"Die Qualität nicht vergessen!"
Adriane Widmer Pham
Frau Widmer Pham, die Lage auf dem Wohnungsmarkt im Kanton Genf ist sehr ähnlich wie im Kanton Zug: Die Leerwohnungsziffer ist erheblich tiefer als der Schweizer Durchschnitt, die Mietpreise sind deutlich höher. Die kantonale Wohnpolitik dagegen unterscheidet sich klar: In Genf ist der Wohnungsbau eher stark reguliert, in Zug dagegen fordert der Kanton vor allem die Gemeinden sowie die privaten Bauträger und Investoren zum Handeln auf – so auch mit der kürzlich publizierten Wohnpolitischen Strategie 2030. Offenbar stossen aber beide Ansätze an ihre Grenzen. Wo liegt das grundlegende Problem?
Ariane Widmer Pham: Aus der Zahlenperspektive scheinen der Genfer und der Zuger Wohnungsmarkt tatsächlich ähnlich. Die Hintergründe und die Perspektiven sind jedoch grundsätzlich verschieden: Zug ist ein ländlicher Kanton, dessen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten rapide gewachsen ist. Hier sind es vor allem die elf Gemeinden, die dieses Wachstum verwalten und dringend Steuerungsinstrumente brauchen. Genf dagegen ist ein Stadtkanton, der den 45 Gemeinden das Tempo vorgibt und der seit Jahrhunderten sein zu enges Territorium mit komplexen Abkommen verwaltet. Insofern sind wir in Genf gut aufgestellt; es gibt Handlungsbedarf, aber wir gehen ihn mit einer relativen Gelassenheit an. Die Schweiz hat beschlossen, mit der Zersiedelung, in der sich jeder bedienen kann, Schluss zu machen. Innenentwicklung ist jedoch komplexer und braucht neue Spielregeln, die das Interesse der Gemeinschaft besser wahren. Hier liegt für mich das grundlegende Problem.
Wie könnte man es angehen?
Die extreme Lage in Zug und Genf zeugt von einem strukturellen Ungleichgewicht. In beiden Fällen ist die wirtschaftliche Attraktivität ein wichtiger Auslöser davon. Ein zusätzlicher und verstärkender Faktor in Genf ist die grenzüberschreitende Lage, in Zug ist es der sehr niedrige Steuersatz. Solche «Anomalien» brauchen Gegensteuer, sonst gibt es zu viele «Verlierer» und das ist nie gut. In Genf spricht man vom «phénomène de la métropolisation», das die Ärmsten immer weiter verdrängt. Um diesem entgegenzuwirken, braucht es Ausgleichssysteme, regulatorische Ansätze. Weil Wohnen ein Grundbedürfnis ist, liegt für mich diese Verantwortung in den Händen der Kantone, respektive der Kommunen. Sie müssen die Rahmenbedingungen gestalten, wie es der Kanton Zug mit seiner Wohnpolitischen Strategie 2030 auch tut.
Lesen Sie im TEC21 26/2024 "Mehr Wohnungen – nur wie?" mehr über die "Wohnpolitische Strategie 2030" und das Interview mit Peter Märkli zum Gedankenexperiment.
Diese schlägt neben anderen Massnahmen auch die Schaffung von speziellen Bauzonen vor. Eine mögliche Umsetzung beschreibt das Gedankenexperiment für «weisse Zonen». Halten Sie diese Deregulierung für einen vielversprechenden Ansatz?
Die «weissen Zonen» klingen für mich ein wenig wie «Wilder Westen». Trotzdem sehe ich darin auch interessante Ansätze, wie zum Beispiel das Regelwerk der Grundordnung neu zu überdenken, die 30-m- bzw. 25-m-Höhe-Regel für bestimmte Lagen oder dass man grundsätzlich an die Parzellengrenze beziehungsweise Brandmauer zum Nachbarn bauen darf. Ich bin überzeugt, dass das Planen und Bauen bei der Nachverdichtung im urbanen Raum gänzlich neue Regeln braucht. Das Genfer Raumplanungsgesetz erlaubt zum Beispiel in gewissen Zonen den Verzicht auf einen Gestaltungsplan, wenn der Perimeter bereits stark bebaut ist, das heisst, man kann hier direkt zum Bauprojekt springen. In diesem Feld gilt es jetzt neue Wege zu finden, aber Achtung: Wer Stufen überspringt, darf die Qualität nicht vergessen!
Welche Instrumente – bereits existierende oder auch neue – halten Sie für sinnvoller, um den Bau von erschwinglichen Wohnungen zu ermöglichen?
Die Drei-Drittel-Regel ist für mich eine Grundregel. Eine lebendige Stadt braucht gemischte Nutzungen und soziale Durchmischung. Dies ist der Zement des sozialen Zusammenhalts. Plant man ein neues Quartier, sollte es neben Stockwerkeigentum und Mietwohnungen im freien Markt auch Platz für günstige oder subventionierte Mietwohnungen geben. Boden im Baurecht für gemeinnütziges Wohnen ist ein zentrales Fördermittel der öffentlichen Hand. In Genf ist das Instrumentarium breit und komplex, die öffentliche Hand hat es über die Jahrzehnte erdacht. Es wird regelmässig weiter daran geschraubt und gefeilt, aber grundsätzlich hilft es, in einem sehr dynamischen Transformationsprozess das Gleichgewicht zu wahren.