Ein Mini-Haus für das Über­le­ben im Fluss­delta

Khudi Bari, Kleines Haus, heisst die von Marina Tabassum, Architektin in Dhaka, entworfene mobile Konstruktion aus Bambus. Seit Juni erweitert das Mini-Haus die Architektur auf dem Vitra Campus und lenkt den Blick nach Südasien. Den Khudi-Bari-Aufbau vor Ort in Bangladesch dokumentiert ein Video in der Vitra Design Museum Gallery.       

Date de publication
25-07-2024

Was kann eine landestypische, sozial verantwortliche Architektur dazu beitragen, widrige Lebensbedingungen zu verbessern? Diese Frage stellte sich die Architektin Marina Tabassum, als Pandemie und Lockdown ihrem Team in Dhaka genügend Zeit liessen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Das Ergebnis: Eine Leichtbau-Struktur im Baukastensystem, die den Menschen in prekären Lebensverhältnissen ein stabiles, schützendes Obdach ermöglicht. Bereits zum Einsatz kam das vielseitig nutzbare, erweiterbare Bambushaus in den Rohingya-Flüchtlingslagern.

Doch von besonderem Nutzen erweist sich ein zweigeschossiges Khudi Bari für am Wasser lebende Menschen. So entstanden in der Flussregion der Meghna erste Kleine Häuser. Die Meghna ist der grösste der drei Flüsse, die das Ganges-Delta durchströmen und die Landschaft stetig verändern. Monsunregen und mäandernde Wasserströme bedeuten für die dort lebenden Menschen Segen und Fluch. 

Einerseits schwemmt das Hochwasser Erde und Sedimente an. Durch Ablagerungen bilden sich grossflächige Sandbänke. Es entsteht eine Insel, Char genannt, mit Böden, die den landlosen Bevölkerungsgruppen ein Existenzminimum sichern. Andererseits kann die fortschreitende Erosion der Uferzonen den Landgewinn unbewohnbar machen, gar wegschwemmen.

Das mobile Mini-Haus erweist sich auf den abgeschiedenen Inseln als schützende Unterkunft für selbstgenügsam lebende Gemeinschaften ohne Landrechte.  Steigt das Wasser, finden die Bewohner des Khudi Bari für sich und ihre Habseligkeiten Zuflucht im Obergeschoss. Droht jedoch der Untergang der Insel, kann das Häuschen demontiert und auf einem anderen Char neu errichtet werden.

Eigenbau fördert Identifikation

Die ersten Mini-Häuser wurden gemeinschaftlich unter Anleitung des Teams von Marina Tabassum erstellt. Montiert werden die Bauteile von Hand. Anstatt vorgefertigte Unterkünfte zu liefern und von fremder Hand zu errichten, gibt das Basismodell – Kosten inklusive Transport 500 US-Dollar – einen Anstoss zu kollektiver Selbsthilfe. Nach der Fertigstellung verstärkt ein Zertifikat das Erfolgserlebnis der Besitzer eines neuen Kleinen Hauses.

Über den Ansatz des Hausbau-Konzepts hinaus und flankiert von Workshops, soll das Khudi-Bari-Projekt, wie Marina Tabassum erläutert, den Grundstein für ein sich entwickelndes, «selbst tragendes Öko-System» legen. Ob die in Gang gesetzten Lernprozesse tatsächlich die sich durch Klimawandel weiter erschwerenden Lebensverhältnisse zum Positiven verändern könnten, bleibt eine offene Frage.       

Bambus und Stahl

Die Geometrie des Dreiecks bildet die Grundform der Leichtbau-Struktur aus Bambus. Kostengünstig und dauerhaft, hell, glatt und schön – der landestypische Naturbaustoff vereinigt Notwendigkeit mit Ästhetik. Verbunden werden die rund 2.60 m langen Bambusstützen durch vorgefertigte Stahlknoten, die die Grundstruktur festigen.

Ein in das Erdreich der Flussinseln eingebrachtes Fundament dient als Basis, auf die eine erhöhte Bodenplatte aufgebracht wird. Zwei Öffnungen im Obergeschoss lassen Luft in den als Schlafraum genutzten Raum. Je nach Bedarf schliessen die Bewohnerinnen und Bewohner die Struktur aus den tragenden Bambusstützen mit leichten Aussenwänden. Das Giebeldach wird mit Blechplatten gedeckt. Das Baukastenprinzip macht ein Mini-Haus erweiterbar. Module können zu einer grösseren Einheit aneinandergesteckt werden, wie ein in der Vitra Museum Design Gallery ausgestelltes Modell verdeutlicht. 

Von Südasien nach Südbaden

Der Kontrast zwischen dem sozialen und landschaftlichen Umfeld der in der Meghna-Flussregion erstellten Khudi-Bari-Häuschen und dem Vorzeigebau auf dem Vitra Campus könnte nicht grösser sein.

Auf dem Campus steht das Khudi Bari unter dem Schattendach lauschiger Espenbäume. Die Konstruktion ruht auf einem abgestuften, rund 12 m2 grossen Ziegelsteinboden, in den die Stahlknoten verankert wurden. Gefertigt und errichtet wurde das Kleine Haus von der Firma Holzbau-Blum im südbadischen Maulburg. Das Mini-Haus für den Campus ist sozusagen ein singuläres Werkstück aus südasiatischem Baumaterial, wobei die Bearbeitung der Bauteile aus Bambus für die Holzbaufachleute eine Herausforderung darstellte.   

Die Zukunft im Blick

Im Khudi-Bari-Vorzeigebau verleihen Sitzschalen-Klassiker aus Stahldraht, Eames Wire Chairs, dem Kleinen Haus einen Hauch Design-Flair. Hinter dem Häuschen laden ein Tisch und Sitzbänke aus Bambus zum Verweilen ein. Ein wenig fühlt es sich an, als stünde hier ein Weekend-Refugium offen zur Besichtigung, und nicht ein Zuhause für landlose Menschen in den Wasserlandschaften des Globalen Südens.         

Das gebaute Existenzminimum, das auf Initiative von Rolf Fehlbaum auf dem Campus errichtet wurde, signalisiert, dass Vitra die weltweit drängende Frage aufnimmt, wie ein dem Klimawandel und der Topografie angepasstes nachhaltiges Bauen aussehen könnte. Wo stehen wir in dieser Frage heute? Welche innovativen Wohnbauideen, die künftig Schutz vor Hochwasser und steigenden Wasserspiegeln gewähren, braucht es hier und jetzt?   

Weitere Infos

«Khudi Bari, 2024. A Structure by Marina Tabassum», Projekt-Dokumentation und Video «Construction of the first three modules on Char Hija, Chadpur, Bangladesh» in der Vitra Design Museum Gallery, bis auf weiteres.   

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