Hin­der­nis­frei­er Ver­kehrs­raum

Menschen mit Geh- oder Sehbehinderung, Eltern mit Kinderwagen oder Senioren mit Rollator: Alle wünschen sich einen sicheren und attraktiven Verkehrsraum. Für Planer und Baufachleute ist es nahezu unmöglich, alle Bedürfnisse unter einen zu Hut bringen. Eine Fachtagung im Juni 2013 in Olten hatte zum Ziel, über hindernisfreie Verkehrsräume und die geplante VSS-Norm SN 640 075 zu informieren.

Publikationsdatum
27-06-2013
Revision
25-08-2015

Fussverkehr Schweiz, die Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen und das Bundesamt für Strassen (Astra) luden am 21. Juni 2013 zur Fachtagung «Hindernisfreier Verkehrsraum» nach Olten ein. Rund 140 Personen nutzten die Chance, sich über klug geplante hindernisfreie Verkehrsräume zu informieren. Diese sehen jedoch für jede Nutzergruppe anders aus: Velofahrer und kinderwagenschiebende Eltern wünschen sich zum Beispiel abgeschrägte Randsteine; für Sehbehinderte oder Blinde sind ertastbare Randsteine zwischen Fahrbahn und Trottoir unverzichtbar für Orientierung und Sicherheit; aber Absätze, die höher als vier Zentimeter sind, gelten nicht mehr als rollstuhlgängig.

Um die unterschiedlichen Bedürfnisse beim Bau von Strassen besser einschätzen zu können, haben das Astra und das EBGB (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen) in Zürich mit 60 Probanden sieben Randsteintypen und sechs unterschiedlich ausgestaltete Unterbrüche getestet.1 Die Erkenntnis daraus: Den perfekten Randstein gibt es nicht. Es zeigte sich, dass ertastbare Randabschlüsse nicht gehbehinderten- und velogerecht sind. Generell gilt, dass nicht nur der Randsteintyp, sondern auch die Neigung der angrenzenden Fläche und die Bauausführung (z.B. Belagsüberbau) entscheidend sein können.

Stolperfallen kennen
Die Ergebnisse aus diesem Randsteinlabor sind in den Normentwurf «Hindernisfreier Verkehrsraum» (VSS-Norm SN 640 075)2 eingeflossen. Die Norm ist derzeit in Vernehmlassung und tritt voraussichtlich 2014 in Kraft. Sie soll die seit 2009 bestehende Normierungslücke betreffend Verkehrsraum schliessen (vgl. Kasten). Die Norm enthält Grundlagen und Anforderungen an einen hindernisfreien Verkehrsraum bei Planung, Projektierung, Bau und Unterhalt.  

Die Referenten der Veranstaltung informierten über die Inhalte der Norm. In anschliessenden «Walkshops» wurden kritische Punkte vorgestellt. Sie betrafen die Kennzeichnung von Treppenabgängen, die Steilheit von Rampen, die Möblierung des Aussenraums, die Gestaltung von Haltestellen des öffentlichen Verkehrs oder die Beschaffenheit der Pflasterung in der Innenstadt. Widersprüche zwischen den Anforderungen der verschiedenen Nutzer sind wahrscheinlich. Aspekte der Verhältnismässigkeit und die Güterabwägung zwischen widersprüchlichen Anforderungen werden in der Norm nicht geklärt, sondern sind jeweils projektbezogen durch die zuständigen Instanzen festzulegen. In der Norm wird lediglich darauf hingewiesen, dass im Einzelfall die unterschiedlichen Anliegen und Interessen zu gewichten und im Entscheid angemessen zu berücksichtigen sind. Dies war auch der Tenor bei der Veranstaltung in Olten. Wer sich konkrete Aussagen oder Planungshilfen gewünscht hatte, wurde enttäuscht.

Dass der Umgang mit den Mischverkehrsflächen neben der Verhältnismässigkeit ein Diskussionspunkt bleibt, zeigte sich vor allem bei der abschliessenden Podiumsdiskussion. Plädierten die einen beispielsweise für die Trennung von Fussgänger- und Velowegen, lehnten andere dies ab und appellierten an die gegenseitige Rücksichtnahme auf Mischverkehrsflächen.

Einig war man sich bezüglich des Ansatzes «Design für Alle», das heisst, dass der schwächste Verkehrsteilnehmer massgebend ist. Gelingt es, dies umzusetzen, werden alle davon profitieren. Denn Veränderungen im Lebenszyklus sind unvermeidbar und jeder von uns ist in einer späteren Lebensphase nicht mehr dieselbe Person wie in der vorangegangenen.
 


Anmerkungen/Literatur
1 Testbericht Randsteinlabor: www.langsamverkehr.ch
2 Normentwurf Hindernisfreier Verkehrsraum (SN 640 075): http://www.vss.ch/normung/normen-in-vernehmlassung/
- Forschungsbericht «Hindernisfreier Verkehrsraum – Anforderungen aus Sicht von Menschen mit Behinderung», VSS-Forschungsbericht 1308: http://www.hindernisfrei-bauen.ch/beitrag/96_PDF_VSS1308HindernisfreierVerkehrsraum.pdf
- ECA – Europäisches Konzept für Zugänglichkeit: http://www.fdst.de/w/files/pdf/eca_deutsch_internet.pdf
 


 

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