Die Qualität von Baukultur skalieren
Die Zertifizierung von Nachhaltigkeit hat die Gesellschaft erreicht. Qualität zu objektivieren, ist in der Planungsbranche ein grosses Anliegen. Instrumente wie das Davos Qualitätssystem für Baukultur oder das revidierte Beschaffungsgesetz setzen neue Massstäbe.
Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass der Detailhandel auf das zunehmende Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Qualität in der breiten Bevölkerung reagiert. Im März startete beispielsweise die Migros mit dem Segen des WWF Schweiz eine Nachhaltigkeitsskala, die verschiedene Faktoren der Nachhaltigkeit wie Tierwohl oder Klima mit einem bis fünf Sternen bewertet. Bis 2025 sollen sämtliche Eigenmarken der Migros – auch im Bereich Non-Food – mit der Skala versehen werden.
Dabei kann ein Produkt bei den einzelnen Nachhaltigkeitskriterien durchaus unterschiedlich abschneiden: «Auch die negativen Nachhaltigkeitsaspekte eines Produkts verschweigen wir nicht», so Marketingchef Matthias Wunderlin. Konkurrent Lidl führte bereits im Februar ein vierstufiges Tierwohlrating des Schweizer Tierschutzes (STS) ein. Die Kooperation von Migros und Lidl mit namhaften Partnern zeugt von einem Bemühen um Glaubwürdigkeit. Dass jeder Detailhändler nun ein eigenes Bewertungssystem kreiert, ergibt aber nicht viel Sinn. Die Stiftung für Konsumentenschutz fordert deshalb ein europaweit einheitliches System für die Nachhaltigkeit von Detailhandelsprodukten.
Ganzheitliches Qualitätssystem
Ein Versuch, auf europäischer Ebene ein einheitliches System für die Bewertung von Baukultur zu schaffen, liegt nun mit dem Davos Qualitätssystem für Baukultur vor. Um es gleich vorwegzunehmen: Hier geht es weder um eine simple Benotung noch um ein abschliessendes System. Auf der Grundlage der 2018 von den europäischen Kulturministerinnen und -ministern verabschiedeten Erklärung von Davos beschreibt das neue System acht Kriterien, um die Qualität von Räumen zu objektivieren. Diese Kriterien sind Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius loci und Schönheit.
Alle Kriterien sind gleich wichtig, können je nach spezifischer Situation aber unterschiedlich gewichtet werden. Mit dem Davos Qualitätssystem für Baukultur werden soziale, kulturelle und emotionale Qualitätskriterien erstmals auf eine Ebene mit den üblichen Kriterien aus den Bereichen Technik, Umwelt und Wirtschaft gestellt. Das ist ein Meilenstein für ein ganzheitliches Verständnis von Baukultur und für die Nachhaltigkeit generell. Denn allzu oft wird die Baukultur oder die Nachhaltigkeit insgesamt auf einzelne Dimensionen oder sogar nur einzelne Aspekte beschränkt. Die soziale und insbesondere die kulturelle Dimension kommen dabei häufig zu kurz.
Umso erfreulicher ist es, dass das Davos Qualitätssystem das ganzheitliche Verständnis von Baukultur nun mit den genannten Qualitätskriterien untersetzt und in Gestalt eines Fragenkatalogs operationalisierbar macht. Dabei handelt es sich um ein dynamisches System: Die Anwenderinnen und Anwender können den Fragenkatalog auf die jeweilige Situation anpassen und um individuelle Fragen ergänzen.
Der Katalog gliedert sich für jedes der acht Kriterien in einen Bezug zur Erklärung von Davos, ein daraus abgeleitetes Prinzip und maximal sieben Fragen. In welchem Masse die so definierten baukulturellen Qualitätsziele erreicht werden, kann in Textform beschrieben und auf einer Skala eingeschätzt werden. Eine Vorlage für eine abschliessende Stellungnahme lädt schliesslich dazu ein, eine Gesamteinschätzung vorzunehmen sowie die Stärken und das Verbesserungspotenzial des jeweiligen Raums zu beschreiben.
Ein Vorhaben wie das Davos Qualitätssystem für Baukultur ruft schnell Ängste hervor: Die komplexe Herausforderung, den Lebensraum zu gestalten, könnte zu sehr simplifiziert und unzählige räumliche Situationen könnten über einen Kamm geschert werden. Genau deshalb ist das Davos Qualitätssystem als offenes System konzipiert. Wahr ist aber auch, dass ein Schritt in Richtung Objektivierung immer auch einen Schritt in Richtung Quantifizierung bedeutet.
Und die ist nie unschuldig. Wer objektiviert oder quantifiziert, beschreibt nicht nur die Realität, er verändert sie auch durch die jeweils angelegten Massstäbe. Im Fall des gestalteten Lebensraums möchten die Anwältinnen und Anwälte einer hochwertigen Baukultur genau das: mehr Qualität. Sprich eine ganzheitlichere Beurteilung von Baukultur und insbesondere von Planungsprojekten. Und sie möchten das häufig einseitige Preisdiktat bei öffentlichen Vergabeentscheidungen beenden.
Nachhaltigkeit des gestalteten Lebensraums
Genau hier schliesst sich der Kreis zur Schweiz und zum revidierten Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB). Bis Ende 2020 sah das BöB vor, dass das «wirtschaftlich günstigste Angebot» den Zuschlag erhält. Seit diesem Jahr sollen nun «neben dem Preis und der Qualität» Kriterien wie Lebenszykluskosten, Ästhetik, Nachhaltigkeit oder Innovationsgehalt berücksichtigt werden. Das ist ein Paradigmenwechsel.
Damit die vom nationalen Parlament gewünschte Verbesserung der Vergabepraxis gelebte Praxis wird, müssen auch weiche Kriterien wie Ästhetik objektivierbar und damit nachvollziehbar sein. Und es braucht ein ganzheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit, wie es das Davos Qualitätssystem für die Baukultur beschreibt.
Mit seinem Engagement für ein zeitgemässes Beschaffungswesen und mit vielen anderen Massnahmen unterstützt der SIA den gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit. Andere Beispiele sind «Umsicht – Regards – Squardi», die SIA-Auszeichnung für die zukunftsfähige Gestaltung des Lebensraums, oder das Merkblatt 2050 zur nachhaltigen Raumentwicklung. Alle diese Massnahmen zeigen: Eine hochwertige Baukultur ist nichts anderes als die Konkretisierung von Nachhaltigkeit für den gestalteten Lebensraum.
Die Autorin wirkte in der Redaktionsgruppe der Erklärung von Davos und des Davos Qualitätssystems für Baukultur mit. Beide sind hier zu finden: davosdeclaration2018.ch