Ein Dorf wird Ha­fen­stadt

Kulturhistorischer Rückblick

Kleinhüningen ist nicht nur ein Hafen: Das ehemalige Fischerdorf schaut auf eine bewegte Geschichte zurück. Die Etappen seiner Entwicklung sind bis heute ablesbar. Dadurch erhält das Quartier ein spezifisches Gesicht und eine eigene Identität.

Publikationsdatum
12-05-2016
Revision
24-05-2016

In wohl keinem anderen Basler Stadtquartier sind die Kontraste stärker ausgeprägt als in Kleinhüningen: alte Wohnhäuser samt schmucker Kirche, markante Silo- und Lagerhausbauten entlang der Hafenbecken I und II, weit­verzweigte Gleisanlagen, Industrieareale, Brücken, Tankbehälter und Containerberge, dazwischen Arbeiterhäuschen und Wohnblöcke. Eine dichte, heterogene und daher auch typisch städtische Packung; nicht so ganz schweizerisch, jedenfalls aber mit verborgenem Charme, der sich erst bei genauem Hinschauen offenbart.

Zwischen Wiese und Rhein

Es verwundert nicht, dass im Mündungsgebiet der ­Wiese in den Rhein einst ein Dorf gegründet wurde. Dass die Gründer die Hunnen waren, darf längst als Mär gelten; aber vielleicht kamen ja die Ungarn, als sie 917 Basel plünderten, bis hierher. Die Volksetymologie hat dies nicht so genau genommen, während freilich archäologische Funde auf eine viel frühere Besiedlung hinweisen. Jedenfalls befand sich hier einst eine idyllische Flusslandschaft mit Schwemmterrassen, mäandrierenden Rheinarmen, Inseln und Sandbänken.

Das fruchtbare Gebiet war ideal für den Gemüse- ­und Obstanbau, für das Vieh gab es ausgedehnte Weide­flächen. Und es gab reiche Fischvorkommen in Rhein und Wiese, was immer wieder zu Zwistigkeiten zwischen den Kleinhüninger Fischern und ihren elsässischen Berufsgenossen führte.

Unruhige Zeiten

Kleinhüningens neuere Geschichte begann 1640, als Basel auf Vermittlung des damaligen Bürgermeisters Johann Rudolf Wettstein das Dorf für 3500 Reichstaler von Markgraf Friedrich V. von Baden-Durlach erwarb. Damals umfasste Kleinhüningen kaum mehr als zwanzig Häuser. Meist waren es ein- und zweigeschossige Fachwerkhäuser, die sich entlang der noch heute so benannten Dorfstrasse aufreihten. 1710 erhielt das Dorf einen barocken Kirchenneubau, um 1760 liess der Basler ­Peter Gemuseus einen stattlichen Landsitz errichten, das spätere Clavel’sche Gut, das heute als Restaurant Schifferhaus gehobene Gastronomie bietet. 

Als Frankreich infolge des Westfälischen Friedens 1648 bis an den Rhein vorrückte, wurde das Gebiet um Kleinhüningen zum Dreiländereck. Der von Ludwig XIV. ab 1679 veranlasste Bau der Grenzfestung Huningue durch Festungsbaumeister Vauban setzte klare Zeichen. Tatsächlich folgten kriegerische Zeiten, und immer wieder schlugen fehlgeleitete Kanonen­kugeln und Granaten im Dorf ein. Die fortwährenden Auseinandersetzungen endeten 1815 mit der Niederlage der französischen Truppen, und noch im Winter des gleichen Jahres wurde die Festung Huningue gesprengt. Für Kleinhüningen war die stetige Bedrohung nun gebannt, und es folgten ruhige Jahrzehnte.

Von der Dorfidylle zum Arbeiterquartier

Kleinhüningen unterschied sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht von anderen Dörfern. Landwirtschaft, Handwerk und Fischfang sorgten für ein gutes, wenn auch bescheidenes Leben. Das Bild einer friedlichen und naturnahen Idylle entstand wohl in erster Linie bei Basler Bürgern, und so wurde der Ort immer beliebter als Ausflugsziel, um hier zu spazieren und anschliessend in einem der traditionsreichen Gasthäuser reichlich Fisch zu essen. Seit 1897 gelangte man auch bequem mit der neu eröffneten Tramlinie hierher, die direkt im Dorfzentrum endete.

Interessant wurde die Gegend um Kleinhüningen gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber auch als Industriestandort. 1893 begann die Basler Chemische Fabrik Bindschedler hier Farbstoffe und pharmazeutische Spezialpräparate herzustellen, 1908–1910 folgten ein Filialbetrieb der Gesellschaft für Chemische Industrie in Basel, der nachmaligen CIBA, und die Färberei Schetty. Aus Letzterer ging 1917 die Basler Stückfärberei AG («Stücki») hervor, auf deren Fabrikareal heute ein Einkaufszentrum steht. 

Die Industrialisierung führte auch zu einem markanten Zuwachs der Einwohner Kleinhüningens und zu einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Zwischen 1850 und 1900 verdreifachte sich die Einwohnerzahl auf rund 1900. Kleinhüningen wurde zu einem eigentlichen Arbeiterdorf – gross, aber arm, sodass die Dorfbehörden 1891 zum ersten Mal eine Vereinigung der Landgemeinde mit der Stadt Basel erwogen.

1908 wurde diese dann Tatsache. Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Industrialisierung in Kleinhüningen um 1930, als die Gasfabrik vom St. Johann an die Neuhausstrasse verlegt wurde. Sie sollte das Gebiet mit ihren beiden mächtigen Kokereitürmen über Jahrzehnte hinweg prägen. Mit der Umstellung auf Erdgas 1970/71 wurde die Gasfabrik geschlossen.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist Kleinhüningen dann aus unterschiedlichen Gründen immer mehr zum industriellen Randgebiet geworden. Im Zug von Reorganisationen, Abwanderungen und Schliessungen von Betrieben gingen zahlreiche Arbeitsplätze verloren. Ein Arbeiterquartier ist Kleinhüningen heute immer noch. Mittlerweile aber sind es aufgrund der internationalen Durchmischung der Bevölkerung weniger klassenkämpferische Themen, die bewegen, sondern eher die komplexen Fragen von Migration und Integration.

Die Hafenstadt der Schweiz

Die einschneidendsten Veränderungen in Kleinhüningen zeitigte der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Bau des Rheinhafens. Das Grossprojekt des Hafenbaus wurde ab 1914 unter der Gesamtleitung des Ingenieurs Oskar Bosshardt in Angriff genommen, nachdem der Pionier der schweizerischen Rheinschifffahrt Rudolf Gelpke 1903 bewiesen hatte, dass der Gütertransport zu Wasser bis nach Basel möglich war.

Verzögert durch den Ersten Weltkrieg begannen die Arbeiten 1919 mit dem Aushub des Hafenbeckens I. Bereits im August 1922 ging hier der erste Schleppzug vor Anker. Parallel zum Bau des Beckens, das auch heute noch das Herzstück des Hafens ist, wurden die ersten Silo- und Lagerhausbauten errichtet – darunter das 1926 fertiggestellte Bernoulli-Silo an der Hafenstrasse 7 – sowie eine umfangreiche Infrastruktur aus Krananlagen, Gleisen, Strassen und Brücken.

Entlang des Rheins entstand der Westquai, der vor allem als Lager- und Umschlagplatz für Kohle diente, desgleichen der Klybeckquai, der v. a. auch für die Lagerung von Flüssiggütern vorgesehen war. Das bereits viel früher geplante Hafenbecken II wurde 1936–1939 gebaut und nach dem Krieg in Betrieb genommen. Zwischen 1950 und 1970 wurde die Anzahl der Silos, Umschlag- und Lagerhallen auf den heutigen Bestand erweitert.

Eine ingenieurtechnische Pionierleistung war der 1952/53 errichtete Umschlaghof an der Hafenstrasse mit seinem 32 m über das Hafenbecken auskragenden Dach in vorgespanntem Beton. Es sind insbesondere die Silos und Lagerhäuser an der Hafenstrasse, die trotz Umbauten und Ergänzungen auch heute noch ein für die Schweiz einzigartiges Gebäudeensemble bilden: architektonisch und typologisch, aber auch technik- und wirtschaftsgeschichtlich.

In die Enge getrieben

Mit dem Bau des Hafens und seinem fortschreitenden Ausbau geriet das einstige Dorf Kleinhüningen immer stärker in Bedrängnis. Eindrücklich ist dies auf historischen Fotografien zu sehen, die ein Dorf zeigen, dessen Umland einfach abgeschnitten wurde. Auch der direkte Zugang zu den Ufern von Rhein und Wiese wurde zunehmend verunmöglicht und damit das Fischen stark eingeschränkt. Dies spielte aber nicht wirklich eine Rolle, da vor allem in der Wiese die Fischbestände aufgrund der Emissionen von Färbereien und Chemie­fabriken drastisch zurückgegangen waren.

Mit dem Bau des Hafenbeckens II verschwanden die letzten Bauernbetriebe Kleinhüningens, der weitläufige Landschaftsgarten des Clavel’schen Guts wurde mit Gleisan­lagen und Strassen überbaut. Das heutige Schifferhaus war der bei Weitem repräsentativste grossbürgerliche Landsitz in Kleinhüningen und hatte sich unter der Fabrikantenfamilie Clavel ab 1859 zu einem gesellschaftlichen Zentrum in den Anfängen der chemischen Industrie Basels entwickelt. 1943 kaufte es die Schweizerische Reederei und richtete darin ein Heim für ihr Schiffspersonal ein. 1958 folgte gleich daneben das Schifferkinderheim, in dem schulpflichtige Kinder von Schiffern wohnten; ihre Ferien verbrachten sie auf dem Schiff. 

In der Zeit der Boomjahre nach dem Zweiten Weltkrieg mussten weitere alte Dorfbauten neuen Silos, Lagerhäusern oder gesichtslosen Neubauten weichen, sodass sich Ende der 1970er-Jahre lokaler Widerstand gegen die fortschreitende Zerstörung des Dorfs for­mierte. Die Initiative versandete jedoch wieder. Auch Denkmalpflege und Ortsbildschutz hatten Kleinhüningen damals noch nicht wirklich erreicht; immerhin wurden die verbliebenen historischen Bauten in einem Inventar erfasst.

Vom ursprünglichen Dorf Kleinhüningen ist letztlich wenig übrig geblieben. Einzig zwischen der Dorfkirche und der Pfarrgasse gruppieren sich einige historische Bauten, die noch die einstige Siedlungsstruktur erahnen lassen. Erhalten ist auch das Bauernhaus der einst tonangebenden Fischerfamilie Bürgin. Das auf das 18. Jahrhundert zurückreichende Gebäude war von der Zerstörung bedroht, wurde 1999 an seinem alten Standort abgetragen und im Garten des Schifferhauses wiederaufgebaut.

Containerburgen statt Kohleberge

Schifffahrt, Hafenwirtschaft und Warentransport haben in den letzten Jahrzehnten weitreichende Veränderungen erfahren. Anfang der 1970er-Jahre wurden in Kleinhüningen am Hafenbecken I die ersten Container umgeschlagen; in der Folge wurde ein erster Contai­ner-terminal errichtet, kurz darauf folgte ein zweiter
am Hafenbecken II.

Die zunehmende Präsenz von Con­tainern im Rheinhafen ging einher mit dem Wegfall der charakteristischen Kohleberge. Einerseits hatte Erdöl als Energieträger immer mehr an Bedeutung gewonnen, andererseits wurde mit der Umstellung auf Erdgas 1970/71 die Gasfabrik geschlossen.

Der Wandel im Warentransport und neue, globalisierte Marktabwicklungsmechanismen setzten auch die traditionsreichen Reedereien und Transportunternehmen unter Druck. 1975 fusionierte die Schweizerische Reederei mit der Neptun zur Schweizerische Reederei und Neptun AG (SRN), um sich besser für die Zukunft zu rüsten. Der Niedergang der schweizerischen Rheinschifffahrt ­hatte jedoch bereits begonnen.

Nach dem Umbau der traditionsreichsten und grössten Schweizer Reederei in eine internationale Logistikfirma bestand die Flotte der SRN im Jahr 2000 nur noch aus wenigen Schiffen. Der im gleichen Jahr erfolgte Verkauf an die deutsche Rhenus war dann, wie die lokale Presse kommentierte, ein «folgerichtiger Schritt», um in den globalen Marktmechanismen bestehen zu können. Ausgedient hatten damit aber auch die letzten «roten Schweizer» – die Schiffe der SRN, so benannt nach ihrem in markantem Rot gestrichenen Schanzkleid mit Schweizerkreuz, das weithin für herausragende Unternehmenskultur stand.

Noch gibt es in Kleinhüningen Schiffer, die über Jahre hinweg als Matrosen, Maschinisten oder Schiffsführer auf dem Rhein oder zur See unterwegs waren. Die schiffische Kultur pflegen sie im Schifferverein Basel-Kleinhüningen und im Seemanns-Club der Schweiz. Oder sie sind Aktivmitglied im Seemannschor «Störtebekers».

Verheissungsvolle Randlage

Vieles hat sich verändert in den letzten Jahren in Kleinhüningen: die Hafenwirtschaft, die Waren, aber auch die Wahrnehmbarkeit der Menschen, die hier für weltweit agierende Unternehmen tätig sind. Prägten einst zahlreiche Hafenarbeiter und Schiffsleute das Gebiet, so sind es jetzt nur mehr wenige Menschen, die Maschinen bedienen oder mittels Krananlagen-Container ­verschieben.

Arealplanungen und Nutzungsvisionen, Zukunftsszenarien und Aufwertungsstrategien beschäftigen heute die Planungsbüros, vermögen Wirtschafts- und Immobilienstrategen zu begeistern – oder lösen bei der lokalen Bevölkerung Widerstand aus. Kleinhüningen ist schon längst zu einem grossen Entwicklungsareal auf dem kleinen Kantonsgebiet ­geworden. Zu hoffen bleibt da nur, dass dereinst noch etwas von früher bestehen bleibt: heterogene, ungestaltete Nischenbereiche, die an den rauen Charme der Industriearchitektur und der Welt der Schifffahrt erinnern.

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