«Die Droh­nen sind nur ein paar Mal ge­flo­gen»

Digitalisierung heisst auch probieren, improvisieren und so neue Probleme lösen. Der erfahrene Strassenbau-Polier José Fonseca hat das bei der ersten «gläsernen Baustelle» von Walo Bertschinger in Küsnacht ZH miterlebt. Was er dabei lernte, erzählt er im Interview.

Publikationsdatum
23-03-2020

espazium: An der Eigenheimstrasse in der Gemeinde Küsnacht waren Sie als Polier für die erste Strassensanierung in der Schweiz verantwortlich, die komplett digital durchgeführt wurde. Was war der wichtigste Unterschied zu einer gewöhnlichen «Papierbaustelle»?
José Fonseca: Die grösste Herausforderung war, dass ich von Anfang an alles digital dokumentieren musste, was wir taten; also zum Beispiel den Grabenaushub mit dem GPS-Messgerät oder dem Tachymeter erfassen. Oder die Lage von Werkleitungen wie Strom oder Fernwärme mitsamt Formstücken und Armaturen – und das auf einer Länge von ca. 500 m.

Also sehr viel zusätzliche Arbeit ...
Ja, das wurden unterm Strich tausende Messpunkte für alle Bauarbeiten. Die Geologie des Bodens habe ich auch erfasst: Schichtdicken von Kies oder Sand und zusätzlich auch den Pegel des Grundwasserstands. Die Bauherren hatten nämlich auch ein geologisches Längenprofil des Untergrundes gefordert.

Zur Person:

 

José Fonseca (geboren 1975) ist ein erfahrener Polier im Strassen- und Tiefbau. Seit 28 Jahren ist er bei der Bauunternehmung Walo Bertschinger angestellt. Er hat den Beruf des Strassenbauers gelernt und die Facharbeiterschule besucht. Anschliessend absolvierte er die Ausbildung zum Polier mit eidgenössischem Diplom.

Gab es auch Dinge, die Sie überhaupt nicht kannten?
Ja. Als wir zum Beispiel die Walze einsetzten, haben wir während des Einbaus automatisch die Verdichtung aufgezeichnet – flächendeckend und georeferenziert. Und um die Temperatur des Belags beim Einbau zu messen, die für die Qualität sehr wichtig ist, hatten wir eine Eigenentwicklung: eine hochauflösende Infrarotkamera, die sich auch über GPS-Daten orientiert.

Wie würden Sie denn Ihren gesamten Mehraufwand für diese Premiere einschätzen?
Ich habe in den ersten Monaten jedenfalls viel, viel mehr gearbeitet, vor allem wegen des eigenhändigen Erfassens der Daten.

Auf Wunsch der Gemeinde Küsnacht sollte die Baustelle komplett papierlos sein. Haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen das wirklich durchgehalten?
Ja. Nur während der ersten beiden Wochen gab es ausnahmsweise Papierauszüge der Ausführungspläne, weil es zu Beginn ein paar Herausforderungen mit Software gab. Mit irgendetwas mussten wir ja anfangen. Aber das waren ganz einfache Situationspläne – ohne Masse oder andere Angaben. Entfernungen abstecken, zum Beispiel für den Einbau von Randsteinen, konnte man damit nicht. «Richtige» Ausführungspläne auf Papier gab es nur einmal – für Eisenleger, damit sie die Bewehrung eines Hochwasser-Entlastungsbauwerks aus Beton verlegen konnten.

Gab es viele Sitzungen, um die digitale Technologie einzuführen?
Schon. Am Anfang war das jede zweite Woche, manchmal auch wöchentlich. Aber wir haben natürlich auch Zeit gespart.

Womit?
Zum Beispiel bei Änderungen der Baupläne, in unserem Fall also dem Ausführungsmodell. Auf Papierausdrucke musste man nicht mehr warten, so wie das sonst häufiger vorkommt – die neuen Pläne wurden gleich online auf mein Tablet überspielt, mit Hinweisen auf die Änderungen.

Unerwartete Probleme: Da gab es sicher einiges bei dieser Premiere, oder?
Das digitale Modell für die Ausführung war teilweise sehr detailliert. Da hat man zum Beispiel wirklich alle Steine eines Randabschlusses einzeln gesehen, mit Länge, Breite und Kanten. Ich konnten jeden Zentimeter als Punkt für die Absteckung auswählen: Das waren auf meinem Monitor dann so viele Punkte, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich noch zu orientieren.

Also sehr umständlich?
In diesem Fall ja, denn üblicherweise brauche ich viel weniger Koordinaten, um Randabschlüsse abzustecken, bei einer geraden Strecke vielleicht alle fünf bis zehn Meter. Die Firma, die das Modell geliefert hatte, hat das dann geändert und vereinfacht.

Ist irgendetwas richtig schief gelaufen?
Eigentlich nicht; es waren eher Kleinigkeiten bei der Datenerfassung. Ich musste ja nicht nur die Koordinaten der unterschiedlichen Werkleitungen erfassen, sondern auch gleich Attribute zuordnen: zum Beispiel den Leitungstyp oder Durchmesser. Da habe ich im Eifer des Gefechts einige Fehler gemacht, aber die konnte ich später auf dem Bildschirm wieder selbst korrigieren.

Hat die digitalisierte Arbeit auch die Kommunikation mit den Arbeitern verändert?
Das Schwierige am Anfang war: Sie mussten sich daran gewöhnen, mir sofort Bescheid zu geben, wenn ein Arbeitsschritt fertig war. Denn ich musste diesen Zustand vor dem nächsten Schritt ja digital erfassen. Aber nach zwei Wochen hatte sich das eingespielt.

Wurden auch Drohnen für Oberflächenscans eingesetzt?
Ja, weil man damit effizient eine ganze Baustelle scannen kann. Durch die Flüge haben sich aber viele Leute schnell in ihrer Privatsphäre gestört gefühlt. Also haben wir darauf verzichtet. 

Und stattdessen?
Mit einem stationären Gerät haben Fachleute alle 15 m hochauflösende 3-D-Scans von der Oberfläche erstellt – mithilfe von Fixpunkten entlang der Strasse. So wurden zum Beispiel alle Schichten des Belags erfasst, um die exakten Dicken im digitalen Zwilling zu haben.

Der Projektleiter der Bauherrschaft war nach eigenen Worten «mehr als happy» mit dem Bauablauf und dem Resultat. Sie auch?
Ich war sogar stolz! Weil ich etwas dazugelernt habe. Und für die Baustelle mit Papierplänen, auf der wir hier jetzt reden, habe ich unserem Bauführer gesagt: «Du, ich will die Pläne auch in digitaler Form.»

Warum? Sie haben hier doch einen Papierplan dabei.
Ich will nicht vergessen, was ich gelernt habe. Und es ist für Sitzungen praktisch, wenn man Details genauer zeigen will – zum Beispiel eine unbekannte Leitung, die wir im Boden gefunden haben. Falls es mal heftig regnet, hat mein Tablet auch eine wasserfeste Hülle. Und wenn es bei einer Sitzung früh am Morgen draussen noch dunkel ist: Es ist beleuchtet!

Was meinen Sie: Wird der Tiefbau in Zukunft digitalisiert sein?
Ich sage mal so: Wenn alle mitziehen, wird das kommen. Im Hochbau ist man schliesslich schon weiter, zum Beispiel im Holzbau. Aber im Strassenbau ist es halt manchmal auch schwieriger. 

Warum?
Zum Beispiel wegen des GPS-Systems. Ich muss meine Messantenne bis zu 4,5 m tief im Kanal einsetzen. Aber dort unten hat man manchmal keinen Satellitenempfang. 

Wie haben Sie das dann gemacht?
Ich habe mir zum Beispiel eine Art Podest darüber gebaut, um sozusagen von oben hineinzuzoomen.

Die Umstände im Tiefbau erschweren es also ...
Ja. Und im Kanalbau ist immer etwas im Weg. Allein schon der Grabenverbau: alle paar Meter mehrere Spriesse. Oder auch Werkleitungen, die den Graben queren.

Die Gemeinde Küsnacht praktiziert bei solchen Projekten ein «Partnerschaftsmodell» mit Firmen. Hatten Sie genug Unterstützung?
Wir waren eine ziemlich gute Truppe! Auftraggeber, Planende und wir waren natürlich sehr motiviert, weil es für alle Neuland war. Wir haben viel miteinander diskutiert – und jeder hat etwas dazugelernt.

Wurden die digitalen Daten auch für die Kostenkontrolle ausgewertet? Sagen wir mal: eine Summe für zehn Meter Regenwasserkanal?
Ja, das wurde gemacht. Ich mache meinen Tagesrapport ja ohnehin online. Ich erfasse alles, was ich gemacht habe. Und welcher Arbeiter wie viele Stunden womit verbracht hat und welches Material er eingebaut hat. Mein Kollege im Büro kann das dann per Knopfdruck auswerten. Mir hat er einmal gesagt: «Schau mal, José, du hast aber viele Stunden für die Vermessung gebraucht.» (Lacht.) Da habe ich geantwortet: «Du hast ja gesehen, was das für eine Baustelle war!»

Zum Projekt:

 

Die Sanierung der Eigenheimstrasse war für die Gemeinde Küsnacht ZH ein mittelgrosses Bauprojekt: 2500 m2 Strassenoberbau, 700 m Kanalisation und 1300 m Werkleitungen. Als Gesamterneuerung war sie der Anlass, erstmals eine Strassenbaustelle als BIM-Projekt mit einem digitalen Zwilling zu entwickeln. Das Ziel war, mit Hilfe von Daten zur Geologie, zu eingebauten Materialien und zur Qualität der Arbeiten eine Grundlage für zukünftige Planungen zu schaffen – zum Beispiel für Sanierungen oder auch, um eingebautes Material wie Kiessand später wiederverwerten zu können.

 

Die Ausschreibung für die Planungsarbeiten erfolgte im freihändigen Verfahren; die ausführende Firma wurde in einem zweistufigen, selektiven Verfahren ausgewählt. Ein Vorprojekt zur Planung begann Anfang 2018; die Ausführungsplanung war im Oktober 2018 fertig. Die Bauarbeiten dauerten von Januar bis November 2019 und kosteten rund vier Millionen Franken.

 

Die Mehrkosten für die Digitalisierung möchte Rolf Steiner, Leiter Tiefbau der Gemeinde Küsnacht, auf Nachfrage nicht exakt beziffern. Er ist aber überzeugt, dass sich diese Kosten über den Lebenszyklus eines Bauwerks gesehen auszahlen.

Serie «Die Tücken der Digitalisierung», Teil 1

 

Die Digitalisierung bringt für Bauherren, Architekten, Ingenieure und die gesamte Branche viele Chancen. Doch um die neuen Möglichkeiten zu nutzen, sind Lernprozesse nötig – und damit auch die Fähigkeit, Fehler zu machen und daraus zu lernen. In einer Serie dazu sprechen wir mit Fachleuten über ihre Erfahrungen und die Lehren, die sie daraus gezogen haben.

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