 2008 zurück. Gemäss einer Studie von 2018 stehen bereits 13.6% der Gebäude leer. Eine Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum S AM untersucht die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Architektur.

Publikationsdatum
30-11-2022

Zurückzuführen ist der Rückgang der Bevölkerung einerseits auf die extreme Überalterung und andererseits auf eine harsche Ausländerpolitik, die eine Integration in die Gesellschaft für Zugereiste schwer macht.

Besonders betroffen von der Abwanderung sind die ländlichen Gegenden. Einzelne Parzellen werden komplett aufgegeben. Wenn dort in der Folge auch die Infrastruktur zusammenbricht, ist eine Wiederbelebung mit einem veränderten Ansatz extrem aufwendig. «Eine neue Generation von Architektinnen und Architekten stellt sich bewusst diesem Problem», erzählt Yuma Shinohara, Kurator der Ausstellung im S AM.

Ihr Interesse hat nur noch wenig mit der perfektionistischen und manchmal naiven Architektur ihrer Vorgänger wie Sanaa, Fujimoto oder Ishigami zu tun. Wenn man überhaupt einen Einfluss der früheren Architektengeneration benennen möchte, wäre er am ehesten beim Atelier Bow-Wow zu finden, deren Arbeit eine Verbindung zwischen Gesten des Alltags, Ergonomie und Konstruktionsweisen sucht.

Das Interesse der jungen Architekturschaffenden, deren Arbeiten in der Ausstellung zu sehen sind, wurzelt in sozialen, regionalen und materialgebundenen Fragen. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit lokalen handwerklichen Praktiken, die in Vergessenheit geraten sind. Zentral ist die Neukomposition, Wiederverwendung, Transformation und letztlich Wiederbelebung ganzer Nachbarschaften.

Das prozesshafte Vorgehen ist vielen Projekten gemein: weder Anfang noch Ende sind definiert. Die Planenden bedienen sich – mit einem neuen Bewusstsein – einer traditionellen Methode, mit der viele Gegenden über Jahrzehnte ungeplant gewachsen sind. Mit dem Unterschied, dass es nun nicht mehr um weiteren Wohnraum, sondern um sinnvolle Nutzungen geht. Unter dieser Prämisse haben Dot Architects ein Kunst- und Kommunikationszentrum in der Peripherie von Osaka renoviert. Mithilfe örtlicher selbsternannter Schreiner haben sie das Gebäude einem fortlaufenden Transformationsprozess unterzogen, der einer komplexen Bastelarbeit gleicht.

Mio Tsuneyama (zurzeit Gastprofessor an der EPFL) und Fuminori Nousaku überprüfen ihre Forschungen an ihrem eigenen Lebensentwurf. Sie haben ein vergleichsweise langweiliges Haus gekauft, das normalerweise abgerissen und ersetzt worden wäre, und sind direkt eingezogen. Indem sie den Bestand nutzen und gleichzeitig radikal infrage stellen, leben und arbeiten sie in einer Dauerbaustelle, die sie ständig dokumentieren und hinterfragen. Unter dem Begriff einer «urbanen wilden Ökologie« adaptieren sie seit fünf Jahren die Architektur nach ihren Vorstellungen, erlauben aber auch Einflüsse der Architektur auf ihre Ideale.

Wie Leo Tanishige in einem Essay im Ausstellungskatalog darstellt, verkörpern diese Architekten den «Gradualismus«. So benennt er ein Vorgehen, das auf eine individuelle, schrittweise Verbesserung der sozialen Umstände zielt und unter dem er die Bewegung der jungen Architekturszene in Japan zusammenfasst: Anstatt Neues zuzufügen, nutzen und stärken sie bestehende Strukturen und die manchmal unsichtbare Vernetzung, die die Architektur und die soziale Gemeinschaft zusammenhält, in der sie sich selbst befinden.

Yutaro Muraji hat eine Plattform (CHAr) ins Leben gerufen, auf der er Ideen und Gebrauchsanleitungen versammelt, mit denen die «Mukuchin», eine weit verbreitete und äusserst einfache gebaute Art von Apartments in Holzbauweise, im Eigenbau verbessert werden können.

In der Ausstellung zeichnen die Modelle und Fotos von 15 Projekten das Bild einer heterogen zusammengeflickten Umgebung, entstanden aus einer Wertschätzung gegenüber dem Vorhandenen. Aus der Ferne betrachtet neigt man dazu, diesen Pragmatismus im Umgang mit einer zunehmend verlassenen baulichen Umgebung romantisch zu verklären. Dabei ist er eher als eine bezahlbare und mögliche Reaktion aus der Not heraus einzuordnen.

Während sich in Europa eine ganze Reihe von Regionen entvölkert, prognostiziert das Schweizer Bundesamt für Statistik nach wie vor ein Bevölkerungswachstum für die kommenden 30 Jahre, mit einer Spitze von 10 Millionen zwischen 2040 und 2050. Falls sich die Zukunft wider Erwarten auch hierzulande anders entwickeln sollte, können wir uns von dieser Ausstellung inspirieren lassen. Noch mehr als die Projekte sind es die gedanklichen Ansätze, die zum Nachdenken über eine Neudefinition der Planerberufe anregen. Dabei steht neben dem Wert der Transformation, der Pflege und des Unterhalts von Bestand vor allem der der Bewohnerinnen und Bewohner im Mittelpunkt.

«Make Do With Now: Neue Wege in der japanischen Architektur» ist bis zum 12. März 2023 im S AM Schweizerisches Architekturmuseum in Basel zu sehen.

 

Infos unter: www.sam-basel.org

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