«Etablierte, nachhaltige Bauweisen sind nicht teurer»
Barbara Sintzel, Präsidentin der SIA-Kommission für Nachhaltigkeits- und Umweltnormen (KNU), über die Aufgaben der Kommission, die Ziele des SIA-Aktionsplans, wo sie den grössten Hebel zur Treibhausgasreduktion sieht und warum nachhaltiges Bauen wirtschaftlich sein kann.
Frau Sintzel, Sie stammen aus einer Ingenieursfamilie und schnupperten bereits als Kind Baustellenluft. Ist das der Grund, warum Sie sich heute für Nachhaltigkeit und Klimaschutz in der Bau- und Planungsbranche engagieren?
Barbara Sintzel: Ja, das Bauen hat meine Kindheit tatsächlich geprägt. Mein Vater war Bauingenieur und nahm mich gelegentlich auf Baustellen mit. Dort war immer viel los und ich staunte über die riesigen Fahrzeuge. Mit der Zeit erlebte ich die Kehrseiten der Bauwirtschaft. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, wurden Ende der 1980er- bis in die 1990er- Jahre die Obstgärten überbaut, in denen ich als Kind spielte. Die Erfahrung dieses Verlusts an natürlicher Schönheit und Biodiversität bewog mich dazu, mich den Umweltwissenschaften zu widmen und mich intensiv mit Ressourcenschonung und Klimaschutz zu beschäftigen – beides Themen, die seit den 1990er-Jahren immer wichtiger wurden.
Was genau versteht man unter nachhaltigem Bauen?
Nachhaltiges Bauen basiert auf den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung. Das heisst, es ist eine sorgfältige Abwägung zwischen ökologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen herzustellen. Die Dringlichkeit der Umweltaspekte nimmt dabei zu, beispielsweise bei der Reduktion von Treibhausgasemissionen sowie der Steigerung der Ressourceneffizienz. Aber auch soziale Faktoren spielen eine wichtige Rolle, wie etwa die Sicherstellung fairer Löhne in den Herkunftsländern der Baumaterialien. Man spricht immer öfters auch vom Vorrangmodell der Nachhaltigkeit, in dem Umweltaspekte hinsichtlich anderer Kriterien wie etwa Wirtschaftlichkeit stärker gewichtet werden.
Sie leiten die SIA-Kommission für Nachhaltigkeits- und Umweltnormen (KNU). Warum wurde die Kommission ins Leben gerufen und was sind ihre Aufgaben?
Ich bin 2014 der KNU beigetreten. Es bestand der Bedarf an einer sektoriellen Normenkommission, die sich mit der Weiterentwicklung und Betreuung von Nachhaltigkeits- und Umweltnormen befasst. Dazu gehören Normen wie beispielsweise die SIA 112/1 «Nachhaltiges Bauen – Hochbau» oder die Norm SIA 430, die heute als «Vermeidung und Entsorgung von Bauabfällen» bekannt ist. Die KNU entwickelt diese Normen fortlaufend weiter und erkundet das Potenzial bestehender Normen, um beispielsweise Sanierungen gegenüber Neubauten stärker zu gewichten. Ausserdem arbeitet die KNU im Bereich der indirekten Treibhausgasemissionen eng mit der SIA-Kommission für Gebäudetechnik und Energienormen (KGE) zusammen, die sich mit der Gesamtenergiebilanz des Bauens befasst.
Was hat die KNU bisher erreicht?
Wir haben eine Strategie entwickelt, um jene Bereiche zu identifizieren, in denen wir die grösste Wirkung erzielen können. Dabei haben wir signifikante Lücken in den Nachhaltigkeits- und Umweltnormen entdeckt, die wir schliessen wollen. Als Antwort darauf haben wir eine Checkliste mit Leitfragen zur Nachhaltigkeit erstellt, die den anderen Normenkommissionen zur Verfügung steht. Ausserdem stehen wir kurz davor, das SIA-Merkblatt 2066 «Freiflächen nachhaltig planen, realisieren und bewirtschaften» zu veröffentlichen, das das Potenzial der Umgebung hervorhebt, einschliesslich Massnahmen zur Hitzeminderung und zur Förderung der Biodiversität. Ein weiteres Merkblatt zur Wiederverwendung von Baumaterialien ist in Arbeit. Die KNU ist also stets auf der Suche nach nachhaltigeren Lösungen für das Planen und Bauen, wobei die Sicherheit beispielsweise von Gebäuden ein essenzieller Bestandteil unserer Nachhaltigkeitsbemühungen bleibt.
Hat das Merkblatt 2040 «SIA-Effizienzpfad Energie» nicht die Schwierigkeit gezeigt, Zielvorgaben in der Praxis zu etablieren
Der SIA-Effizienzpfad etablierte sich als wesentlicher Treiber in der Normierung, insbesondere bei der Festlegung von Zielwerten für graue Emissionen. Er diente als Grundlage für Zertifizierungssysteme wie Minergie-ECO und dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS), die zwar eigene Berechnungsmethoden verwenden, jedoch eng an die Vorgaben des Effizienzpfads angelehnt sind. Trotzdem neigen viele Projekte dazu, lediglich die oberen Grenzwerte von Minergie-ECO zu erreichen, ohne den Zielwert des SIA-Effizienzpfads zu erfüllen. Mit der Einführung der SIA-Norm 390/1 «Klimapfad» im Jahr 2025 wollen wir ambitioniertere und strengere Werte setzen, was mit der Zeit auch zu Anpassungen anderer Standards führen wird.
Warum wurde letztes Jahr der SIA-Aktionsplan Klima, Energie und Ressourcen lanciert, obwohl bereits die KNU die Nachhaltigkeit in den SIA-Normen vorantreibt?
Auch wenn die Weiterentwicklung von Normen essenziell ist, ermöglicht uns der SIA-Aktionsplan, den Planungsprozess selbst als effektiven Hebel zu nutzen. Überdies müssen Normen, die nicht sicherheitsrelevant sind, nicht immer erfüllt werden. Bei Sanierungen zum Beispiel dürfen durchaus Abweichungen vereinbart werden, was die Umsetzung erleichtert. Ausserdem müssen wir bei der Bestellpraxis ansetzen und eine klima- und ressourceneffiziente Entwurfslogik entwickeln. Der SIA-Aktionsplan identifiziert und entwickelt also Massnahmen, die zu einer nachhaltigeren Bauwirtschaft beitragen.
Sehen Sie Synergien zwischen der KNU und dem SIA-Aktionsplan?
Ja, denn die Ziele des Aktionsplans und die Aufgaben der KNU sind eng miteinander verknüpft. Sowohl die KNU als auch der SIA-Aktionsplan suchen nach Wegen, den CO2-Ausstoss von Gebäuden zu senken und diskutieren gemeinsam vereinfachte Verfahren oder flexible Lösungen, die es Planenden erlauben, in bestimmten Fällen von der Norm abzuweichen.
Kann nachhaltiges Bauen wirtschaftlich sein?
Pionierleistungen beim nachhaltigen Bauen erfordern oft eine intensivere Planung, die zu zusätzlichen Kosten führen kann. Etablierte, nachhaltige Bauweisen sind aber nicht teurer. Das Lebenszyklusmodell hilft uns zu verstehen, wie sich höhere Anfangsinvestitionen langfristig auswirken. Wenn man von Anfang an auf einfache und klare Entwürfe setzt und beispielsweise die Glasflächen auf 40% beschränkt, können die Baukosten real gesenkt werden. Ebenso könnte man die Untergeschosse auf das Nötigste reduzieren. Dies zeigt, dass Nachhaltigkeit nicht im Widerspruch zur Wirtschaftlichkeit stehen muss – im Gegenteil, Einsparungen bei Materialien führen zu niedrigeren Gesamtinvestitionskosten.