Straff gespannt ohne Pylone
Hängebrücke «la pendenta» in Graubünden
Die flache Konstruktion der neuen Hängebrücke bei Disentis/Mustèr und der Verzicht auf Pylone ermöglichen eine sensible Einbindung in die alpine Landschaft. Durch die enge Verzahnung und die Abstimmung aller Elemente konnten die hohen Kräfte zuverlässig bemessen werden.
Für die Schweiz typisch: Ein kleines Dorf ohne Anbindung an den öffentlichen Verkehr möchte fortbestehen und den Zugang zur Schule und zum öffentlichen Leben verbessern. Die Lösung in diesem Fall war eine Hängebrücke, die am 16. November 2024 in Disentis/Mustér unter dem Namen «la pendenta» feierlich eröffnet wurde.
Sie ist die längste Hängebrücke im Kanton Graubünden und verbindet die Kirche Sontga Gada auf der Seite von Disentis/Mustér mit dem Weiler Mumpé Medel über die Rheinschlucht bei Cuflons hinweg. Ihre Leichtigkeit steht im starken Kontrast zu ihrem Entstehungsprozess.
Überwinden von Hürden
Die Geschichte des Projekts ist eng mit den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung und den begrenzten Ressourcen der Gemeinde verknüpft. Das Dorf Mumpé Medel, das südlich von Disentis liegt, war lange Zeit nur über historische Wege erreichbar. Erst 1972 wurde es durch den ca. 800 m langen Mumpé-Medel-Tunnel mit der Lukmanier-Passstrasse verbunden. Der Tunnel ist allerdings dunkel, eng und für Fussgänger recht gefährlich. Am Ostportal fährt zwar alle zwei Stunden ein Postauto, doch der Zugang ist nach wie vor umständlich und wenig fussgängertauglich. Eine Brücke über die Rheinschlucht sollte die Situation verbessern.
Im Jahr 2018 bewertete der Vorstand der Gemeinde Disentis/Mustér den Antrag des Gemeindeparlaments zum Bau einer Hängebrücke als nicht prioritär. Daraufhin ergriff eine engagierte Interessengemeinschaft, die später in den Verein «la pendenta» mündete, die Initiative für die Realisierung des Projekts.
Mit einem Startkapital von 90 000 Franken, das von der Gemeinde bereitgestellt wurde, schaffte es die IG, die Baubewilligung zu erlangen und das Vorhaben bis zur Umsetzung und Fertigstellung voranzutreiben. Die Gesamtkosten beliefen sich schliesslich auf 2.4 Mio. Franken. Nur 30 % dieser Summe finanzierte die öffentliche Hand.
Im Jahr 2023 musste der Verein eine Finanzierungslücke für den Brückenbau schliessen. Da die Brücke öffentlich zugänglich und kostenlos begehbar sein sollte, beantragte er 390 000 Franken von der Gemeinde. Trotz Zustimmung des Parlaments führte ein Referendum zu einer Volksabstimmung, in der die Bevölkerung die Unterstützung ablehnte. Daraufhin übernahm der Investor der Bergbahnen Disentis den fehlenden Betrag.
Weitere Beiträge kamen von Privatpersonen, Firmen und Institutionen. Kurz vor der Eröffnung sicherte die Stiftung Patenschaft für Berggemeinden die Restfinanzierung, sodass das Projekt schuldenfrei abgeschlossen werden konnte. Nach Fertigstellung schenkte der Verein die Brücke der Gemeinde, die seither für den Unterhalt sorgt.
Die Brücke erschliesst vielschichtig
Die Hängebrücke verbessert die Lebensqualität der Anwohnenden, da sie eine ganzjährige Verbindung zwischen Disentis und dem Weiler Mumpé Medel schafft – zudem sogar einen ganzjährig sicheren Zugang zur Station «Acla da Fontauna» der Matterhorn-Gotthard-Bahn.
Zudem stärkt «la pendenta» den Wandertourismus, da sie Teil der SchweizMobil-Route «Senda Desertina» und der Pilgerroute «Via Francisca del Lucomagno» ist, die auch «Strasse der Kaiser» genannt wird. Diese verbindet Konstanz (D) über den Lukmanierpass mit Pavia (I) und gilt als bedeutender historischer Verkehrsweg. Die Brücke trägt somit zur Wiederentdeckung und Aufwertung dieser geschichtsträchtigen Route bei.
Landschaftliche und technische Herausforderungen
Das Projekt wurde unter strengen Auflagen des Landschaftsschutzes realisiert, da das gesamte Tal auf regionaler und kantonaler Ebene geschützt ist. Daher war eine standortgebundene Planung erforderlich, die sowohl das Landschaftsbild respektiert als auch historische und kulturelle Gegebenheiten einbezieht.
Besonders die älteste Kirche von Disentis, Sontga Gada, die um 1100 vom ansässigen Kloster erbaut wurde und heute unter Denkmalschutz steht, prägte die Rahmenbedingungen. Aus Rücksicht auf das geschützte Ortsbild sollten die Widerlager der Hängebrücke so klein und unauffällig wie möglich sein.
Um die optimale Lösung für diesen sensiblen Kontext zu finden, wurde 2022 eine Brückensubmission ausgeschrieben, bei der vier Offerten eingingen. Die Arbeitsgemeinschaft Jakob Rope Systems, Pfeifer und Von Rotz & Wiedemar setzte sich durch.
Ihr Entwurf überzeugte durch die vollständige Integration in das Landschaftsbild, filigrane Widerlagerkonstruktionen und die Entwicklung eines Tragwerkkonzepts, bei dem die Absturzsicherung tragendes Bauteil ist. Dies ermöglichte eine besonders schlanke Konstruktion, die Kräfte effizient abträgt, ohne die Ästhetik der Umgebung zu beeinträchtigen.
Hängebrücke, straff gespannt
Die Hängebrücke, die den Vorderrhein in einer Höhe von etwa 100 m überquert, ist eine Seilbrücke, die von sechs vollverschlossenen Tragseilen mit einem Durchmesser von jeweils 45 mm getragen wird. Auf den vier unteren Tragseilen ruht der 1 m breite Gehweg, bestehend aus Gitterrosten, die auf Längsträgern aus Abkantblechen (t6, S355) gelagert sind. Diese wiederum liegen auf Querträgern. Die beiden oberen Tragseile dienen auch als Handlauf auf Brusthöhe.
Eine besondere technische Herausforderung war der Höhenunterschied von 15 m zwischen den Widerlagern sowie das geringe Stichmass der Konstruktion – nur 8 m bei einer Spannweite von 270 m (f/l=1/35; maximale Steigung ca. 15 %). Dies führte zu grossen horizontalen Kräften an den Widerlagern, die normalerweise durch den Durchhang von Tragseilen gemindert werden. Ein Pylon hätte diese Kräfte reduzieren können, entsprach jedoch nicht den landschaftlichen Vorgaben.
Die grossen Horizontalkräfte von bis zu 7000 kN an den Widerlagern werden über eine Rückverankerung mit vorgespannten Bodenankern sicher in den Baugrund abgeleitet. Während auf der Seite Mumpé Medel sechs Anker angeordnet wurden, sind es auf der Seite Sontga Gada aufgrund der schlechteren Bodeneigenschaften infolge einer Sandlinse zehn. Die Anker sind jeweils etwa 23 m lang und reichen bis in den tragfähigen Baugrund. Die Stabilisierung gegen Verkippung und die Aufnahme der Vertikalkräfte gewährleisten Mikropfähle.
Zur lateralen Stabilisierung dienen Windabspannseile aus offenen Spiralseilen (Durchmesser 30.9 mm), die über Kopplungsseile (Durchmesser 12–19 mm) mit den Tragseilen verbunden sind. Die Querjoche, an denen sie befestigt sind, verringern ihren Abstand zur Brückenmitte hin von 29 m auf 12 m, um dort die strukturelle Steifigkeit zu erhöhen.
Ein weiteres konstruktives Merkmal ist das seitlich am Gehweg angeordnete Seilnetz (Webnet; Seildurchmesser 2 mm, Maschenbreite 60 mm), das sowohl als durchsichtige Absturzsicherung als auch als aktives statisches Tragelement fungiert. Es leitet Vertikallasten vom Gehweg auf die oberen Tragseile weiter und unterstützt somit den Gehwegträger bei der Aufnahme variabler Lasten, was die Längsbiegung um rund 50 % reduziert. Sein Tragverhalten wurde semi-empirisch ermittelt und in der Bemessung berücksichtigt.
Parametrische Modellierung, Lasttest und Überraschungen
Die Brücke wurde mithilfe parametrischer Modellierung optimiert, einerseits in ihrer topografischen Einpassung und andererseits durch die präzise Platzierung der Querjoche und deren Spannweiten. Dieser Ansatz ermöglichte eine materialeffiziente Konstruktion, die den statischen und dynamischen Anforderungen gerecht wird.
Zur Überprüfung theoretischer Annahmen und Berechnungen des Tragverhaltens unterzog man die Brücke vor der Eröffnung einem Lasttest. Dabei wurden etwa 23 t gleichmässig über die gesamte Brückenlänge verteilt, was eine Flächenlast von 0.9 kN/m2 simulierte. Dies bildet etwa einen Siebtel der maximalen Bemessungslast ab – ein Lastfall, der rund 300 Personen auf der Brücke entspricht.
Gemeinsam mit der Feuerwehr Sursassiala wurden 35 Palettenrahmen auf die Brücke gebracht und mit bis zu 530 l Wasser gefüllt. Der Lastaufbau erfolgte schrittweise: Zunächst wurde asymmetrisch eine Wasserschicht von 30 cm Wasser eingefüllt, bevor diese auf 60 cm erhöht wurde, um unterschiedliche Lastfälle nachzubilden.
An jedem Querjoch dienten 13 fest installierte Prismen als Referenzpunkte für die Messungen. Zunächst wurde eine Nullmessung ohne Last durchgeführt, dann erfolgte eine Echtzeit-Überwachung der Strukturverformungen während des Tests. Die Ergebnisse bestätigten die Bemessung: Die Brücke verhielt sich unter Belastung stabil, und die gemessenen Durchbiegungen wichen maximal um 4 % von den Simulationen ab.
Unerwartet zeigte sich aber eine gewisse Klemmwirkung in den Verbindungen, die sich beim Entlasten der Struktur nicht vollständig zurücksetzten. So stellte man eine bleibende Verformung in der Brückenmitte von rund 130 mm (2 % von f) fest. «Ein Phänomen, das zunächst überrascht hat, sich im Nachhinein jedoch nachvollziehen liess», erläuterte Fabian Graber von der Jakob Rope Systems. Diese Beobachtung stellte eine neue Erkenntnis dar und lieferte wertvolle Hinweise für zukünftige Konstruktionen.
Zur Untersuchung des realen dynamischen Verhaltens wurde in einem separaten Test in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr das Belastungsszenario verschiedener Verkehrsklassen nachgebildet, um den Gehkomfort zu bewerten.
Weder freies Gehen noch Marschieren führten zu einer kritischen Anregung der Struktur, mit Ausnahme gezielt induzierter Torsionsschwingungen des Gehwegs. Erste Erkenntnisse zur Windanregung ergaben, dass die Brücke unter diesen Bedingungen ein stabiles Schwingungsverhalten aufweist.
Der Reigen der Hängebrücken
Trotz der Ablehnung des Kredits versammelten sich über 1000 Menschen zur feierlichen Eröffnung, bei der Schulkinder als Erste die Brücke überquerten. «La pendenta» ist ein Herzensprojekt und zugleich ein weiteres Beispiel für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Schweizer Hängebrücken.
Jedes Projekt dient als Prototyp, aus dem neue Erkenntnisse gewonnen und in zukünftige Konstruktionen übertragen werden – weniger im Gesamtsystem, sondern in der präzisen Verbindung und Optimierung einzelner Elemente, die schrittweise skaliert werden.
Technische Daten
Baujahr 2024
Länge: 270m
Seilstich: 8m
Breite: 1m
Steigung: 0 bis 15%
Höhe: 95m
Typ: Hängebrücke
Tragseile: 6 x VVS, Durchmesser 45mm
Windseile: 2 x OSS, Durchmesser 30,9mm
Kopplungsseile: Durchmesser 12-19mm
Seilnetz: Webnet, Durchmesser 2mm, Maschenbreite 60mm
Netzrandseil oben: Durchmesser 12mm
Netzrandseil unten: Durchmesser 10mm
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Verein la pendenta
Eigentümerin
Gemeinde Disentis/Mustér
Projektleitung
ipz ingenieure + planer ag
Vorprojekt
Casutt Wyrsch Zwicky AG
Ingenieur Hängebrücke
Jakob Rope Systems, Trubschachen
Ingenieur Widerlager und Verankerung
Bigler AG Ingenieure und Planer SIA
Brückenbauer
ARGE Jakob Rope Systems, Trubschachen;
Pfeifer Seil-& Hebetechnik, Memmingen, D;
VonRotz & Wiedemar AG, Kerns
Baumeisterarbeiten
Loretz SA, Sedrun
Bohrmeister
Bianchi Bau, Ilanz
Vermessungsarbeiten
Pini Gruppe AG, Ilanz