Architektur der Unendlichkeit
Gewisse Räume besitzen eine Energie, die die beschreibbare Sinneswahrnehmung übersteigt. In seinem neuen Dokumentarfilm geht Christoph Schaub dem Gefühl von Transzendenz nach und erforscht die emotionale Wirkung von Räumen.
SIA: Herr Schaub – Peter Zumthor, Cristina Iglesias, Jojo Mayer, Alvaro Siza Vieira, Peter Märkli und James Turrell: All diese Persönlichkeiten haben eine tragende Rolle in Ihrem Film. Wie sind Sie an sie gekommen? Haben Sie sie einfach angerufen?
Christoph Schaub: Nicht ganz. Mit Peter Zumthor habe ich schon einmal einen Film gemacht. Auch mit Peter Märkli bin ich bekannt – ich habe ihn 1992 kennengelernt. Die anderen habe ich nicht persönlich gekannt. Daher ist es nicht gerade ein Telefon gewesen, aber ein Mail. Darin habe ich das Projekt vorgestellt. Dann habe ich sie besucht, mit ihnen gesprochen und sie überzeugt, mitzumachen.
SIA: Im Eröffnungssatz sagen Sie, dass Sie schlecht in der Schule waren und dass Ihr Vater schwer krank war. Erzählt der Off-Sprecher Ihre persönliche Geschichte?
Christoph Schaub: Ja, es beginnt mit einer persönlichen Erinnerung. Ich war schlecht in der Schule, mein Vater war schwer krank und ist dann gestorben. Ich war natürlich schlecht, weil mich das belastet hat. Als das überstanden war, wurde ich wieder gut in der Schule.
SIA: Sie erzählen, dass erst später in Ihrem Leben Kirchen angefangen haben Sie anzuziehen, weil Sie gehofft haben, darin etwas zu finden, was nur in diesen Räumen zu finden ist. Ist diese Anziehung einer der Gründe, weshalb Sie diesen Film gedreht haben?
Christoph Schaub: Ja, das hat mich interessiert. Für mich war das immer etwas sehr Emotionales. Kirchen sind für viele wie Schaufenster, die einen anziehen, und man will hineinschauen. Das stand am Anfang. Ich wollte herausfinden: Was ist eigentlich mit diesen Räumen? Sie wirken ja sehr emotional. Von aussen sind Kirchen meist nicht so emotional: Sie wollen dir eher etwas sagen – manchmal auch etwas Unangenehmes. Wenn man aber hineingeht, kann man eine emotionale Überwältigung, eine Entrückung empfinden. Es hat mich schon immer interessiert, wieso das so ist. Mir ist klar geworden, dass es auch mit der Frage zu tun hat, was nach dem Tod kommt. Die Kirche will ja etwas vom Jenseits erzählen. Von der Unendlichkeit. Es ist ein ähnliches Gefühl, wie wenn man in den Himmel hinaufschaut. Der Kosmos, das Universum, das hat ja auch etwas beunruhigend Beruhigendes.
SIA: Ich nehme an, das Kunstwerk oder Gebäude, das Sie im Film zeigen, ist zuerst da gewesen. Und dann haben Sie versucht, die Person hinter dem Bauwerk/Kunstwerk ausfindig zu machen und zu gewinnen?
Christoph Schaub: Ich hatte eine Vorstellung, um was es im Film gehen sollte: um den Versuch, die Architektur nicht nur konstruktiv, sondern auch emotional zu verstehen. Am Anfang wollte ich einen Film über sakrale Architektur machen. Aber dann merkte ich, ich will die Fragestellung ausweiten. Sakrale Architektur gibt sich ja den Auftrag, Emotionen herzustellen. Es gibt aber auch sakrale Architektur, die bezüglich Funktion und Benutzung profan ist. So habe ich in Bezug auf mein inhaltliches Interesse die Persönlichkeiten und die Bauwerke ausgewählt. Die Auswahl wuchs also über die Entwicklungsarbeit zusammen. Für mich war auch klar, dass die sechs Filmprotagonisten Lust haben sollten, einen inspirierenden Abend mit gutem Essen zusammen zu verbringen. Und ich habe immer gewusst, dass ich mit Zumthors Aussage anfangen will, dass Architektur einen Teil aus dem Unendlichen ausschneidet.
SIA: Wie inszeniert man Raum in einem Film, damit er für den Zuschauer lebendig wird?
Christoph Schaub: Das ist natürlich die Schwierigkeit, und da beisst man sich schon manchmal die Zähne dran aus. Ich glaube nicht, dass man den Raum einfach realistisch abbilden kann, sondern man muss einen emotionalen Zugang finden, den Raum emotional erzählen. Das ist in diesem Sinn nicht mehr realistisch. Es beginnt ja schon damit, dass der Film zweidimensional und das Erlebnis dreidimensional ist. Daher muss man Ersatz schaffen. Dafür gibt es viel: Licht, Ton, Musik. Aber auch, wie man einen Raum in der Montage zusammensetzt. Mir war es ein Anliegen, dass die Räume als emotionales Erlebnis im Film erlebbar sind.
SIA: Ich finde, Sie zeigen eine ausgewogene Mischung zwischen sehr Altem, Traditionellem und Modernem. Haben Sie das geplant?
Christoph Schaub: Am Anfang stand für mich der sakrale Bau im konventionellen oder historischen Sinn: die romanischen, gotischen und barocken Kirchen. Dort ist unsere Sozialisation. Dann wächst man aus dem heraus, verlässt vielleicht auch die Religion. Mich hat dann angefangen zu interessieren, dass profane Gebäude auch diese Wirkung haben können wie religiöse. Oder dass auch ein Kunstwerk wie der Skyspace im Engadin eine solche Wirkung hat. Das hat mich wirklich interessiert, dass man die transzendierende Wirkung nicht nur in den religiösen Bauten findet, sondern auch in der Kunst und in profanen, säkularen Bauten. Das ist der Kern des Films. Aber das eine geht nicht ohne das andere.
SIA: Wenn man in die Vergangenheit schaut, war ja mehr oder weniger einer der ersten (Lebens-)Akte die Taufe in der Kirche.
Christoph Schaub: Ja, auch wenn man nicht so wahnsinnig religiös erzogen wurde. Unser ganzer Bezug liegt dort. Wir sagen ja auch, wenn wir in einer Bahnhofshalle sind: Es ist wie in einer Kirche. Dagegen sagen wir nicht, wenn wir in die Kirche gehen: Es ist wie in einer Bahnhofshalle.
SIA: Die Paraglider, brechende Wellen und Sternenbilder im Film symbolisieren für mich die Unendlichkeit des Raums. Wofür stehen die spielenden Kinder, die Sie zeigen?
Christoph Schaub: Mit den Kindern beginnt der Film, weil Kinder in einem gewissen Sinn elementar sind. Die Kinder buddeln Löcher, und Kinder bauen oft mit Leintüchern Hütten oder so. Ich spreche natürlich auch von mir. Das ist so eine Anfangsenergie, auch für Architektur. Etwas bauen. Etwas Endliches im Unendlichen schaffen. Im Film geht es ja auch um die Endlichkeit und den Tod. Was kommt danach? Was ist vor dem Anfang? Was ist nach dem Ende? Kinder sind frei von diesen Fragen. Kinder sind in der Lage, einen anderen Bezug zur Welt zu schaffen: eine Art Reise, einen Rückzug nach innen zu machen. Die Kinderszenen sind für mich im Film auch wie eine Traumebene, die dem «Rationalen» gegenüber steht. Zudem sind die Kinder für mich ein schöner Kontrast zu den in die Jahre gekommenen Protagonisten.
SIA: Eine meiner Lieblingsszenen ist die mit Alvaro Siza. Jeden Morgen übermalt er die Warnhinweise auf seinem Zigarettenpäckli mit einer Zeichnung. Für mich ist es seine Rebellion gegen die Endlichkeit. Und für Sie?
Christoph Schaub: Darum ist es auch drin. Ich habe die Zeichnung auf der Zigarettenschachtel gesehen und ihn spontan danach gefragt. Und dann hat er mir genau das Richtige dazu gesagt. Sie haben Recht, das ist – mit einem Augenzwinkern – seine Rebellion. Er will der Endlichkeit ein Schnippchen schlagen.
SIA: Wie müsste die Kirche aussehen, die Sie bauen würden?
Christoph Schaub: Ich bin ja kein Architekt. Ich kann nur sagen, im Skyspace in Zuoz habe ich mir gedacht, so müsste eine Kirche sein – vom räumlichen Empfinden her. Von dem her, was dort drinnen mit einem passiert. Der Skyspace hat die Form eines Zylinders und ist daher nicht zentralperspektivisch wie viele Kirchen. In der Decke hat es eine runde Aussparung, durch die man in den Himmel schauen kann. Zudem hat Turrell im Innenraum eine raffinierte Lichtshow eingebaut, die in einem das Gefühl des Schwebens auslöst.
SIA: Der Fokus der früheren Kirchen war auch anders: zentral, nach vorn gerichtet.
Christoph Schaub: Das war natürlich die Autorität der Kirchen …
SIA: Genau. Die hat man auch zementiert. Im wahrsten Sinn des Worts.
Christoph Schaub: Das finde ich schon wichtig. Eine Kirche hat auch immer mit Institution zu tun, mit Autorität. Sie kann einen als Menschen in diesem Sinn nicht befreien, sondern sie richtet. Und die Kunst gibt sich den Auftrag, den Menschen zu befreien, freie Räume zu schaffen – im Innern des Menschen. Darum finde ich den Skyspace von Turrell so genial. Weil er einen schützt und einem gleichzeitig Freiraum gibt. Er ist eben nicht zentralperspektivisch. Es ist ein Kunstprojekt, man fühlt sich frei. Ich habe dort diese Spannung stark erlebt. Es gibt auf der einen Seite einen Schutz, Grenzen – und auf der anderen Seite Freiheit. Die Spannung zwischen den beiden Polen ist extrem wichtig fürs Leben. Um die Frage zu beantworten: Ich würde versuchen, in diese Richtung zu gehen – in Richtung eines Raums, der gleichzeitig Schutz und Freiheit gibt.
SIA: Ich schätze, Ihr aktueller Film wird kommerziell weniger erfolgreich sein als Ihr Paradebeispiel «Giulias Verschwinden». Was hat Sie dennoch bewegt, einen solchen Film zu drehen?
Christoph Schaub: Ich finde, ein Film ist erfolgreich, wenn er sein Zuschauerpotenzial ausschöpft. Erfolg ist also kein absoluter Wert und bei jedem Film sehr unterschiedlich. «Giulias Verschwinden» hatte ein grosses Potenzial und konnte es gut ausschöpfen – vielleicht noch mehr, als viele erwartet haben. Es gibt immer Einschätzungen, wie viele Zuschauer ein Film anspricht.
SIA: Und da lagen Sie drüber?
Christoph Schaub: Weit drüber. Ein Film über Architektur hat ein viel kleineres Publikum. Das ist klar. Aber wenn wir wirklich die interessierten Leuten finden und die sich den Film ansehen, eine Meinung haben und darüber sprechen, dann ist das super, und wir sind erfolgreich. «Bird’s Nest – Herzog & de Meuron in China» hatte in der Schweiz 18 000 Zuschauer und ist gut verkauft worden. Das ist ein sehr gutes Resultat. Wir haben sein Potenzial gut ausgeschöpft. Ich bin zuversichtlich, dass das beim aktuellen Film «Architektur der Unendlichkeit» auch so sein kann.
SIA: Vielen Dank für das Gespräch.
Architektur der Unendlichkeit
Am 31. Januar 2019 ist der offizielle Kinostart in der Deutschschweiz. Zusammen mit dem Verleih cineworx hat der SIA eine Vor-Vorpremiere am 27. Januar 2019 im Zürcher Kino Riffraff als Matinée geplant. Anschliessend an den Film findet ein Panel statt mit:
- Christoph Schaub, Regisseur;
- Stefan Cadosch, Präsident SIA;
- Franziska Driessen-Reding, Präsidentin Synodalrat der Katholischen Kirche im Kanton Zürich;
- Peter Märkli, Filmprotagonist und Architekt;
- Moderation noch offen.
Weitere Informationen über sonja.helfer [at] sia.ch (sonja[dot]helfer[at]sia[dot]ch)