«Wir ge­hen den Spu­ren der Ge­schich­te nach – wie De­tek­ti­ve»

Die Bündner Architektin Tilla Theus prägte zahlreiche Hotelbauten der Schweiz wie das Luxushotel Widder in Zürich und zuletzt das Drei-Häuser-Hotel Caspar in Muri. Ein Gespräch über Architektur, Bauherrschaften und die Bedeutung von Echtheit und Authentizität.

Publikationsdatum
09-09-2022

TEC21: Frau Theus, Sie bauen leidenschaftlich gern historische Gebäude um. Was hat Sie besonders fasziniert am Auftrag für das Hotel Caspar in Muri?

Tilla Theus: Für mich war es eine spannende Aufgabe, nach vielen Umbauten in Zürich einmal nicht in einer städtischen Umgebung zu bauen. Muri als Klosterort ist ein Zwitter zwischen Stadt und Land. Das kulturelle Angebot ist in der kleinen Aar­gauer Gemeinde sehr hoch, das Dorf ist eng verknüpft mit dem bald tausendjährigen Benediktinerkloster. Für die private Bauherrschaft, vier alteingesessene Murianer, war der Bau des Hotels Caspar eine Herzensangelegenheit. Sie wollten Muri etwas zurück­geben. Das ergab für mich als Architektin eine ganz andere Herangehensweise an das Projekt.

Inwiefern?

Ich verstehe die Bauherrschaft als Sparringspartner. Während des ganzen Bauprozesses lege ich grossen Wert auf einen Dialog auf Augenhöhe. Bauherrschaft und Architekt müssen sich Vertrauen schenken. Wir erziehen uns gegenseitig, aber ich bin mit den Jahren auch nachgiebiger geworden. Mir ist Partnerschaft in der Zusammenarbeit wichtig.

Sie kämpfen aber auch um Ihre Ideen.

Natürlich. Gerade von meiner Idee, die Wandbemalung im Gastraum des Adler mit einem Punktraster zu überfassen, war die Bauherrschaft zunächst gar nicht begeistert. Wir beziehen uns auf den Maler Caspar Wolf: Die Bauherrschaft hatte eine Mappe mit alten Stichen des Künstlers gekauft. Im Kloster gibt es ein kleines Caspar-Wolf-­Museum. Wir wollten aber nicht die Bilder einfach eins zu eins übertragen. So kamen wir auf die Idee, sie von 35cm auf 250cm hochzuskalieren und auf Leinen zu malen. Das fand Anklang bei der Bauherrschaft. Was für sie fremd war: mein Vorschlag, einen Punktraster über die Malerei zu legen, um diese mit dem Heute zu verknüpfen. Erst das grossformatige Punktemuster macht die Malerei modern und zeitgemäss. Die Bauherrschaft kam für die Schlussbesprechung extra aus den Skiferien. Und gemeinsam erkannten wir nach Diskussionen, dass die Verfremdung durch den Punkte­raster zwingend sei.

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Auch die Denkmalpflege ist für Sie eine wichtige Partnerin. Im Adler mussten Sie eine Pause einlegen, weil bei den Abbrucharbeiten Malereien zum Vorschein kamen. Was bedeutete das?

Wenn es nach dem Schutzstatus gegangen wäre, hätte die kantonale Denkmalpflege wenig zu tun gehabt bei unserem Projekt. Eigentlich stehen nur das Wirtshausschild am Ochsen und ein Bildstock beim Adler unter kantonalem Denkmalschutz. Dann kamen aber bei den Arbeiten an der Decke und den Wänden im ersten Obergeschoss des Adler Malereien zum Vorschein. Mein Projektleiter Holger Widmann stoppte den Bau sofort, und wir informierten die Denkmalpflege. Zusammen mit den Restaurierungsexperten von Fontana&Fontana haben wir zunächst die Bedeutung des Funds eingeordnet. Die Denkmalpflege befand, die Malereien aus der Bauzeit des Adlers, also um 1692, seien ein grossartiger Fund für diese Gegend der Schweiz. Es wurde entschieden, die Malereien zu sichern und die fehlenden Fragmente nicht zu ergänzen.

Wie sind Sie da vorgegangen?

Die Räume mit den historischen Malereien haben wir neu als Suite komponiert. Dort haben wir die Fragmente der historischen Deckenmalerei nicht ergänzt. Es waren repetitive Motive, die Handwerker damals hatten die Decke hell gestrichen und die Motive darübergemalt. Das heute genauso zu machen kam für mich nicht infrage. Stattdessen haben wir den hellen Anstrich nicht vollständig aufgetragen und die Motive als «Fehlstellen» ausgespart, d.  h. also das Alte nur angedeutet.

Was ist bei Ihrer Spezialisierung auf die Verbindung zwischen Alt und Neu die grösste Herausforderung?

Es gibt ganz verschiedene Arten, mit Alt und Neu umzugehen – zum einen Altes mit Neuem historisierend zu ergänzen, zum anderen Alt und Neu in Gegensatz zu stellen und dann noch Alt und Neu so zu verweben bzw. zu verschleifen, dass etwas anderes entsteht und weder das Alte noch das Neue ablesbar bleibt.

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Wie gehen Sie da heran?

Man versucht zunächst den Geist des Baus zu erfassen. Wir gehen den Spuren der Geschichte nach – wie Detektive. So offenbart uns der Bau seine Geheimnisse und welche Veränderungen für ihn möglich sind. Nach dieser Recherche studieren wir die Bedürfnisse der künftigen Nutzer und über­tragen diese in die Zukunft. Im Hotel Caspar gibt es eine ganze Palette, wie man mit Alt und Neu umgehen kann.

Wie im Gastraum des Ochsen

Der Gastraum mit den zwei Stuben ist vielfach umgebaut worden. Dort trafen die 1940er- auf die 1980er-Jahre, aus jeder Zeit haben wir Teile übernommen, so z.B. die Rasterdecke aus den 1980er-­Jahren in den Raum mit den furnierten Spanplatten aus den 1940er-Jahren integriert, während in der anderen Stube neu gestaltete Wandpaneele nach altem Muster eingefügt worden sind. Wir haben zufällig ein Tapetenstück unter vielen Schichten entdeckt, das uns als Vorlage für die bronzefarbene Schablonenmalerei in den Wandfüllungen in der rechten Stube diente. Auf der linken Seite, die aus den 1940er-Jahren stammt, haben wir dieses Motiv 25-fach vergrössert und damit die Spanplatten überfasst, um so die verschiedenen Flick- und Fehlstellen zu vertuschen.

Hochskalieren und Verfremden ist eine Stilübung, die Sie gern verwenden, Trompe-l’Œils eine andere. Findet man diese auch im Hotel Caspar?

Im Wintergarten haben wir beispielsweise in die Wand Fensternischen eingelassen und die Fensterflügel aufgemalt, um den Raum optisch zu öffnen. Nun warten wir auf eine künstlerische Ergänzung. Ein anderes Beispiel finden wir bei den Tischen in den Zimmern des Adler: Für die Tischbeine entwarfen wir gedrechselte Holzbeine mit einem marmor­artigen Anstrich, um so die Ablageflächen aus Marmor mit den Beinen als Einheit wirken zu lassen. Allerdings mit einem kleinen Augenzwinkern!

Was steckt hinter dieser Idee?

Ich liebe es, in meinem Zimmer einen langen Tisch für meine Dinge zu haben. Solche überlangen Tischplatten wirken leer im Hotel schnell mal etwas langweilig.

Sie lieben verspielte Ideen – auch für ganz Elemen­tares wie die Statik. Im Adler stellte die Statik ein Problem dar. Wie kamen Sie auf die Idee der Abstützung des ersten Obergeschosses im darunter liegenden Gastraum mit den markanten Adlerschwingen als Stützenkapitellen?

Der Adler war sehr massiv umgebaut worden. Hier fanden sich bis zu drei übereinander geschich­tete Tragstrukturen. Aus den statischen Unklarheiten heraus waren wir gezwungen, alles auszuräumen. Mit dem Fund der Deckenmalereien mussten wir umplanen. Unterzüge mit Stützen waren die Lösung. Durch frühere Arbeiten mit Faserbeton kannte ich dessen Möglichkeiten. Da wir stets versuchen, aus dem Bestand heraus zu arbeiten, und dazu gehört auch der Name, erreichten wir so, dem Innenraum über die statische Notwendigkeit eine Unverwechselbarkeit zu schenken. Die Kapitelle sind wie Adlerschwingen geformt und leiten die Kraft vom Unterzug in die Stützen – wie bei einem Adler, der seine Schwingen ausbreitet.

Der Ochsen und der Adler sind Umbauten. Wie ergänzt der Neubau Wolf das Ensemble?

Der Wolf sollte als enger Verwandter des Ochsen erkennbar sein. Der Neubau zeigt einen horizontalen Besenstrich im Sockel, eine Reminiszenz des Quadersockels des Ochsen. Die Fensteranzahl im Wolf nimmt das Vorbild des Ochsen auf, und die beiden Giebel sind besonders ausgezeichnet. Um den Neubau nicht historisierend wirken zu lassen, haben wir einzelne Elemente des benachbarten Altbaus zeitgemäss umgesetzt. So orientieren sich die Lage der Öffnungen in der Fassade und für die Formate der Fenster am Ochsen, da weder Rollläden noch Fensterläden passend schienen, inspirierten mich  die Laibungsläden des Tessins.

Diese sind im Tessin aber meistens innen angebracht.

Ja, wir haben die Laibungen nach aussen verlegt. Das macht die Fassade lebendig. Zusätzlich wurde der Fassadenachse ein Knick verliehen und der Giebel leicht nach vorn geneigt. So wirkt das Haus plötzlich jung und frisch. Und die Geschichte dazu lautet: Der Wolf (das Tier) neigt sein Haupt dem Gast entgegen und streckt seine Pfoten aus zum herzlichen Willkommen.

Das Herzstück des Hotelensembles ist der Saal mit seiner gefalteten Holzdecke. Wie kamen Sie auf diese Idee, und wie wurde sie umgesetzt?

Der Saal, der sich zwischen Ochsen und Wolf aufspannt, ist im Grundriss relativ breit zu seiner Länge. Er hat also eine ungünstige Proportion. Wir haben ein doppelgiebliges Dach konstruiert, das dem Raum Zug gibt. Hinter dem Doppelgiebel wird die Haustechnik versteckt geführt. Die gefaltete Decke im Saal haben wir gemeinsam mit einem Schreiner entwickelt. Die Bauherrschaft wünschte sich einen Saal, der akustisch für musikalische Darbietungen wie auch für Unterhaltungen bei Tisch funktionieren sollte. Das leistet nun die hölzerne Struktur aus CNC-gesägten Holzstäben, die vom Schreiner akribisch zu einem Positiv-Negativ-Muster zusammengefügt wurden. Fast ohne Abfall, schliess­lich war es wertvolles Eichenholz. Das versetzte Muster bringt auch optisch Ruhe in den Saal. Ich habe dabei auch immer den Alltag eines Restaurants im Hinterkopf – daher sind die Holzstäbe bis auf Tischhöhe ohne Versatz. Hat einer einen Hick, wird er einfach ersetzt.

Wen haben Sie sich beim Entwerfen als Zielgruppe Ihres Hotels Caspar vorgestellt?

Unsere Gäste erwarten wir aus der Gemeinde selbst, aus der näheren und weiteren Umgebung. Aber auch von weit her in Bezug auf das grosse kulturelle Angebot mit dem Kloster in unserer Nachbarschaft.

Sind die drei Häuser jeweils für andere Gäste gemacht? Was unterscheidet den Gast im Adler von dem im Ochsen oder Wolf?

Unsere Häuser sind für verschiedene Anlässe gedacht, aber auch für die verschiedenen Stimmungen und Vorlieben unserer Gäste. So zum Beispiel der Ochsen für den Hochzeitstag, der Adler für den Familienausflug und der Saal für den grossen Geburtstag.

Wie reiht sich das Hotel Caspar in Ihr Portfolio an Hotelbauten, was unterscheidet es vom Luxus­hotel Widder? Gibt es eine Gemeinsamkeit bei Ihren ­Hotelbauten?

Gemeinsam ist allen Hotelprojekten zum einen unsere Leidenschaft, in den Gebäuden spannende Erlebnisse zu ermöglichen, zum anderen eine aus dem Ort und den Bestand präzise herausent­wickelte Architektur, die sich mit dem Ganzen verknüpft. Echtheit und Authentizität sind die Pfeiler meiner Arbeit. Schon im Widder in Zürich haben wir beispielsweise Nussbaumtäfer und kein Furnier verwendet. Das war damals in den 1980er-Jahren ungewöhnlich. Ich hatte der Bauherrschaft versprochen, dass die verwendeten hochwertigen Materialien für ein Make-over nicht auszutauschen, sondern lediglich aufzufrischen sind. Das war damals revolutionär. Ich konnte mein Versprechen einhalten, denn 20 Jahre später haben wir die Wandvertäfelungen leicht abgeschliffen und neu geölt, das Parkett neuversiegelt, in den Bädern die Granitplatten geschliffen und aufpoliert.

Das Luxushotel Widder, umgebaut zwischen 1988 und 1995, wird als eines der ersten Designhotels bezeichnet. Was machte es damals so anders?

Es galt, in ein kleinzelliges und denkmal­pflegerisch sensibles Quartier ein Luxushotel zu integrieren – architektonisch profiliert, städtebaulich harmonisch und betriebsökonomisch sinnvoll. Der Abbruch der acht mittelalterlichen Stadthäuser war ausser Frage. Ich konzentrierte mich also darauf, das Hotel in die bestehenden Strukturen einzufügen, jeder Baukörper behielt seine Kleinräumigkeit, die ihn prägte. Das Hotel Widder setzt in der Luxus­kategorie eine bahnbrechend ganzheitliche Hotel­philosophie um. Diese Trendwende – in der Praxis als Erfolg bestätigt – basiert auf dem sinnlichen Erlebnis der Echtheit. Denn damals war ein Hotel der Luxuskategorie eigentlich eine Art Museum – Plüsch, Brokat, Stuck und Samt, dazu unechtes Mobiliar. Hoteliers wollten es für ihre Gäste damals antik und kuschelig. Das war gar nicht mein Ding.

Sondern?

Wir wollten, dass die Gäste spüren, sie sind in einem Luxushotel, aber auch gleichzeitig zu Gast in einem städtischen Bürgerhaus. Wir setzten in den 51 Zimmern der acht Häuser auf echte Materialien, bis ins Detail. Ich fand es handwerklich stossend, dass früher die Suiten alle paar Jahre neu ausgerüstet wurden. Und ich bewies, dass das nicht nötig ist. So konnten wir beispielsweise die hochwertigen Vorhänge mit ihren ebenso wertvollen Futterstoffen einfach umdrehen, Das Futter wurde zum Vorhang und der Vorhang zum Futter. Diese architektonische und innenarchitektonische Authentizität war für ein Luxushotel umwälzend neu.

Neu war auch die Möblierung.

Was heute Standard ist, nämlich Designmöbel in den Zimmern und öffentlichen Bereichen einzusetzen, war damals unüblich. Ich musste sogar persönlich zu den Herstellern wie Cassina fahren und ihnen mein Konzept erläutern, damit ich den Le-Corbusier-Sessel nicht in Schwarz, sondern in Rot bekam.

Gerade der Widder gehört zu Zürich, er ist nicht exportierbar. Hotels, die sich rund um den Globus gleichen, sind Ihre Sache nicht?

Nein, ich finde, man spürt im Widder die Seele der Häuser. Das ist, was ich erreichen möchte. Man kann dies nicht einfach übertragen – obwohl ich bereits mehrmals die Anfrage hatte, den Widder nochmals zu bauen, beispielsweise in Aspen. Ein unmögliches Unterfangen.

Was für ein Gast sind Sie eigentlich selbst?

Ein offener, neugieriger Gast. Allerdings gestehe ich, dass ich gleich zu Beginn mein Zimmer oft etwas umstelle, damit die Möblierung meinen Lebensgewohnheiten besser entspricht. Das führt manchmal zur Diskussion mit dem Personal, dem ich dann erläutere, aus welchem Grund ich was gemacht habe. Und manchmal gibt das dann den Anstoss, dies auch in Zukunft so zu belassen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 28/2022 «Das Drei-Häuser-Hotel».

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