Die Rück­erobe­rung der Stadt als Wohn­ort

Unsere Städte haben zu viele Bürohäuser und zu wenig Wohnraum – die logische Schlussfolgerung ist die Umwidmung leer stehender Geschäftsbauten zu urbanen Wohnungen. Doch dieser Prozess geht nur langsam voran.

Publikationsdatum
14-01-2022

Die Verwaltungsbauten der 1950er- bis 1970er-­Jahre beherbergten zumeist ganz gewöhnliche Büros. Nun stehen viele von ihnen leer und werden zu blinden ­Flecken in den Innenstädten – wo es sich doch gut wohnen liesse. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg und dem daraus resultierenden Neubau von Wohnüberbauungen vor den Toren der Innenstadt verloren die Zentren als Wohnort an Bedeutung.

Der zunehmende private Autoverkehr gab dieser Entwicklung weiteren Vorschub. Sinkendes Interesse am Wohnen in der Stadt führte zum grossflächigen Abriss von Mietshäusern und beförderte den Neubau von Bürohochhäusern. Durch die Präsenz der Bundesverwaltungen und damit zusammenhängender Firmen sind diese in Bern besonders vorherrschend und machen die Stadt zu einem interessanten Beispiel für einen erneuten Paradigmenwechsel.

Schon früh wurde eine weitere Bautätigkeit politisch gebremst: Als Ergänzung zum Nutzungszonenplan, der 1975 geschaffen wurde, und zur Bauordnung von 1979 stoppte der Bauklassenplan 1987 eine weitere Verdrängung der Wohnbauten. Auf dieser Rechtsgrundlage erhielt der behutsamere Umgang mit dem gewachsenen Bestand eine neue Bedeutung.1

Dennoch prägen die Bauten heute die Stadt Bern, und entsprechend macht sich die aktuelle reduzierte Nach­frage nach Büroarbeitsplätzen überproportional bemerkbar. Der Leerstand ist in­zwischen beträchtlich: Momentan sind 290 Arbeitsräume mit insgesamt 83 000 m2 ungenutzt. Im Vergleich zum Jahr 2000 hat sich der Leerstand mehr als ­verdoppelt. Die Schweizerische Post und die SBB haben ihre Hauptsitze an den Stadtrand umgesiedelt, Bundesämter wurden an neuen Standorten gebündelt.

Insgesamt bemisst sich die Bürofläche in der Stadt Bern auf 2.2 Mio. m2 mit leicht steigender Tendenz (Stand 2019), wobei die Preise im mittleren Segment in den letzten drei Jahren um 2.8 % gefallen sind. Der Leerstand bewegt sich hier bei rund 5 %.2 Hingegen stagniert er bei Wohnungen auf 0.5%.3

-> Beispiel Umbau Schönburg, Bern

-> Beispiel Umbau Octavo II, Zürich Neu-Oerlikon

Im gesamtschweizerischen Vergleich stieg der Angebotspreis von Büroflächen in den vergangenen drei Jahren um 16.7 %, nicht aber in Bern: Hier fiel er im gleichen Zeitraum um 2.8 % und setzte damit ein Umdenken in Gang: Wenn sie ihre Fläche schon nicht mehr als einträglichen Gewerberaum vermarkten können, suchen ihre Besitzer heute anderweitig nach gewinnbringenden Formaten. So wächst in der Bundesstadt ein Interesse an Nachnutzungen von Bürobauten, das als zuverlässiger Auslöser für Aufwertungsprozesse urbaner Immobilien wirkt.

Ein bedenklicher Aspekt ist dabei, dass sich Projektentwickler zum Handeln gedrängt fühlen, weil parallel die Unterschutzstellung vieler derartiger Bauten durch die Denkmalpflege Fahrt aufnimmt. Für Wohnungssuchende, die sich in urbaner Atmosphäre wohl fühlen und keine Scheu vor Lärm und relativer Dichte haben, bieten die Häuser einige unbestreitbare Vorteile – preisgünstige Mieten zählen allerdings bisher selten dazu. Dies ist teils mit dem hohen planerischen und baurechtlichen Aufwand zu erklären, der den Umnutzungsprozess im Moment noch begleitet, teils aber auch mit wirtschaftlichem Kalkül.

Lage: die Strasse als Erlebnisraum

Bei den positiven Werten ist an erster Stelle ihre Verortung in der Stadt zu nennen. Mit der ursprünglichen Nutzung geht oft eine gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr einher. Solange der geforderte Rückgang von Lärm- und Schmutzemissionen noch nicht spürbar ist, sind bei langfristigen Überlegungen immerhin die Vorteile eines urbanen Umfelds von Bedeutung mit Wegen, die zu Fuss oder per Velo zu bewältigen sind. Mit der Belebung eines Quartiers durch Anwohnende kommt eine Aufwertung in Gang, die als Motor für ganze Stadtviertel funktioniert.

Dabei ist es wichtig, dass das Wohnungsangebot nicht nur aus Studios für Wochenendheimfahrende besteht, sondern die Menschen wirklich an den Ort bindet. Zusammen mit der gezielten Förderung einer neuen Zentrumsbildung durch die Ansiedlung von Quartierstreffs, Freiräumen, Ausbildungsstätten und Gewerbe durch die Stadtplanung entsteht ein Raum, den sich die Stadt aneignen kann.

Rohbau: erhaltenswert bis cool

Ein weiterer guter Grund für die Erhaltung und Umnutzung der beschriebenen Gebäude ist die graue Energie, die in den grossen Mengen an darin verbautem Stahlbeton gebunden ist und im Sinn der Kreislaufwirtschaft an Wertschätzung gewinnt. Es ist abzuwägen, ob der Teilrückbau und die Ausrüstung mit neuer Gebäudetechnik im Vergleich zu einem Neubau nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ökologisch tragbar ist.

Einmal entkleidet, bieten die soliden Rohbauten Potenzial für einen veränderten Ausbau. Die gestalteri­sche Stärke ehemaliger Bürobauten liegt in der klaren Struktur, auf die die neuen Grundrisse Bezug nehmen: Um die notwendigen Schächte und Erschliessungs­kerne herum ist der Raum frei gestaltbar. Je kleiner die Wohneinheiten allerdings sind, desto mehr Schächte müssen für die jeweils zugehörigen Nebenräume eingeplant werden, was den Aufwand in die Höhe treibt und oft zu einem Ungleichgewicht zugunsten grosser Einheiten führt. Durch die Fensterflächen und Raumhöhen entstehen Grundgerüste für unterschiedliche Ausbaustandards. Diese Freiheit birgt Möglichkeiten einer guten Durchmischung innerhalb der Bewohnerschaft, die mit Gemeinschaftsräumen noch gefördert werden kann und auch Platz für zukünftige Formen des Zusammenlebens eröffnet. Den positiven Impulsen stehen ganz konkrete Schwierigkeiten gegenüber, die der Typus eines Bürogebäudes der 1960er-Jahre bei der Umwandlung für Wohnzwecke bereitet.

Fassade: Identitätsträger oder Problem

Aus heutiger Sicht verkörpert häufig schon allein die Fassade einen Mangel. Neben den funktionalen Aspekten sind energiewirtschaftliche Kriterien bedeutsam, die sich aus der Materialwahl und Detaillierung ergeben. Zugunsten einer filigranen Erscheinung ist der Energieverbrauch von Vorhangfassaden oder von Pfosten-Riegel-Konstruktionen und Glasflächen in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht so sehr ins Gewicht gefallen. Es fehlte die Kenntnis, aber auch das Bewusstsein für eine solide energetische Dämmung. Die durch Kältebrücken entstandenen Schäden machen Gebäude häufig schon für einen zeitlich begrenzten Aufenthalt wie für Büro­arbeit ungeeignet und sind heute ein massgeblicher Grund für deren Leerstand. Dazu kommt die sommerliche Wärmelast: Obwohl sie bei Büronutzung durch die elektronischen Geräte und die Mitarbeitenden noch störender ausfällt, stellt die Überhitzung auch beim Wohnen eine spürbare Beeinträchtigung dar.

-> Sinnvolle Innenentwicklung – Kommentar von Stadtplaner Mark Werren über die Entwicklung der Stadt Bern

Nicht selten prägt aber die gestalterische Qualität der Fassaden die Identität des Gebäudes und wird von den Planenden und der Stadtbildkommission hoch geschätzt. Erstes Ziel ist es dann, diese zu erhalten und gleichzeitig einen vertretbaren energetischen Standard und Komfort zu erreichen. Durch nachträgliche Eingriffe zur verbesserten Dämmung droht die Komposition einer Fassade oft aus dem Gleichgewicht zu geraten, sodass der totale Ersatz aus wirtschaftlicher und auch gestalterischer Hinsicht angemessen ist.

In ihrer Detaillierung liegt gegenüber dem Bestand grosses Verbesserungspotenzial. Neben langlebigeren Abdichtungen garantieren auch die Beschichtung und Zusammensetzung der Festverglasung selbst eine erhebliche Reduktion des Energieverbrauchs. Form und Betrieb von integrierten Verschattungen und Öffnungsflügeln erleichtern die Steuerung von Licht- und Luftverhältnissen in den Innenräumen, ergänzt durch neu eingeschnittene Balkone oder Loggien. Mit dem Ziel einer möglichst geringen Technisierung kann immerhin anstelle einer Klimaanlage eine unterstützende Komfortlüftung ausreichen.

Statik: aussen eng getaktet, innen frei

Ebenfalls typisch für die Bürobauten der 1960er-Jahre ist ein enger Fassadenraster von rund 120 cm, auf dem das Achsmass der üblichen Zellenbüros aufbaut und sich nach aussen abbildet. Die daraus resultierende Fensterbreite ist für heutige Wohnraummasse nur noch als ein Vielfaches einsetzbar und stellt damit auf einer zusätzlichen Ebene die Wirtschaftlichkeit bestehender Fassadenkonstruktionen infrage. Von Vorteil ist dagegen die weitgehende Stützenfreiheit im Gebäudeinnern, die eine offene Grundrissgestaltung erlaubt. Der Innenausbau erfolgte zumeist als Leichtbau und ist entsprechend rückbaubar. Dabei sind die sonst so ungeliebten abgehängten Decken endlich ein Gewinn: Sie lassen sich leicht demontieren und geben den Zugriff auf die zu erneuernde horizontale Haustechnik frei. Die Demontage fordert allerdings auch hier neue Ansätze, weil der darunter versteckte Platz für Schalldämmung und Leitungsführungen entfällt. Was gleich zum nächsten Problempunkt überleitet: Für die vertikale Leitungsführung zur Versorgung der Sanitärbereiche und Teeküchen reichten bei den Bürohäusern wenige, zentral gelegene Schächte. Das stellt den Ausbau mit neuen Küchen und Bädern vor eine Herausforderung, zumal auf die abgehängten Decken zugunsten einer maximalen Raumhöhe wann immer möglich verzichtet wird. Um neue Schächte zu integrieren, müssen entweder zusätzliche Bauteile dafür ergänzt, in bestehende Liftschächte und Treppenhäuser integriert oder radikal in den Rohbau eingeschnitten werden, ohne damit die Statik zu gefährden.

Erschliessung: individuell statt zentral

Ein damit verknüpfter Aspekt ist die Organisation der Zugänglichkeit. Für den Bürobau ist häufig ein zentraler Eingang mit Verteiler auf den Etagen sinnvoll, an den Treppenhaus und Lifte angeschlossen sind. Für die individuelle Erschliessung von Wohnungen müssen diese dann auch brandschutztechnisch von den Zugängen abgetrennt sein. Ergänzende Erschliessungskerne ziehen massive Eingriffe nach sich, die sich im besten Fall mit denen für das Einbringen neuer Schächte kombinieren lassen.

Ein alternativer Ansatz ist die Weiternutzung von vertikalen Achsen im Bestand, die um eine horizontale Verteilung zu den Wohnungseingängen ergänzt werden. Die Verlagerung der Verteilung auf die Ebenen erspart zwar Eingriffe in die beste­hende Konstruktion, bedarf aber zusätzlicher Fläche. Radikale Veränderungen wie das Entfernen der Gebäudemitte zugunsten einer neuen Erschliessung und Versorgung über einen offenen Hof schlagen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Der Hof ersetzt die dunkle und als Wohnraum wenig attraktive Gebäudemitte, ermöglicht eine bessere Tageslichtversorgung der umliegenden Räume und bietet die Möglichkeit, Laubengänge anzudocken. Dagegen steht ein Verlust an vermietbarer Fläche und eine Verschlechterung der Ökobilanz, nicht zu vergessen der Kostenaufwand für den Eingriff in die Substanz.

Recht: Normen und Visionen

Zur Klärung der baurechtlichen Belange sind Absprachen mit der Stadtplanung zu treffen, gerade wenn Entwicklungsprogramme für das betreffende Quartier oder die Gemeinde bestehen. Befindet sich das Objekt in einer Gewerbezone, ist das Wohnen nicht ohne Umzonung möglich. Befindet es sich hingegen in einer Dienstleistungszone, so ist eine teilweise Wohnnutzung gestattet, allerdings gekoppelt an abgestufte Lärmschutzverordnungen. Umgestaltungen der äusseren Erscheinung des Gebäudes sind mit der Stadtbildkommission abzustimmen. Und wie eingangs erwähnt, können auch Belange des Denkmalschutzes im Spiel sein. Bezüglich des Volumens muss gewährleistet sein, dass das Tragwerk weitere 50 Jahre belastbar ist. Dabei fällt nach Angaben von Bauart Architekten die Gewährleistung gestiegener Sicherheitsanforderungen, besonders der Erdbebensicherheit, besonders ins Gewicht. Eingriffe in die Statik, die architektonisch für die Öffnung der Grundrisse und der vertikalen Verbünde wünschenswert wären, sind entsprechend begrenzt. Die Integration der Genehmigung von Aufbauten und Anbauten in die Überbauungsordnung erfordert eine genaue Auseinandersetzung mit dem Bestand. In der Folge rufen erhöhte Geschossflächenzahlen, veränderte Erschliessungen und zusätzliche Stockwerke die Anpassung der Brandschutzmassnahmen (gemäss den Vorschriften der Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen VKF) auf den Plan.

Ein Vorteil der relativ jungen Gebäude ist, dass die Baupläne, manchmal auch Baubeschreibungen noch vorhanden und als Grundlage weiter zu benutzen sind. Was natürlich die Augenscheinnahme der tatsächlichen Bausubstanz nicht ersetzt: Der Zustand von Beton und Betonüberdeckungen bedarf gründlicher Prüfung. Das Gleiche gilt für die bestehenden Dämmungen, die mit den heute geforderten Standards meistens nicht zu erreichen sind. Bei Bauten aus der betreffenden Zeit ist ausserdem von der Verwendung heute kritischer Materialien wie Asbest oder Mineralwolle auszugehen, deren Fasern bei Demontage krebserzeugenden Staub freisetzen.

Anmerkungen

 

1 Historisches Lexikon Schweiz, «Gemeinde Bern: Wirtschaft und Gesellschaft», Autor: Bruno Fritzsche.

 

2 Wüest Partner, Studie zu Standortinformationen Bern. 

 

3 Statistik Stadt Bern LWZ 9/21: Zählung der leer stehenden Wohnungen und Arbeitsräume in der Stadt Bern am 1. Juni 2021.

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