Das Rep­til am Stadt­rand

Das neue Naturmuseum in St. Gallen von Meier Hug Architekten und Armon Semadeni Architekten bietet Platz und neue Möglichkeiten für die beeindruckende Sammlung des Hauses. Das Museum selbst nimmt Themen und Wesenszüge der Ausstellung auf.

Publikationsdatum
11-08-2017
Revision
14-08-2017

Fast 140 Jahre war das Naturmuseum am Stadtpark von St. Gallen beheimatet. Architekt Johann Christoph Kunkler (1813 – 1898) entwarf das Haus im Stil der Neurenaissance, von Beginn an beherbergte es das Natur- und das Kunstmuseum. Es gilt als eines der ältesten Museen der Schweiz und zudem als eines der herausragendsten klassizistischen Gebäude. In diesen 140 Jahren erlebte das Natur- und Kunstmuseum eine wechselvolle Geschichte: Trotz seiner kunsthistorischen Bedeutung verkam das Haus zu einer Ruine – die älteren Architekten in St. Gallen erzählen gern Anekdoten, wonach man vom Keller aus den Himmel sehen konnte und die Bäume aus dem Dach sprossen –, und 1971 schloss die Stadt das Gebäude wegen Baufälligkeit. Erst nachdem 1978 mit einer Stiftung der institutionelle Rahmen für den weiteren Betrieb geschaffen war, konnte die Sanierung in Angriff genommen werden.

1987 feierte das Natur- und Kunstmuseum seine Wiedereröffnung, und die Ostschweizer überraschten mit einem mutigen, dezidiert postmodernen Projekt von Architekt Marcel Ferrier, das präzise den Nerv der damaligen Zeit traf. Doch er wies den beiden Institutionen ihren Platz im Haus zu: Erd- und Ober­geschoss gehörten der Kunstgeschichte, die Natur­geschichte wurde im neu erstellten Untergeschoss ­untergebracht. Auch wenn die geschwungenen Räume im Untergrund unbestrittene Qualitäten aufweisen, limitierten sie doch die Entwicklung des Naturmuseums, das mit rund 300 000 Exponaten einiges mehr zu zeigen hätte – ebenso fehlte der Kunst Raum für Ausstellungen.

«3 Museen, 3 Häuser»

Ein erster Wettbewerb für die Erweiterung des Kunstmuseums von 2003 sollte die beiden Institutionen besser entflechten und mehr Platz schaffen. Dafür hätte der Stadtpark umgezont werden müssen, was jedoch an der Urne scheiterte. Die Stadt St. Gallen reagierte darauf mit einer umfassenden Vorwärtsstrategie: «3 Museen – 3 Häuser» lautete das einleuchtend klingende, aber ­politisch schwierig umzusetzende Credo, das neben dem Natur- und Kunstmuseum auch das benachbarte Historische und Völkerkundemuseum (HVM) umfasst.

Grob umrissen beinhaltet die Strategie, dass die drei grossen Museen der Stadt jeweils in einem eigenen Gebäude zu neuer Strahlkraft finden sollen. In einem ersten Schritt ist das HVM zu erneuern, danach folgt ein neues Naturmuseum, und zuletzt wird das Kunstmuseum in eine neue bauliche Zukunft geführt. Die ersten beiden Bausteine sind gelegt: 2014 wurde das HVM umfassend saniert, im November 2016 feierte das neue Naturmuseum seine Eröffnung, und für die Erneuerung des Kunstmuseums erfolgte bereits 2012 ein Wettbewerb. Die Umsetzung des letzten Projektbausteins muss jedoch mit der Finanzierung und der Abstimmung noch politi­sche und gesellschaftliche Hürden nehmen.

Diese Hürden hat das neue Naturmuseum mit Bravour gemeistert: Mit fast 60 % Ja-Stimmen für den Neubau fiel der Entscheid im November 2012 deutlich aus. In diesem Glanzresultat widerspiegelt sich gewiss das Engagement der Walter-und-Verena-Spühl-Stiftung: Das Legat der beiden Ostschweizer Mäzene übernahm 13 der knapp 40 Millionen Franken teuren Baukosten. Die Summe wurde ursprünglich für die Erweiterung des Kunstmuseums gestiftet, nach dem negativen Entscheid an der Urne aber für den Umbau des Naturmu­seums umgewidmet. Denn mit dem Auszug des Naturmuseums erhält auch die Kunst wieder mehr Raum. Genau vier Jahre nach der Abstimmung konnten die St. Galler ihr neues Museum erstmals besuchen.

Botanischer Garten als Nachbar

Für das Naturmuseum wurde eine Parzelle am östlichen Rand der Stadt ausgewählt. Der Ort bietet ideale Bedingungen, denn in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der Botanische Garten, dessen Infrastruktur das Museum nutzt und dessen Arbeit in die Vermittlung eingebunden wird, auch wenn ihn eine Strasse trennt (Abb. unten). Doch auch ein anderer Nachbar bereichert das Programm: Zwischen der katholischen Kirche St. Maria Neudorf und dem Naturmuseum entsteht ein thematischer Park, der den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie wagt: Mit Schöpfung und Evolutionstheorie treffen hier demnächst zwei Welt­anschauungen aufeinander, die kaum vereinbar scheinen. Der Titel des Museumsparks klingt vielversprechend und deutet mit einem Zitat von Max Frisch einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma an: «Der Mensch erscheint im Holozän.»

Doch umgekehrt vermag das Naturmuseum auch dem Ort selbst Impulse zu geben. Entlang der Rorschacher Strasse löst sich die Stadt langsam auf – ebenso wie die Häuserzeilen, die in St. Fiden und bis zur Haltestelle Neudorf noch geschlossen sind und danach gegen Osten immer grössere Lücken aufweisen. Eine dieser Leerstellen füllt nun das neue Naturmuseum – es bietet einen attraktiven Anziehungspunkt, bevor das Tal, in dem St. Gallen liegt, sich weitet und zum Bodensee hin abfällt.

Passgenaue Lösung für die Lücke

Um ein Projekt für diese sensible Stelle im städtischen Gefüge zu finden, führte die Stadt 2009 einen offenen Wettbewerb durch. Das Siegerprojekt der Architekten-ARGE bot eine passgenaue Lösung, die zwischen den unterschiedlichen Dimensionen vermittelt: Das Naturmuseum reiht sich ein in die Folge von grossen Gebäuden entlang der Rorschacher Strasse, zugleich reagiert es aber mit seinem aufgelösten Volumen auch auf die Körnung der Einfamilienhäuser in seinem Rücken. Durch das vor- und rückspringende Volumen und die daraus resultierenden Platzsituationen trägt das Haus dazu bei, dass ein Stück Öffentlichkeit ent­steht, wo vorher eine Wiese war.

Wollte man das neue Naturmuseum als ein Lebewesen beschreiben, dann gewiss als Chamäleon: Das bewegte Dach gleicht dem gezackten Rücken der exotischen Echse; dank den Kanneluren im Sichtbeton der Fassaden ändert das Haus mit dem Lauf der Sonne seinen Ausdruck, so wie das Reptil die Farbe seiner Haut wechselt; und so mannigfaltig, wie das Chamä­leon in Erscheinung tritt, so vielgestaltig sind die Räume, die das Naturmuseum in St. Gallen bietet.

In einem intelligent angelegten Rundlauf, der über Split-Levels durch das Haus führt, bietet das Museum vielfältige Sammlungen: Die erste Ausstellungsebene bietet Raum für Wechselausstellungen, in den oberen Geschossen ist die Dauerausstellung beheimatet. Dabei evoziert das Museum auch in seinem räumlichen Reichtum die Natur: Analog zu einer Landschaft ändern sich die Höhe der Räume und deren Topografie. Wie bei einer Bergwanderung wechseln sich enge und weite Säle ab: Die beiden eindrücklichsten und wichtigsten Räume sind das Foyer mit der Cafeteria und der grosse Saal rund um das Kantonsmodell. Von einer Galerie aus lässt es sich in der Übersicht betrachten, auf den Wänden rundherum bindet eine expressive Wandmalerei die Exponate ein, die rund um das Modell aufgestellt sind.

Split-Levels im Innern

Im Gebäudeinnern überrascht die Ausrichtung der ­gros­sen Räume: Während von aussen betrachtet die wie aus einem Extruder gepressten, lang gezogenen Giebeldächer eine Ost-West-Richtung vorgeben, entwickeln sich die Split-Levels orthogonal dazu. In den unteren Geschossen kommt dies noch nicht zum Tragen, da die Geschossdecken nicht gerichtet sind. Doch im stützenlosen Oberlichtsaal, wo der Dachverlauf sichtbar ist, verwirrt diese Drehung der Räume: Die statische Struktur scheint der räumlichen Typologie entgegenzulaufen. Doch dies sind Irritationen für Eingeweihte – die Säle mit den prägenden Oberlichtbändern schaffen Raum für die Ausstellung, und besonders das riesige Dinosaurierskelett kommt wunderbar zur Geltung.

Das Naturmuseum St. Gallen ist berühmt für seine Präparate und die Sammlung: Das fast fünf ­Meter lange Nilkrokodil (mit dem 1623 die Sammlung begann), der Höhlenbär vom Wildkirchli und das ­Formicarium, ein lebender Ameisenberg, sind bekannte Highlights und Publikumsmagnete unter den über 300 000 Sammlungsstücken. Neu kommt das 37 m2 grosse Kantonsrelief im Massstab 1 : 10 000 hinzu, auf dem die Topografie der Region dargestellt ist und auf dem mit Teleskopen verschiedene Informationen abgerufen werden können. Diese reiche Sammlung konnte im Kunklerbau kaum je gezeigt werden, die Räume waren dafür schlicht zu eng. Zudem sind die Ansprüche des Publikums an die Ausstellungsgestaltung gestie­gen und die Aufgaben des Museums in seiner wissenschaftlichen Dokumentation sowie der Vermittlung von Wissen enorm angewachsen.

Zwischen Natur und Künstlichkeit

Das Museum soll die Vielfalt der Natur darstellen und die Zusammenhänge erklären. Dies beginnt bereits beim Gebäude: Es spielt mit den Begriffen Natur und Künstlichkeit und macht dies bereits mit dem Bau­material zum Thema. Die Fassaden bestehen aus Sichtbeton, in den öffentlichen Räumen im Erd- und ersten Obergeschoss sind die Wände mit Nagelfluh aus Süddeutschland belegt – einem natürlichen Gesteins­kon­glomerat, in dem wie beim Beton einzelne Kiesel und Geröll in einer feinkörnigen Matrix stecken.

Innerhalb der anregenden Raumfolge des Museums bieten inszenierte Themenwelten kleine Lernräume, in denen die Exponate Teil einer Rauminstallation werden. Die Zeiten, in denen ausgestopfte Tiere in neutralen Vitrinen präsentiert werden, scheinen definitiv vorbei zu sein. Auch ein Museum vermittelt das Wissen an seine Besucherinnen und Besucher mit ausgeklügelten Geschichten und erlebnisorientiert:

Die Inhalte sind interaktiv und atmosphärisch verpackt, sei es als Höhle des Bären oder als mit Kristallen versetzte Felsgrotten. Dies ist verständlich, da die Museen in harter Konkurrenz zueinander stehen – formal betrachtet geht die verspielte Ausstellungsarchitektur von 2nd West jedoch kaum auf den räumlichen Reichtum ein, den das Haus ihr bieten würde. Die beiden Elemente kommen sich zwar nah, werden aber selten eins. Der Besucher fragt sich, ob nicht die Ausstellung ein integraler Teil der Architektur sein könnte, so wie es mit der Malerei rund um das Kantonsmodell gelungen ist.

Nicht nur Vermittlung, auch Forschung

Trotz der ausgeklügelten Ausstellungsarchitektur stehen jedoch immer noch die Fundstücke aus der Natur und die ausgestellten Tiere im Mittelpunkt. Solche, die sich noch bewegen, wie in der Vogelpflegestation, oder die Präparate, die kunstvoll von den Taxidermisten und Präparatorinnen im Haus hergerichtet wurden. Das Sammeln ist eine der drei Aufgaben des Museums. In den Werkstätten konservieren Fachleute die kleinen und grossen Tiere, in den Kellerräumen lagern die Präparate in riesigen Archivregalen.

Die Arbeit an den Exponaten erfordert ein gerüttelt Mass an Technik und gut ausgebaute Werkstätten: Im Sockelgeschoss befinden sich die Räume, in denen an den wertvollen Präparaten gearbeitet wird und wo im Mazerationsbad Enzyme die Weichteilgewebe der Kadaver für Knochenpräparate zersetzen. Ein Arbeitsbereich, der mit hohen Anforderungen an die Technik einhergeht und der sich im enormen Raumbedarf im Untergeschoss äussert. Gleich hoch waren die Ansprüche bezüglich Energievorgaben: Der Neubau erfüllt die Vorgaben des Labels Minergie-P-Eco.

Die beiden anderen Aufgaben eines Museums sind die Forschung und die Vermittlung. Im modernen, geräumigen Bürotrakt können die Angestellten ihrem Forschungsauftrag nachgehen, der grösste Teil des Museums ist jedoch der Vermittlung gewidmet: Sie belegt 2400 von total 5600 m2. Der beiden Mäzene wird mit einem Vortragssaal im Erdgeschoss gedacht, der ihren Namen trägt.
 

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