211 Sitzgelegenheiten
Thierry Barbier-Mueller besitzt mehr als 650 Stühle. 211 davon sind nun im mudac, dem neuen Museum für zeitgenössisches Design und angewandte Kunst, in Lausanne zu sehen. Unkonventionell und überraschend.
Thierry Barbier-Mueller stammt aus einer Familie von Kunstsammlern aus Genf und hat sich offenbar von deren Sammlerleidenschaft anstecken lassen. Indes entsprechen die wenigsten der gezeigten Stücke der herkömmlichen Form von Stühlen – üblicherweise vier Beine, eine Sitzfläche und Rück- und je nachdem auch Seitenlehnen. Nein, sie drehen und winden sich, haben die Form eines Stilettos, reihen sich als fünffache Stuhlbank hintereinander oder sind aus einem Einkaufswagen gebaut. Diese Vielfalt der Erscheinung von Stühlen ist es, die Thierry Barbier- Mueller fasziniert.
Bislang ist die Sammlung im Stillen geblieben, zugänglich für einen kleinen Kreis enger Freunde, Künstlerinnen, Forscher und Museumskuratorinnen. In Lausanne wird erstmals ein Teil davon gezeigt, im Rahmen einer Choreographie von Robert Wilson, dem amerikanischen Künstler und Regisseur. In seiner Inszenierung « A chair and you» lässt sich die Ausstellung im mudac wie eine Oper mit mehreren Bühnenbildern erleben. Auch Chantal Prod’Hom, Direktorin des mudac und Kuratorin der Ausstellung, spricht von einem Schauspiel. Der Produzent in der Person des Sammlers stellt den Korpus zur Verfügung, der Theatermacher trifft eine Auswahl und positioniert die Stühle wie Schauspieler vor unterschiedlichen Kulissen und in szenischen Atmosphären, in denen Ton und Licht die Dramaturgie der Erzählung verstärken.
Rund zwei Drittel dieser Stühle sind Einzelstücke oder stammen aus Kleinserien. Der Wegfall der Zwänge für Serienproduktion macht sich bemerkbar in den freien und unbeschwerten Formen der einzelnen Stücke und der Nutzwert als Sitzmöbel macht der frei erdachten skulpturalen Form Platz. Und weil es für das Publikum leicht frustrierend sein könnte, derart viele Sitzgelegenheiten vor sich zu haben, ohne sich hinsetzen zu dürfen, steht im ersten grossen Raum eine weisse Bank mit der mehrsprachigen Aufforderung, sich doch hier zu setzen. Wer es tut, erlebt eine Überraschung: Die Bank beginnt unbändig zu kichern, als ob sie gekitzelt würde.
Von Hell zu Dunkel
Im ersten, dem grossen und hell erleuchteten, blendend weissen Raum finden sich zehn frei geformte Inseln mit eingestreuten hellgrau gefärbten Holzspänen auf dem Boden verteilt. In sie gestellt und über den ganzen Raum wild und frei verteilt und aufgehängt sind Stühle und Sessel. Sie wirken wie ein Wald von Stühlen und mit ihrer wie zufällig zusammengestellten Vielfarbigkeit erinnern sie gemäss den Worten von Bob Wilson an ein Bild von Jackson Pollock.
Hinten führt ein schmaler, langer Korridor mit roten Tupfen an den Wänden und am Boden zum mittleren Raum, dem eine ganz andere Komposition zugrunde liegt. Geometrisch streng gestaltete Boxen unterteilen ihn nach dem Vorbild des deutschen Pavillons von Mies van der Rohe in Barcelona. Dort dominieren in diffusem Licht überwiegend die architektonisch geformten Sitzmöbel, ordentlich aufgereiht hinter vorgespannten transluziden Textilbahnen.
An der hintersten Wand lädt eine einem Cheminée ähnelnde Öffnung mit hell leuchtender Umrandung dazu ein, sich zu bücken, um in den nächsten Raum zu gelangen, eine Art Dunkelkammer in der die Stühle, wechselweise mit Spots sichtbar gemacht, quasi Starstatus erhalten. Von diesem geheimnisvoll wirkenden Dunkel führt eine Öffnung zu einem winzigen Raum dessen eine Seite durch runde Öffnungen den Blick auf eine wild glänzende Szenerie von metallisch glänzenden Sitzobjekten in dem verspiegelten Kabinett erlaubt, ein stark begrenzter und fokussierter Blick wie in einem Kaleidoskop.
Die Frage, wer was entworfen hat, bleibt im Hintergrund. Ob ein Stuhl von Luigi Colani, von Ron Arad, Shiro Kuramata, Alessandro Mendini, Bruno Munari, Stefan Zwicky, Tom Dixon oder Nathalie du Pasquier stammt, wird zur Nebensache. Was zählt, ist das Gesamtbild, das Konvolut und wer mehr wissen möchte, greift zur handlichen Broschüre, die aufliegt und gratis erhältlich ist. Wer es genau wissen will, kauft das Buch «The Spirit of Chairs».
Licht und Sound
Bob Wilson betont, dass er für die Ausstellung als erstes über das Licht nachgedacht habe, aber auch über den Sound, der die einzelnen Räume prägen soll. Repetitive Soundfetzen von Musikern und Komponisten wie Paul Reeves, Rodrigo Gava, Arvo Pärt und Lou Reed erzeugen denn auch Stimmungen, die die Bildeindrücke verstärken. Jeder einzelne Raum, der auf dieser Fläche von 1500 m2 angeordnet ist, strahlt seine eigene Atmosphäre aus, passend zu den gezeigten Objekten. Diese sind nicht nach Kriterien, wie etwa Holz, Metall, Kunststoff oder Textilien geordnet. Das liegt weder in der Absicht der Sammlung selbst noch in der Inszenierung von Bob Wilson. Die Stühle der Sammlung zeichnen sich durch die Freiheit der Gestaltung aus und genau so frei und locker sind sie innerhalb der jeweiligen Choreografie gezeigt.
Dem mudac ist mit dieser Ausstellung ein Wurf gelungen. Entsprechend lebendig ist das Publikumsinteresse. Das Museum hat den Sprung vom früheren Standort am Fuss der Kathedrale zum neuen Museumsviertel «Plateforme 10» auf dem Gelände der ehemaligen SBB-Werkhallen neben dem Hauptbahnhof unbeschadet geschafft.
Die Ausstellung «A Chair and you» im mudac läuft bis Samstag, 26. Februar 2023.
Öffnungszeiten: Mo, Mi und Fr bis So 10–18 Uhr; Do 10–20 Uhr
Gratiseintritt jeden ersten Samstag im Monat