«Wir spre­chen von ei­nem Fak­tor 10 bis so­gar 100»

Dynamische Simulationen gelten nach wie vor als Nischenprodukt, obwohl deren technischer und finanzieller Nutzen den Aufwand oft um ein Vielfaches übersteigt. Im Gespräch mit TEC21 berichten zwei Spezialisten, welche Dienstleistungen im Alltag angefragt werden, wer von Simulationen profitiert und wo noch Potenziale brachliegen.

Publikationsdatum
12-06-2024

Was sind die Hauptgründe, weshalb Sie als Spezialisten für dynamische Simulationen beauftragt werden?

Manuel Frey: Kurz und knapp: Unsere Auftraggeber benötigen in der Regel Unterstützung bei Pro­jekten, die nicht über Handrechenmethoden und/oder normativ vereinfachte Methoden analysiert werden können und alternative Lösungsansätze erfordern.

David Akeret: Konkret handelt es sich um Fragestellungen aus den Bereichen Optimierung, Di­mensionierung und Nachweisführung oder Sensi­tivitätsanalysen. Bei Optimierungen erstellen wir Varianten­vergleiche als Entscheidungsgrundlagen. Dabei setzen wir Simulationsmodelle und modellbasierte Analysen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Gewerke ein, um Entscheidungsgrundlagen in Bezug auf Kri­terien wie Baukosten, Betriebskosten und Nach­haltigkeit – konkret: CO2-Emissionen – zu schaffen. Bei der Dimensionierung befassen wir uns mit der technischen Berechnung oder der maximalen Grösse, der Form und dem Typ von Bauteilen und Anlagen; meistens für den Kostenvoranschlag, die Ausschreibung oder die Ausführungsplanung. Dies erfolgt normalerweise nur noch für eine oder wenige Varianten und für einen spezifischen Anwendungsfall, zum Beispiel Worst-Case-Betrachtungen.
In der Nachweisführung werden die Modelle und Annahmen aus der Phase Dimensionierung und Optimierung mit Norm-Randbedingungen nach SIA, Minergie, LEED (Leadership in Energy and Environmental Design), SGNI (Schweizer Gesellschaft für Nachhaltige Immobilienwirtschaft) etc. erneut para­metrisiert, um die getroffenen praxis- und realitätsnahen Konzeptentscheide zum Beispiel für die Baueingabe, Zertifizierung oder Nachweisführung nach bestimmten Standards abzubilden.
Mithilfe von Sensitivitätsanalysen können getroffene Variantenentscheide einem «Stresstest» unterzogen werden. Dabei untersuchen wir beispielsweise, wie ein Bauteil, eine Anlage, ein Raum oder das Gebäude auf gewisse Randbedingungen – etwa Global Warming, Hochwasser, Erdbeben, Hitze-/Kälteperiode oder abweichendes Nutzerverhalten – reagiert, und erstellen eine Risikoeinschätzung mit Eintretenswahrscheinlichkeit. Wichtig ist dabei der Blick auf den realen Betrieb über den Lebenszyklus in Form einer Performance-Gap-Analyse. Mit dieser wird das tatsächliche Betriebsverhalten einer Anlage abgebildet und mit den Vorhersagewerten aus der Planung abgeglichen. Idealerweise liegt die tatsächlich gemessene Performance nahe bei der vorhergesagten beziehungsweise geplanten und bestellten Performance.

Wer ist in der Regel Auftraggeber Ihrer Mandate?

Frey: Das ist unterschiedlich. Zum einen unterstützen wir als interne Spezialisten die Projekte der Abteilungen Gebäudetechnikplanung, Bauphysik und Generalplanung in qualitativer und quantitativer Hinsicht. Zum anderen bearbeiten wir auch Projekte im Direktmandat zur Unterstützung von externen Architekten, Generalplanern, Bauphy­sikern und HLK-Planern. Neben der klassischen Planung und Projek­tierung (SIA-Phasen 3–5) unterstützen wir auch Assetmanager von institu­tionellen Investoren in der SIA-Phase 6/1 (Bestands­optimierung) oder Projektentwickler bei Machbarkeitsstudien in der SIA-­Teilphase 21 sowie Verfahrensbegleiter von Wettbewerben (SIA-Teilphase 22).

Mehr zum Thema in TEC21 13/2024: Dynamische Simulationen als Werkzeug zur Optimierung von Gebäuden

Akeret: In Bezug auf die Bauherrschaft sind wir etwa zu 70 % für die öffentliche Hand und 30 % für private Auftraggeber tätig. Das hat vor allem mit der Grösse der Projekte zu tun, aber auch mit unserer firmeninternen Organisation. Bei öffentlichen Grossprojekten wie Spitälern, Universitäten oder auch Schulen tritt Gruner als Planer mit unterschiedlichem Dienstleistungsspektrum auf. Die Bauklimatikabteilung – wo wir tätig sind – ist ein Bestandteil der Gebäudetechnik. Ein Grossteil der Aufträge kommt aus einer Allokation der entsprechenden Kompetenzen inhouse zustande: An der Planung von Grossprojekten sind immer Fachleute aus den Bereichen Bauphysik und Gebäudetechnik beteiligt und bringen oft auch ihre Simulationskompetenzen mit. Somit werden die zugehörigen Fragestellungen innerhalb des Teams nach Stärken aufgeteilt und bearbeitet. Das ergibt doppelt Sinn, weil die beteiligten Personen bereits ins Projekt involviert sind, die Kommunikationswege kurz sind und die Zusammenarbeit erheblich ver­einfacht wird. Ebenso können Synergien genutzt, Kosten gesenkt und die Qualität verbessert werden.

Variieren die angefragten Dienstleistungen je nach Auftraggeber? Und welche Ziele stehen dabei im Vordergrund?

Akeret: Ich würde sagen, sie variieren eher nach Planungsphase und weniger nach Auftraggeber. Der Auftraggeber beziehungsweise Bauherr möchte letztlich ein effizientes und funktionierendes Gebäude.
Im Projektteam auf Ebene Planer kann es durchaus unterschiedliche Ziele geben. Als Beispiel: Der Tageslichtplaner oder Architekt will ein Maximum an Tageslicht, der Bauphysiker eine sehr gute Raum­akustik und der Gebäudetechniker ein möglichst be­hagliches Raumklima. Das kann zu Konflikten führen, weil grosse Glasflächen einen Einfluss auf das Raumklima, die Energie und die Akustik haben. Eine dynamische Simulation setzt genau hier ein, berücksichtigt das Zusammenspiel aller Gewerke und ist ein objektives Werkzeug, um die optimale Lösung zu finden.

Frey: Wir unterstützen unsere Auftraggeber im Kontext Energie, Klima, Komfort und Nachhaltigkeit. Diese benötigen naturgemäss höchst unterschiedliche Ergebnisse und erfordern die Betrachtung diverser Anwendungsfälle. Je nachdem werden unsere Analysen, Simulationen und Bewertungen zur Qualitätssicherung, Qualitätssteigerung und Risikoanalyse in der Konzeptermittlung, im Variantenvergleich, bei der Dimensionierung von Bauteilen und Anlagen sowie in der Nachweisführung oder zwecks Optimierung eingesetzt.

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Akeret: Optimierungsfragen rein in Bezug auf Energie- oder Nachhaltigkeitsthemen – zum Beispiel elektrischen Energieverbrauch oder CO2-Ausstoss – sind noch eher eine Seltenheit. Trotz wachsender Bedeutung von Energie- und Nachhaltigkeitsthemen liegt der Fokus in der Praxis meist auf der Bewilligung der Projekte und der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften. Darüber hinaus passiert noch wenig und die Auftraggeber sind selten bereit, zusätzliches Honorar zu sprechen, um das Gebäude tiefgreifend bis auf Ebene der Anlage zu optimieren. Meistens begnügt man sich mit der Erfüllung der gesetzlichen Mindestanforderungen. Daher sind Zertifikate wie SNBS (Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz) oder Minergie wichtig, da sie einen grösseren Fokus auf die Nachhaltigkeit legen und auch explizit Simulationen fordern.

Welchen Anteil machen bei Ihren Projekten Neubauten aus, welchen Sanierungen des Bestands und Betriebsoptimierungen?

Frey: Mit rund 85 % derzeit noch mehrheitlich Neubauten und Ersatzneubauten. Wir gehen aber davon aus, dass der Anteil an Bestandssanierungen oder Betriebsoptimierungen zukünftig ansteigen wird. Da stehen wir momentan bei rund 10 % beziehungsweise 5 %.

In welchen Leistungsphasen und bei welchen Projektarten macht die Anwendung von Simulationen aus Ihrer Sicht am meisten Sinn; für wen ist dabei der Nutzen am höchsten?

Akeret: Die überwiegende Zahl unserer Projekte bearbeiten wir in den Phasen Vorprojekt bis Realisierung. Der Umfang dieser Simulationen kann einzelne Typräume oder ganze Gebäude mit Tau­senden von Räumen beinhalten. Der Nutzen ist am höchsten, wenn klare Fragestellungen definiert werden und die notwendigen Kompetenzen vorhanden sind. Dies ermöglicht es, gezielte und effiziente Analysen durchzuführen, die praktische und wertvolle Ergebnisse für das gesamte Projektteam liefern.
Natürlich muss auch der Kostenaspekt beachtet werden. Ein Standardgebäude wie ein Ein- oder Mehrfamilienhaus braucht keine dynamische Simulation. Natürlich gibt es Ausnahmen: zum Beispiel Passivhäuser ohne Heizung oder bei Sonderbauweisen, die stark vom Standard abweichen.
Bei grösseren Objekten setzen wir bei der Dimensionierung der Heiz- und Kühlsysteme immer auf dynamische Simulationen, um eine hohe Pla­nungs­sicherheit und Qualität zu erreichen. Auch das Thema Überdimensionierung wollen wir damit aktiv angehen. Dabei handelt es sich um ein grosses Pro­blem, denn sie macht Gebäude nicht unbedingt weniger effizient, aber unnötig teurer. Zur Erläu­te­rung: Die Planenden müssen sich bei der Dimen­sionierung auf Normen stützen, und häufig wird die statische Methode gegenüber der dynamischen Si­mulation vorgezogen, sei es aus Unwissenheit, Kosten- beziehungsweise Zeitdruck oder mangelnder Kompetenz. Damit ist man aus Sicht der Planung zwar auf der rechtlich sicheren Seite, erhält aber oftmals massiv überdimensionierte Bauteile und Anlagen. Kurzum: Ein auf Basis statischer Berechnungen und Normnachweisen geplantes Gebäude erzielt üblicherweise nicht das optimale Ergebnis.

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Simulationen im Dienst der EnergieeffizienzObwohl sich dank dynamischer Gebäudesimu­lationen vielfältige Mehrwerte schaffen lassen, fris-ten sie nach wie vor ein Nischendasein. Das ist angesichts aktueller Forschungsergebnisse und überzeugender Praxisbeispiele umso erstaunlicher. Wir brechen eine Lanze für diese Planungs-methode.

Was kosten Simulationen im Vergleich zum Nutzen für das Projekt, den Bauherrn oder den Betreiber?

Frey: Das durch die Simulation eingesparte Geld übersteigt die Kosten um ein Vielfaches. Wir sprechen hier von einem Faktor 10 bis sogar 100 im Vergleich der eingesparten Investitionskosten zu den Honorarkosten. Trotzdem muss man immer viel Überzeugungsarbeit leisten, damit die Simulation hono­riert wird. Aber aufgrund der Überdimensionierung durch statische Berechnungs­methoden lohnt sich eine dynamische Gebäudesimulation bei grösseren Objekten finanziell immer.

Akeret: Mir fallen spontan mehrere Projekte ein, deren reiner Simulationsaufwand – ohne detaillierte Berichterstattung – sich auf wenige Tausend Franken belief. Natürlich hätte man bei gewissen Untersuchungen auch die Möglichkeit für Abschätzungen mittels vereinfachender Tools; das wurde früher auch vielfach so gemacht. Sicher wäre das im Vergleich zur Simulation auch manchmal schneller – jedoch sehr ungenau. In den meisten Fällen kostet eine Simulation nur unwesentlich mehr, berücksichtigt dafür aber alle Einflüsse und liefert belastbare Zahlen.

Wie erleben Sie das Zusammenspiel von BIM und Simulation in der Praxis?

Akeret: Vor dem BIM-Zeitalter waren umfangreiche Simulationen aufwendig, da es nicht wirklich ein CAD-Austauschformat gab und das Gebäude in der Simulationssoftware manuell nachmodelliert wurde. Das hat sich mit Einführung des BIM-Workflows wesentlich verbessert. Allerdings ist die Qualität der IFC-Modelle immer noch sehr unterschiedlich. Es ist wichtig, dass sich der Simulationsexperte mit den Architekten genau abstimmt, welche Elemente mit welchen Einstellungen exportiert werden sollen. Damit lassen sich fast alle Probleme lösen, die nicht die Modellierung betreffen. Heute ist es uns möglich, jeden einzelnen Raum eines Gebäudes zu simulieren und dabei immer noch kosteneffizient zu sein.

Frey: Da Simulationen gemäss SIA 108 als besonders zu honorierende Leistungen gelten und zudem ohne sinnvolle Integration in eine digitale Planungsprozesskette einen hohen manuellen Arbeitsaufwand bedeuten, werden leider viele Opportunitäten aus Kostengründen nicht genutzt. Ich stelle immer wieder fest, dass viele Anwender zwar eine hohe Fachkom­petenz in der Anwendung und Durchführung von Simulationen besitzen, aber nicht in durchgehenden Prozessen denken und die Schnitt­stellen im Pre- und Postprocessing nicht adäquat adressieren können. Meiner Meinung nach resultiert daraus eine mangelhafte Prozessintegration von Simulationen als Bestandteil einer digitalen Planungsprozesskette. Dies wird dann oftmals BIM in die Schuhe geschoben, ist aber eher in einer ungenügenden Bestellerkompetenz des Simulationsspezialisten begründet.

Sehen Sie in Zukunft noch weitere Einsatzgebiete für dynamische Simulationen? Wie liesse sich deren Anwendung noch steigern?

Akeret: Meines Erachtens müsste bei grös­seren Objekten die Auslegung der Wärme- und Kälte­erzeuger ausschliesslich mit dynamischen Simula­tionen erfolgen. Dafür bräuchte es aber eine explizite Bestellung seitens der Bauherrschaft oder eine Anpassung der Normen.
Ein anderes grosses Thema ist die Betriebs­optimierung: Nach Abschluss der Arbeiten wird das Gebäude übergeben. Wie dieses wirklich performt und ob die energetischen Kennzahlen erreicht werden, wird oft nicht überprüft. Fakt ist, dass ein Grossteil der Anlagen nicht optimal läuft. Mit einem Monitoring der Anlage im Betrieb und dem Vergleich mit Kennzahlen aus der Gebäude­simulation – Stichwort: Performance-Gap-Analyse – kann die tatsächliche Energieeffizienz festgestellt und optimiert werden. Hier ist ein riesiges Potenzial vorhanden.
Es muss vermehrt Aufklärungsarbeit geleistet werden, damit Entscheider vom Mehrwert der Simulation überzeugt sind und diese in ihren Projekten bestellen. Dazu haben wir mit anderen Fachexperten aus der Branche den Verein Gebäudesimulation Schweiz gegründet, der Bauherrschaften, Behörden und Fachplanenden bei Fragen zu Simulationen zur Seite steht. Ein anderer Hebel sind die gesetzlichen Vorschriften oder Planungsrichtlinien, damit Simulationen zu einem Standardwerkzeug in der Planung werden. Solche Änderungen brauchen natürlich viel mehr Zeit. Es bleibt also spannend.

David Akeret, BSc FHO in Energie- und Umwelttechnik, ist Projekt­ingenieur Digitale Planung und Spezialist für Simulationen bei Gruner in Köniz.
 

Manuel Frey, B. Eng. in Gebäudeklimatik, ist Abteilungs­leiter Digitale Planung / Bauklimatik bei Gruner in Köniz.

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