«Entscheidungsprobleme werden in der gängigen Wettbewerbspraxis ignoriert»
Leserbrief
Die Diskussion um den offenen Wettbewerb schlägt weiter Wellen. Eine Replik auf den Leserbrief «Differenzierte Kritik lässt sich durch mathematische Tüftelei nicht ersetzen» in TEC21 5/2020.
Herrn Laffranchi ist in seinem Leserbrief in vielem zuzustimmen. Doch seine Argumentation gegen Methodenanwendungen bei Wettbewerben zeigt, dass er auf diesem Gebiet keine Ahnung hat. Dabei weiss ich, dass er mit seinen Vorurteilen gegen Methoden keinesfalls allein dasteht. Demgegenüber konnte ich mit zahlreichen Projekten belegen, welche grossen Vorteile allgemeine Methoden, richtig angewandt, für die kreative Suche nach Lösungen und für Bewertungen bringen können. Beispiele dafür bilden in Zürich eine Richtplanung für die ETH auf dem Hönggerberg und das bauliche Konzept für das kantonale Zeughaus oder in Bern das Konzept für die Gestaltung des Bundesplatzes. Weitere Beispiele beschrieb ich in zwei Büchern, die im vdf Hochschulverlag an der ETH Zürich erschienen.1
Bei allen Entscheidungsprozessen, dazu gehören auch Jurierungen von Wettbewerbsbeiträgen, gilt es zweierlei zu unterscheiden: die Informationsgewinnung und die Informationsverarbeitung.
Für die Informationsgewinnung benötigt man ohne Frage das Wissen und die Diskussion von Fachleuten. Städtebauliche Aspekte lassen sich zum Beispiel nicht in Zahlen quantifizieren. Wer das tut, macht methodischen Unfug. Völlig falsch ist aber auch anzunehmen, methodische Bewertungsverfahren bedingten solche Zahlenspielereien. Was aber Sinn macht, ist, Urteile von Fachleuten, etwa zur Funktionalität, in Zahlen umzusetzen. Das entspricht Benotungen in Schulen, etwa zu einem Deutschaufsatz. Zahlen haben hier den grossen Vorteil, sich nicht hinter schwammigen Worten verstecken zu können. Diese Unsitte ist bei Architekturwettbewerben, wie ich als Preisrichter immer wieder erleben musste, leider sehr üblich.
Die schwammigen Worte kommen auch bei der Bekanntgabe von Beurteilungskriterien im Rahmen der Ausschreibung sehr oft vor. Demgegenüber müsste eigentlich vorab eine intensive und differenzierende Zieldiskussion und auch Zielgewichtung stattfinden. Methoden der Zielanalyse könnten dabei sehr helfen, sind aber im Architektur- und Bauingenieurwesen weitgehend unbekannt. Das ist sehr bedauerlich, weil ja die Beurteilungskriterien entscheidend dafür sein sollten, wie die Wettbewerbsbeiträge bewertet werden und wer am Schluss Preisträger wird.
Ein grosses Problem der Informationsverarbeitung bei den Jurierungen bildet die Komplexität der Bauaufgaben. Daraus resultiert eine Vielzahl an Aspekten, die bei einer Urteilsbildung gleichzeitig (nicht nacheinander) zu berücksichtigen sind. Hier zeigen nun etliche Untersuchungen, zum Beispiel vom bekannten Gehirnforscher Gerhard Roth, dass das menschliche Gehirn höchstens fünf Aspekte gleichzeitig abwägen kann.
Liegen Erkenntnisse zu 20 und mehr wichtigen Aspekten vor – bei Bauaufgaben die Regel –, scheitern wir ohne geeignete Hilfsmittel daran, diese Einzelurteile angemessen und klar nachvollziehbar zu einem Gesamturteil zu integrieren. Natürlich entwickelten erfahrene Preisrichter Verfahren, wie man dieses Bewertungshandicap reduzieren kann. Auch kommt ihnen die Intuition zu Hilfe. Beseitigen kann man das Problem aber ohne methodische Hilfe nicht, zumal die Intuition keine nachvollziehbare Begründung liefert.
Diese Entscheidungsprobleme werden in der gängigen Wettbewerbspraxis leider in der Regel ignoriert. Einseitige, ungerechte und oft zu wenig überzeugende Wettbewerbsergebnisse sind die Folge. Mit geeigneten methodischen Verfahren, etwa der Nutzwertanalyse, lässt sich demgegenüber dieses Problem nachweislich befriedigend lösen. Doch dafür muss man solche Methoden theoretisch und praktisch beherrschen.
Da diese Voraussetzung heute nur selten gegeben sind – es besteht dafür weder an den Hochschulen noch im Rahmen des SIA ein Ausbildungsangebot –, muss ich Herrn Laffranchi am Schluss doch noch teilweise Recht geben und empfehlen: Lieber keine Methoden anwenden, wenn man diese nicht beherrscht. Doch die Herausforderung bleibt, wissenschaftlichen und praktischen Anforderungen genügende Bewertungsverfahren bei Wettbewerben einzusetzen. Auf diesem Feld hätte der SIA eine wichtige Aufgabe wahrzunehmen.
Anmerkung
1 Die beiden erwähnten Bücher aus dem vdf Hochschulverlag an der ETH Zürich heissen:
– Handbuch Planungserfolg (Zürich 2005)
– Erfolgreich planen im Bau- und Immobilienwesen (Zürich 2013)
Darin sind auch zahlreiche praktische Beispiele aus dem Bauwesen dokumentiert.