Ein Garten in luftiger Höhe
Auf dem Dach eines Bürogebäudes mitten im Zürcher Hürlimann-Areal wachsen Bäume, Stauden, Blumen und Früchte. Wo früher nur etwas Kies und Moos das Flachdach bedeckten, lädt heute ein üppiger Garten dazu ein, die Natur das ganze Jahr über zu erkunden und zu entdecken.
Ein kleiner Vogel macht sich an Himbeeren zu schaffen, Wasser plätschert, ein leichter Wind raschelt in den Blättern der Bäume. Die Birnenblüten locken die Bienen an, deren Summen die Frühlingsstimmung untermalen. Ein junger Mann füttert die Hühner, zwei Frauen im Anzug besprechen etwas beim Kaffee, daneben ein Typ in einem digitalen Meeting mit Stöpseln in den Ohren und dem Laptop auf den Knien. Sie merken, wir sind nicht in einem Retreat auf dem Lande, trotz Naturkitsch und Bienensummen. Wir befinden uns mitten im Hürlimann-Areal, auf der Dachterrasse eines Zürcher Unternehmens.
Das quadratische Bürogebäude mit Innenhof verfügt über vier Geschosse, die seit 2003 alle von derselben Firma gemietet werden. Bereits 2015 kam die Idee auf, das Dach als Aussenraum zu nutzen. Damals war der Grossteil des Daches unbegehbare bemooste Fläche. Nur beim bereits bestehenden Dachaufbau mit Einzelbüros gab es einen kleinflächigen Holzrost und einen Stehtisch, an dem die Nikotinsüchtigen der oberen Stockwerke ihre Pausen verbrachten. Dem Büro mit über 200 Mitarbeitenden fehlte ein gemeinsamer Aussenraum, ein Ort für Gäste und informelles Zusammenkommen, für erholsame Pausen. Wieso nicht die 2500 m² auf dem Dach nutzen, die bislang brachlagen?
Die Bauherrschaft fragte die Architektin Nadja Zürcher, die bereits einige Umbauten in den unteren Geschossen umgesetzt hatte, ob sie sich das Dach einmal anschauen könne. Die Zusammenarbeit war etabliert und die Bauherrschaft wusste, dass sich Zürcher seit einiger Zeit vertieft mit Biodiversität und Permakultur auseinandersetzte. Sie erstellte eine erste Ideenskizze, klärte die Statik ab und stellte für die weitere Konkretisierung ein Team zusammen: für Mitplanung und Ausführung Michael Tschigg vom Architekturbüro Vera Gloor, Raffael Känzig von Phoster als Umweltplaner und die Gartenbauer Diebold & Zgraggen. Die Bauherrschaft blieb eng involviert, von der Unterhaltsplanung bis zur konkreten Pflanzenauswahl.
Statik bestimmt die Bepflanzung
Schon am Anfang stand der Wunsch, nicht nur einen schönen Ort für die Mitarbeitenden zu gestalten, sondern auch eine artenreiche Oase für Pflanzen und Insekten zu schaffen. Ausgangspunkt für eine vielfältige Natur ist der Boden, der bei einem Dach überhaupt erst geschaffen werden muss. Entscheidend war die Statik des Gebäudes: Sie gab den Bodenaufbau vor und der Bodenaufbau wiederum bestimmte die Dachbepflanzung. Die Dicke des Bodensubstrats variiert von 20 cm auf den Wegen und rund um den Innenhof bis zu 80 cm direkt über den vier Hauptstützen des Gebäudes. Über diesen vier Stützen stehen vier grössere Bäume, die eine kleine gepflasterte Piazza säumen.
Vielseitige Nutzungen
Verschiedene Zonen bieten unterschiedliche Angebote auf dem grosszügigen Dach: für Rückzug, für Austausch, für Pause, für Events. Eine Loggia schliesst an den bereits bestehenden Dachaufbau mit Büros an und vermittelt zwischen innen und aussen. In Materialisierung und Formensprache schliesst die Lounge an die Büronutzung an, lenkt aber gleichzeitig mit grossen Schiebegläsern und runden Dachflächenfenstern den Blick in Richtung Natur. Ein grosser Tisch und Loungemöbel laden zur Pause oder kurzen Besprechung ein, die Cateringküche funktioniert fürs Aufwärmen des Mittagessens ebenso gut wie für grosse Kundenevents.
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Im Aussenbereich führen lose verlegte, quadratische Steinplatten zur Piazza und zeichnen einen Rundgang über die ganze Terrasse. Hier geht es sich mühelos auch im Business-Outfit mit Stöckelschuhen – durchaus eine Anforderung im Alltag des Unternehmens. Die Randbereiche und Sitzplätze sind mit Kies belegt, der nahtlos in die Bepflanzung übergeht. In zwei zusätzlichen Aufbauten sind Treppenhäuser beziehungsweise Liftschacht, Lüftungen, Stauraum, Duschen, Gästetoiletten und Gastroinfrastruktur untergebracht.
Die Aufbauten sind mit Rankgerüsten versehen, sie verschwinden von Jahr zu Jahr mehr hinter dem Grün japanischer Himbeeren, Klettergurken, Mini-Kiwis, gelben Winterjasmins, Datteltrauben und Wildreben. Die Aufbauten gliedern die Dachfläche, schaffen Rückzugsorte für Menschen, Insekten und Vögel sowie unterschiedliche Mikroklimazonen für die Pflanzen: Windschatten für die einen, volle Sonne für andere. Hierfür waren die Expertise und Erfahrung der Gartenbauer entscheidend, die bei der Planung und Auswahl der Bepflanzung mit am Tisch sassen.
Dachangepasste Pflanzenauswahl
Die Auswahl und Kombination der Pflanzen war in mehrfacher Hinsicht eine herausfordernde Aufgabe, denn die Wachstums- und Lebensbedingungen auf einem Dach sind anspruchsvoller als an anderen Orten. Mehr Wind, der zieht und stösst, weniger Boden, der Halt gibt und Wasser speichern kann. So bilden beispielsweise die vier grossen Amberbäume um die Piazza mit ihren langen, dünnen Ästen keine Kronen, was wichtig ist in dieser Höhe, da der Wind beachtliche Stärke entwickeln kann und möglichst ohne Widerstand an den Bepflanzungen vorbeirauschen sollte.
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Die Bauherrschaft definierte die einheimische Pflanzenvielfalt als wichtiges Leitmotiv. Das Planerteam übersetzte dies in konkrete Gestaltungsideen: Die Bepflanzung sollte durch alle Jahreszeiten hindurch lebendig und attraktiv sein, geschützte und offene Orte bieten, Immergrün und wechselnde Farben zeigen. Zudem musste die Wurzeltiefe zur vorhandenen Substrathöhe passen und es durften nur Pflanzen ausgewählt werden, die den Richtlinien von Jardin Suisse entsprechen, also insbesondere die Dichtigkeit der Dachhaut nicht gefährden.
Essbare Pflanzenvielfalt
Nadja Zürcher legte den Fokus zudem auf essbare Pflanzen und Fruchtbäume: «Über das Essen sind wir alle mit der Natur verbunden und finden einen leichten Zugang. Viele Menschen erkennen einen Apfelbaum ja noch nicht an der Blüte, sondern erst, wenn der Apfel dranhängt.» Die Vielfalt ist sorgfältig komponiert und keinesfalls dem Zufall überlassen, wie das etwa in einem Naturschutzgebiet der Fall wäre. Dicht beieinander stehen niederstämmige Obstbäume, Säulenobst, Heilpflanzen, Wildsträucher, Stauden und Blumenwiesen. Darunter sind viele alte, einheimische Sorten von Pro Specie Rara wie beispielsweise Berner Rosen, Zwergkirsche Cinderella, Kurpfalzmispel, Grosse Grüne Reineclaude und weitere. Für diese Vielfalt an alten Sorten zeichnete Pro Specie Rara den Dachgarten mit dem speziellen Gütesiegel für die Kategorie «Obst» aus.
Bei manchen Pflanzen musste auch ein Kompromiss zwischen den vielen Anforderungen gefunden werden: So sind die Himbeeren, die sich an den Gerüsten der Aufbauten hochranken, keine Schweizer Art. Die hier gewählte Japanische Weinbeere, auch «Rotborstige Himbeere» genannt, macht flachere Wurzeln und krallt sich nicht wie unsere heimischen Sorten in den Dachaufbau. Einige weitere Pflanzen, die nicht einheimisch sind oder zu aggressiv wurzeln, wurden in Töpfen dazugestellt: Zitronen, Oliven, Feigen, Oleander und Rosen schaffen im Sommer ein geradezu mediterranes Ambiente.
Tierische Dachbewohner
Die Artenvielfalt auf dem Bürodach geht über die Pflanzen hinaus: Nisthilfen und Asthaufen schaffen Lebensräume für Insekten und Kleintiere. In einer Ecke des Dachgartens leben Appenzeller Spitzhaubenhühner, daneben befindet sich ein Gehege mit verwaisten Schildkröten. Mehrere Bienenvölker sorgen für die Bestäubung der vielen Pflanzen, die Stadtzürcher Imkerei Wabe 3 pflegt die Bienen und erntet den Honig für die Firma.
Pflege und Unterhalt mussten nicht nur bei den Bienen in einem überschaubaren Rahmen gehalten werden. Der Hausdienst kümmert sich um Alltägliches, während die Gärtnerei etwa einmal im Monat zur Kontrolle vorbeikommt und schaut, ob alles gut gedeiht. Gejätet im engeren Sinne wird nicht, aber die Keimlinge von Flugsamen wie Löwenzahn oder Disteln, die nicht aufs Dach gehören, müssen entfernt werden, da sie schnell überhandnehmen oder das Dach beschädigen könnten. Die Obstbäume werden ein- bis zweimal im Jahr geschnitten, der Abschnitt ergänzt die Asthaufen. Um die Hühner kümmern sich die Lehrlinge des Unternehmens, sie misten aus und sammeln die Eier ein.
Regenwassermanagement
Eine präzise Bewässerung ist ein zentrales Thema für jeden intensiv begrünten Dachaufbau. Nicht nur wegen der Pflanzen, sondern auch weil der Wassergehalt in der Erde über das Gewicht entscheidet und die Statik entsprechend darauf ausgerichtet sein muss. Deshalb besteht die unterste Schicht des Bodenaufbaus aus Blähton. Das Dach hielt ursprünglich gar kein Wasser, sondern wurde mittels Unterdrucksystem entwässert. Nun sorgt eine Anstaufläche mit Drainageschicht dafür, dass sich die Pflanzen Feuchtigkeit holen können. Bei starkem Regen kann das Wasser weiterhin überfliessen. Ein Tropfloch-Bewässerungssystem in der untersten Schicht des Bodenaufbaus sorgt zusätzlich dafür, dass die grösseren Pflanzen und Bäume – die auf einem Dach die Wurzeln nicht einfach tiefer strecken können, um ihren Durst zu stillen – auch in heissen Sommermonaten gut gedeihen.
Gesunder Boden, gesunder Garten
«Nach drei Sommern lässt sich sagen, das meiste gedeiht hervorragend», freut sich Nadja Zürcher. Nur die Nadelbäume scheinen sich nicht ganz wohlzufühlen, vielleicht seien sie den vielen Wind nicht so gewohnt. Besondere Freude hat Zürcher am Boden, der ein vielfältiges und gesundes Bodenleben beherbergt. Zusätzlich gedüngt wird sparsam und wenn, dann mit rein biologischen Mitteln. Laub und Abschnitt bleiben vor Ort und können wieder verfallen, nur den Obstbäumen wird gelegentlich etwas Schwarzerde hinzugegeben.
Bewährt haben sich auch die unterschiedlichen räumlichen Angebote für die Menschen, die den Dachgarten das ganze Jahr über besuchen. Denn die Nutzung beschränkt sich keinesfalls nur auf den Sommer, sondern wurde innert kürzester Zeit zu einem Teil des Arbeitsalltags und der Firmenkultur. Auch bei Regen gibt es genügend geschützte Orte, und im Winter wird auf der Piazza zu Raclette und Fondue eingeladen. So erlebt man alle Jahreszeiten mit: wie die Pflanzen spriessen, die Blüten sich öffnen, die Früchte schwer an den Ästen hängen und schliesslich das Laub fällt und den Boden bedeckt. Von einer vielfältigen und lebendigen Natur mitten in der Stadt profitieren letztlich alle Lebewesen: Pflanzen, Insekten, Vögel und Menschen.
Biodiverser Dachgarten, Zürich
Bauherrschaft
Private Bauherrschaft, Zürich
Fertigstellung
August 2019
Architektur und Landschaftsarchitektur
Planerteam Zürcher Quantaviva (Konzept, Planung) und Vera Gloor (Planung, Ausführung), Zürich
Tragkonstruktion
Bänziger Partner
Umweltplanung
Phoster, Lenzburg
Dachgartenaufbau
Zinco, Kirchberg; Bionika (Substratzusatz), Edlibach
Gartenbau
Diebold & Zgraggen, Fislisbach