Alternativen zum Standard gesucht
Lüftungssysteme im Wohnungsbau
Gute Luft wollen alle. Doch uneinig ist man sich, wie und mit welchem Aufwand der systematische Austausch organisiert werden soll. Die Stadt Bern stellt nun zwei Lüftungsvarianten auf die Praxisprobe.
Die Luft darf es sich einfach machen: Sie flüchtet dorthin, wo es am wärmsten ist. Die Anziehungskraft der Wärme besteht aber nicht aus ihrer Behaglichkeit, sondern liegt darin, dass sie die physikalische Dichte geringer macht. Auch der Ausbreitungspfad ist vordefiniert; die Luft wählt immer den Weg des geringsten Widerstands. Will man der Strömung jedoch eine bestimmte Richtung geben oder sie anderweitig konditionieren, wird es schnell kompliziert.
Die Kontrolle des Luftwechsels ist allerdings ein Qualitätsmerkmal für hohe Energieeffizienz im Wohnungsbau. Ein regelmässiger Austausch, eine optimale Zirkulation in der Wohnung und ein Recycling der Wärme in der ausströmenden Abluft sind zentrale Anforderungselemente für das umsetzbare Lüftungskonzept. Weder die Thermodynamik noch der Nutzer sollen dem Ziel, so viel Wärme wie möglich in einem Baukörper zu halten, in die Quere kommen.
Überflüssig oder bauphysikalisches Muss?
Kontrollierte Wohnungslüftungsanlagen sind längst Marktstandard, dennoch werden sie in Bauherren- und Architekturkreisen und sogar unter Fachplanern häufig als notwendiges Übel wahrgenommen. Den einen ist der technische Installationsaufwand zu gross, andere kritisieren das bevormundende Funktionsprinzip. Doch so hartnäckig sich die Skepsis hält, so erfinderisch gehen Lüftungsspezialisten mittlerweile ans Werk. Immer häufiger werden vereinfachte Varianten eingebaut, weil man die Dynamik der Luft endlich besser versteht.
Eine zentrale Erkenntnis ist dabei nicht mehr ganz jung, und gleichwohl beherzigen sie erst wenige: Die Luft strömt meistens von allein durch die Wohnung. Selbst grosse und verwinkelte Räume lassen sich fast ohne aktives Zutun ausreichend durchlüften. Die Wirksamkeit einer selbstständigen «Kaskadenlüftung» wurde wiederholt wissenschaftlich erforscht.1 Die Quintessenz dabei ist: Der technische Belüftungsaufwand lässt sich reduzieren. Antriebe oder Rohre an der Decke für die interne Verteilung braucht es ebenso wenig wie jeweils eine Frischluftzufuhr für jeden einzelnen Raum. Ein Lüftungseinlass pro Wohnung genügt, damit die Raumluft nicht übermässig mit CO2 belastet wird.
Dasselbe thermisch angeregte Kaskadenprinzip wird auch im Bürobau, mit der sogenannten «Raumlunge», genutzt: Ein mehrgeschossiges Atrium erlaubt der Luft eine weitgehend natürliche interne Zirkulation. Der Aufwand zur mechanischen Kontrolle wird dadurch deutlich reduziert.
Verzicht auf Mechanik möglich
Zurück zum Wohnungsbau: Das Spektrum der Lüftungsvarianten reicht vom automatisch gesteuerten All-in-one-Zirkulationssystem bis zum Handgriff am Fensterflügel. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich unterschiedliche, mechanische Lüftungsanlagen individuell aus Einzelkomponenten für die Zu- und Abflüsse und die interne Luftverteilung zusammenstellen. Derzeit sehr beliebt scheinen erweiterte Abluftanlagen, weil auf Mechanik und viel Platz verzichtet werden kann.
In der neuen Siedlung Stöckacker Süd am Ostrand von Bern werden nun unterschiedliche Lüftungskonzepte auf die Vergleichsprobe im Wohnalltag gestellt. Die Immobilienabteilung der Stadt Bern konnte letzten Herbst die Mieter von 146 Wohnungen in der «2000-Watt-Siedlung» begrüssen (vgl. «Aufwertung mit 2000 Watt», Kasten unten). Zwei Gebäudezeilen sind mit einer kontrollierten Wohnungslüftungsanlage ausgestattet; der dritte Komplex verfügt über eine abgespeckte Anlage mit «Zuluftautomat». Die Erfahrungen aus dem Wohnalltag und dem Energiemonitoring will man für weitere öffentliche Neu- und Umbauprojekte nutzen.
Kaskadenartige Luftverteilung für alle
Die klassische, kontrollierte Lüftungsvariante ist in die Häuser «B» und «C» eingebaut; diese liegen am nächsten zur Eisenbahnlinie und sind daher besonders lärmexponiert. Die Baukörper sind schmale Zweispänner und fast ausschliesslich als Durchschusswohnungen organisiert. Der viergeschossige Gebäudekomplex «C» am Ostrand gleicht einer Reihenhauszeile; die 5-½- bis 6-½-Zimmer-Wohnungen belegen jeweils zwei Geschosse.
Für die mechanische Belüftung ist das einerlei: Sämtliche Wohneinheiten werden zentral mit Frischluft versorgt. Die Steigschächte führen an den gefangenen Nasszellen vorbei; von dort wird die frische Luft unter der abgehängten Decke in die Wohnung geleitet. Die Zirkulation erfolgt danach frei und erreicht kaskadenartig die übrigen Räume; zusätzlich werden periphere Schlafzimmer mit einem in der Betondecke eingelegten Kanal belüftet. Die belastete Luft strömt über die Badezimmer via Steigschacht nach aussen ab. Mit einem Wärmetauscher zwischen Ab- und Zuluft können etwa 80 % der Energie zurückgewonnen werden, mit dem zusätzlichen Komforteffekt, dass die Frischluft vorgewärmt in die Wohnung einströmt. Der kontrollierte Luftaustausch variiert zwischen 24 und 30 m3/h. Letzterer bildet die maximale Strömungsrate, wie sie im Wohnungsbau sonst üblich ist.
Ein «Zuluftautomat» reicht aus
Das Lüftungssystem im südlichen, lang gezogenen Siedlungskomplex «A» besitzt demgegenüber nur eine aktive Komponente, auf die man sowieso nicht verzichten kann. Die Wohnungsabluft wird über die übliche Ventilationsanlage in der Nasszelle abgeführt. Zeitgleich strömt die Zuluft jeweils über eigene Fassadendurchlässe in ein Schlaf- und/oder Nebenzimmer ein. Dieser «Zuluftautomat» ist mit Ventil, Schalldämpfer und Filter ausgestattet, sodass die Nachströmung bei Bedarf kontrolliert erfolgt. Die Luft tauscht sich ebenfalls kaskadenartig in der gesamten Wohnung aus.
Ein wesentlicher Unterschied zum konventionellen System ist: Die Luft zirkuliert stossweise, sobald die Nasszellenabluft in Betrieb genommen wird. Ein Schlitz unten an der Badezimmertür synchronisiert den Luftaustausch, wobei die Abflussrate mit 60 m3/h wesentlich höher ist als beim kontrollierten System. Eine Zeitschaltuhr sorgt für den regelmässigen Lüftungsrhythmus. Alternativ lässt sich der Abluftbetrieb über einen CO2-Sensor steuern. Entsprechende Vorgaben sind unter anderem bei Gebäudezertifizierungen zu erfüllen.
Abluftsysteme vereinfachen zwar den Installationsaufwand, sind aber im Wohnalltag durchaus störungsanfällig. Das Hauptproblem: Sie erzeugen in den Wohnräumen einen chronischen Unterdruck. Der Luftwechsel kann daher unkontrollierbare Ab- oder Zuluftströme auslösen. Ein offenes Fenster oder der Dampfabzug in der Küche genügt, um eine unerwünschte Konkurrenzsituation zu verursachen. Auch im Stöckacker macht der Luftwechsel ab und zu nicht, was von ihm erwartet wird. Weil die Ventilatoren in der Dampfhaube einen stärkeren Sog als die Nasszellenabluft erzeugen, strömt Wohnungsluft in die Küche anstatt ins Bad. Weder für die Fachplaner noch für die städtische Liegenschaftsverwaltung war dies eine Überraschung: Beim Bezug der Wohnungen wurde der Mieterschaft deshalb empfohlen, jeweils beim Kochen ein Küchenfenster zu kippen, damit die Aussenluft direkt nachströmen kann.
Neuland für Planer und Bauherrschaften
Ungeachtet des Optimierungsbedarfs im Betrieb scheint das Nachströmsystem Freunde zu finden. Im Stöckacker geht die Bestellung auf die Bauherrschaft zurück. Das beteiligte Planungsbüro hat nun selbst ein ähnliches Konzept für eine 2000-Watt-taugliche Neubausiedlung mitten in Bern vorgeschlagen. Nicht zuletzt überzeugt der reduzierte Installations- und Investitionsaufwand: «Rund ein Drittel kann gegenüber einer kontrollierten Anlage eingespart werden», sagt Marc Wüthrich, Geschäftsleiter von Gruner Roschi.
Gemäss Architekt Michael Meier darf der konstruktive und planerische Aufwand trotzdem nicht unterschätzt werden. Zum einen «beanspruchen Steigschächte immer viel Fläche, unabhängig davon, ob die Zuluft zentral erschlossen ist». Zum anderen betrat die Planergemeinschaft auch Neuland; die Planung der «2000-Watt-Siedlung Stöckacker Süd» beinhaltete eine Ökobilanzierung der technischen Installationen und der konstruktiven Bauteile. Die horizontale Luftverteilung wurde mithilfe eines Variantenstudiums bestimmt. Zur Auswahl standen unterschiedliche Deckenkonstruktionen aus Beton oder Holz. Am besten bezüglich der grauen Energie schnitt überraschenderweise der massive Vorschlag ab: eine Ortbetondecke mit reduzierter Mächtigkeit und minimiertem Bewehrungsanteil. Anstelle der sonst üblichen 24 cm genügen 18 respektive 20 cm dünne Schichten. Obwohl man auch hier eine technische Vereinfachung realisiert hat, haben es sich die Bauherrschaft und das Planungsteam in der Konzeptphase alles andere als einfach gemacht.
Anmerkung
1 Luftbewegungen in frei durchströmten Wohnräumen; AWEL Kanton Zürich 2014.
Aufwertung mit 2000 Watt
In Ausserholligen endet die Berner Gemütlichkeit. Die mittelalterliche Szenerie der Zähringerstadt ist 15 Tramminuten entfernt; weiter westlich folgt die Betonvorstadt Bümpliz. Zwar beherbergt das Quartier selbst jüngere und ältere Schönheiten wie die gleichnamige Gartenstadt oder den neu gestalteten Europaplatz. Ansonsten dominiert jedoch ein für ehemalige Arbeiter- und Gewerbestandorte typisches akzentfreies Geflecht. Der Stadtraum ist Entwicklungsgebiet mit urbanem und sozialem Aufwertungsbedarf. Anfang Jahrtausend wurde ein Ersatz für die öffentliche Wohnsiedlung Stöckacker ins Auge gefasst. Die ursprüngliche Überbauung stammte von 1946 und umfasste die bekannten Dreigeschosser mit Giebeldach.
Das städtische Ersatzprojekt wollte mehr Wohnraum schaffen und zum «Musterbeispiel für modernen und ökologischen Städtebau»1 werden. 2008 gewann die Planergemeinschaft Michael Meier und Marius Hug Architekten und Armon Semadeni Architekten, Zürich, den Architekturwettbewerb. Seit letztem Herbst ist die Siedlung mit 154 Wohneinheiten unterschiedlichster Grösse und Zimmerangebote belebt.
Der Städtebau ist ein wichtiges Anliegen des realisierten Projekts: Obwohl sich die Gebäude um eine Hofsituation formieren, ist die Erscheinung vorn und hinten gleichberechtigt und hochwertig gestaltet. Die vier- bis fünfgeschossigen, schmalen Baukörper sind mit umlaufenden Balkonschichten garniert. Die Einzelbauten sind in hybrider Bauweise mit massiver Skelettstruktur, und Aussenwänden aus Holzrahmenelementen und mineralischen Vorhangfassaden konstruiert.
Vor zehn Jahren war noch nicht endgültig geklärt, wie 2000-Watt-gerechtes Bauen geht. «Stöckacker Süd» war einer von schweizweit zehn Prototypen, um die Pilotversion des SIA Effizienzpfads Energie zu erproben. Es galt, hohe Anforderungen an den konstruktiven Wärmeschutz mit einem niedrigen Bedarf an grauer Energie zu verbinden.
Der geplante Energiekennwert aller drei unterschiedlich belüfteter Einzelgebäude beträgt 22 kWh/m², die Hälfte eines konventionellen Neubaus. Energiedaten aus dem Betrieb liegen noch keine vor; das Messprogramm soll aber im kommenden Jahr ausgewertet werden. (Paul Knüsel)
Anmerkung
- Wohnen im Westen; die städtische Siedlung Stöckacker Süd, Stadt Bern 2018
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Immobilien Stadt Bern
Architektur
Meier Hug Architekten, Zürich; Armon Semadeni Architekten, Zürich
Gebäudetechnik
Gruner Roschi, Köniz BE
Tragwerk
Edy Toscano, Rivera TI
Holzbauingenieur
Holzbaubüro Reusser, Winterthur
Landschaftsarchitektur
Müller Illien Landschaftsarchitekten, Zürich