Kon­tem­pla­ti­on auf An­sa­ge

Ein Ferienhaus aus Ziegelstein

Wie ein Kloster liegt das «Life House» von John Pawson in den Hügeln von Wales. Helle und dunkle Backsteine prägen Gestalt und Innenräume des Ferienhauses. In ihrer handwerklichen Materialität und Schlichtheit vereinen sie zwei begehrte Aspekte: Natürlichkeit und Eleganz. Damit avancieren sie bei Minimalisten zum Baumaterial der Stunde.

Publikationsdatum
07-09-2017
Revision
07-09-2017

Llanbister, idyllisch im Tal des mäandernden River Ithon gelegen, ist eine kleine Siedlung in der walisischen Grafschaft Powys, nah der Grenze zu den englischen Shropshire und ­Herefordshire. Hügel, so weit das Auge reicht, doch die meisten Böden erweisen sich als karg. Das die Landschaft prägende Halten von Schafen oder Kühen ist zumeist zum Nebenerwerb verkommen. Die nächsten Grossstädte sind fern: Birmingham im Osten, Manchester im Norden, Cardiff im Süden. Auch Bahnhöfe finden sich nicht in unmittelbarer Nähe; immerhin 10 Meilen sind es nach Llandrindod Wells, das aufgrund seiner Heilquellen im 18. und 19. Jahrhundert zur Sommerfrische für grossstadtgeplagte Londoner wurde.

Aber diese Zeiten sind lang vorbei. Als «touristisch» ist die Gegend kaum mehr zu bezeichnen, doch immerhin steht hier, umgeben von Viehweiden, etwa zwei Meilen südöstlich von Llanbister seit Jüngstem ein unge­wöhnliches Ferienhaus des britischen Minimalisten John Pawson. Zu erreichen ist das Anwesen über einen Fahrweg, der zunächst einen Hügel erklimmt und dann leicht abschüssig zu den vereinzelten Gehöften und Ställen im Gelände führt. Von aussen erscheint die ­Gruppe von Volumen mit flachgezogenen Satteldächern unscheinbar, nicht auffälliger als die landwirtschaftlichen Nutzbauten in der Umgebung.

Ein Korridor als roter Faden

Was von Weitem wie ein beiläufiges Arrangement von kleinen Baukörpern wirkt, ist in Wirklichkeit eine wohlkalkulierte orthogonale Komposition von Räumen, die über einen langen, rechtwinklig abknickenden Korridor erschlossen werden. Diesem sonst so ungeliebten Raum kommt hier nicht nur die Bedeutung einer Verbindungsachse, sondern auch die des Abstandhalters zwischen den einzelnen Räumen zu. Das Spiel mit Enge und Dunkelheit gegen Weite und Licht wird hier ausgereizt und zum Charakteristikum des Hauses.

Eine Aussenhaut aus kohlegeschwärzten Backsteinen, die leicht ins Bräunliche changieren und in einem helleren Grau verfugt sind, überzieht das Ensemble und verankert es in der kargen Natur. Das fleckige Fassadenbild lässt diverse Nachbearbeitungen erkennen. Der in den Hügel hineingegrabene Teil des Korridors mündet in einer ebenfalls anthrazitfarben ausgekleideten und zenital belichteten «Contemplation Chamber».  In ihrem Boden ist genau unter dem Lichtschein eine Platte mit einem Satz aus Pascals «Pensées» in Versalien eingelassen: «All men’s miseries derive from not being able to sit in a quiet room alone.» Zwei Liegen an den Seiten laden die Gäste dazu ein, das ­Gegenteil zu beweisen. Ähnlich einer Grabkammer ist dieser Ort von der Aussenwelt abgewandt und nur durch das Oberlicht erhellt.

Die Innenwände im talseitigen Teil des Korridors sind – wie auch in sämtlichen Wohnräumen – mit hellem weissgrauem Backstein verkleidet. Der sich zur Landschaft öffnende Flur ist von Fenstern durchbrochen und endet an einer Glastür. Eine «Outside Contemplation Zone» als gemauerte Plattform bildet als sein Abschluss das Pendant zur schwarzen Medita­tionskapelle.

Autarke Wohnzellen mit Nachbarn

Zwischen diesen beiden Polen spannen sich die eigentlichen Wohnbereiche als vier separate Volumen auf. Deren grösstes ist die Wohnküche an der Gelenkstelle der beiden Korridorhälften. Des Weiteren existieren drei mit eigenen Bädern versehene Schlafräume, die jeweils ein bestimmtes Thema haben: Im «Library Bedroom» stehen ausgewählte, eigens gebundene Bücher zur Verfügung, deren Lektüre die therapeutische Intention des Hauses unterstützen mag; im «Music Bedroom» übernimmt eine Auswahl von CDs diese Funktion. Der «Bathing Bedroom» hingegen ist mit einem frei im Raum stehenden Badewannenaltar der körperlichen Entspannung gewidmet.

Die Bewohner können sich jeweils ganz für sich in einem der Räume aufhalten. Wenn sie Gesellschaft suchen, bewegen sie sich entlang der Achsen zu dem zentralen gemeinschaftlichen Bereich von Küche, Ess­platz und Wohnraum. Die Komposition aus Wegen und Aufenthaltsräumen erinnert an Kreuzgänge und Klosterzellen, was den Eindruck einer sakralen Architekturidee verstärkt.

Neben dem Ziegelstein der Wände bestimmen zwei weitere Materialien das Innere: geschliffener weis­ser Terrazzo als Bodenbelag sowie helles Douglasienholz für Einbauschränke, Regale und Deckenverkleidungen. Nichts im Innern wurde dem Zufall überlassen, Einrichtungsgegenstände entweder eigens entworfen oder sorgfältig ausgewählt. So ist ein Interieur entstanden, dessen Stimmigkeit zweifelsohne beeindruckt, das aber in seiner Konsequenz auch ein wenig beklemmend wirkt. Durch die direkte Verwendung der ausgewählten Baustoffe wird einem Purismus gehuldigt, der auch dem Gast nicht viel Spielraum lässt. Hier geht es offensichtlich mehr um Konzentration und innere Einkehr als um Entfaltung und Vergnügen.

Ästhetische Übung in den Ferien

Das sogenannte «Life House» gehört der Stiftung «Living Architecture», die für ihr Ziel mit dem Slogan «Holidays in modern architecture» wirbt und von Alain de Botton ins Leben gerufen wurde. Als Essayist hat sich der in London lebende Schriftsteller und Philosoph mit Schweizer Wurzeln einen Namen mit Büchern gemacht, die zwischen kulturkritischer Analyse und niveauvoller Ratgeberliteratur oszillieren. In einem zunehmend hektischen und entfremdeten Leben weist er der Architektur darin eine kompensatorische Rolle als Rückzugsort zu. Doch gerade in England, so führt de Botton gern aus, sei die Vorstellung vom Wohnen traditionalistisch und retrospektiv geprägt, als habe sich seit der Zeit von Jane Austen nichts verändert. Dem Dilemma des Schriftstellers, neue Ideen zwar zu denken, aber nicht umsetzen zu können, wollte er durch die Gründung von «Living Architecture» begegnen. Seit 2010 errichtet die Stiftung Ferienhäuser, die die Mieterinnen und Mieter von der Qualität zeitgenössischer Architektur überzeugen sollen.

So nachvollziehbar de Bottons volkspädagogischer Impuls ist, Breitenwirksamkeit wird seine Stiftung wohl kaum erreichen. Am Ende bedient sie eine designaffine Klientel, die statt in einem Boutiquehotel in der Stadt nun in einem mit Architektenlabel ver­sehenen Haus in der Landschaft Urlaub macht. Eine Hemmschwelle dürften auch die Preise darstellen: Wer das «Life House» in diesem Sommer buchen möchte, zahlt für eine Woche 2550 Pfund. Die Stiftung wird zwar nicht müde zu betonen, dass der Mietpreis sich bei voller Belegung relativiere, doch schlägt das für sechs Personen ausgelegte «Life House» pro Kopf und Nacht dann immer noch mit 60 Pfund zu Buche.

Bei der Idee von «Living Architecture» stand gemäss Alain de Botton der «Landmark Trust» Pate. Die seit 1965 bestehende Stiftung sorgt für den Erhalt historischer Baudenkmäler, indem sie sie in Feriendomizile umwidmet. Auch wenn «Living Architecture» keine künstlichen Ruinen baut: Das Spektrum der beteiligten Architekten ist breit gefächert, die Vorstellungen vom Wohnen sind unterschiedlich und undogmatisch. Sieben Projekte hat «Living Architecture» bislang realisiert.

Es begann im Jahr 2010 mit der «Balancing Barn» von MVRDV in Suffolk, einem wie extrudiert wirkenden Urhaus in Stangenform, das zur Hälfte frei über einem Abhang schwebt. Doch nicht alle teilnehmenden Architekten sind internationale Stars. Die Ironiker von FAT aus London waren zusammen mit dem Künstler Crayson Perry für das «House for Essex» verantwortlich, das junge schottische Büro Nord Architecture errichtete «The Shingle House» in Kent. Und wenn alles gut geht, gelangt in diesem Jahr auch das wohl publizitätsträchtigste Projekt zum Abschluss: «The Secular Retreat» von Peter Zumthor in der Grafschaft Devon.

Ziegel als Symbol des Einfachen

Mit John Pawson fiel für Llanbister die Wahl auf den wohl konsequentesten Verfechter eines ästhetischen Purismus und Minimalismus in der britischen Architektur. 1949 in Yorkshire geboren, hatte er einige prägende Jahre in Japan verbracht, bevor er nach einem abgebrochenen Architekturstudium in den Neunzigerjahren durch radikal reduziertes Shopdesign, etwa für das Label Calvin Klein, in Erscheinung trat. Sein Inter­esse für Askese und sakrale Räume führte zum Auftrag für ein Kloster im tschechischen Novy Dvur (1999–2004), ein Jahrzehnt später zu einer radikal puristischen Neugestaltung der St.-Moritz-Kirche in Augsburg (2008–2013). Dass Pawson aber auch durchaus sensibel mit sperrigen Bestandsgebäuden umzugehen vermag, bewies er unlängst durch den Umbau des früheren Commonwealth Institute in London zum neuen Domizil des Design ­Museum sowie die Umwidmung eines Bunkers zum Sitz der Feuerle Collection in Berlin.

In den 1990er-Jahren suchten eine Reihe von englischen Architekten Alternativen zum kommerziell erfolgreichen britischen Hightech sowie zur Formenopulenz in der Folge der Postmoderne. Florian Beigel und Philip Christou, Adam Caruso und Peter St. John, Jonathan Sergison und Peter Bates, aber auch Tony Fretton, David Adjaye oder Mark Pimlott fanden ihre Inspirationen im Werk der Smithsons sowie im Materialpurismus und in der Handwerklichkeit der Schweizer Architektur. Nicht zuletzt verhalfen sie dem Backstein, der ja lang eines der prägenden Baumaterialien des Landes gewesen war, zu neuer Akzeptanz.

Der Karrierebeginn Pawsons fällt in die gleiche Zeit, und er speist sich aus vergleichbaren Quellen. Doch unterscheidet sich sein Werk insofern, als das Thema des Selbstverständlichen und daher Gewöhn­lichen keine wichtige Rolle spielt. Vielmehr zielen ­Pawsons Bauten auf Perfektion und extrem durch­komponierte Ästhetik, die dazu neigt, eine parasakrale Atmosphäre entstehen zu lassen. Dabei trat das verwendete Baumaterial bisher bewusst in den Hintergrund – meistens erfüllten glatte Wände aus Sichtbeton die Notwendigkeit einer Raumhülle und ermöglichten eine monolithische Gestalt.

Der Einsatz von Ziegelstein, dessen Schönheit aus den Spuren der Herstellung und damit verbundenen Un­regelmässigkeiten entspringt, ist neu in Pawsons Werk und als Referenz an diese Bauaufgabe zu betrachten. Sowohl aussen als auch innen tritt der Ziegel als prägendes Element in Erscheinung. Durch den streng ra­tionalen Einsatz verliert er jedoch seine ursprünglich so bescheidene Konnotation. Ein eigentlich banales Material wird hier auratisiert.  

Reduktion um jeden Preis

Bedarf es so viel Aufwands, um abschalten zu können?  «Luxese» haben Trendforscher die Legierung von Luxus und Askese genannt, und dafür ist das Life House ein treffliches Beispiel: Nichts wurde gescheut, um Reduktion und Verzicht zu inszenieren. Und weil heimische Ziegeleien den Qualitätsansprüchen nicht genügten, wurden 80 000 handgestrichene Ziegel aus Dänemark importiert. Das Life House stellt sich als eigener Kosmos dar, der erstaunlich wenig mit Standort und Region zu tun hat. Das betrifft nicht nur die Wahl der Materialien, sondern auch den Bezug zur Aussenwelt. Zwar öffnet sich jeder der Wohnräume übereck zur Landschaft, doch bleiben die Ausblicke überraschend unbestimmt. Es gibt in der Umgebung von Llanbister viele Orte, die der Idee des «locus amoenus» durchaus entsprechen; der Ort, an dem das Life House steht, zählt eher nicht dazu. Weder ist die Aussicht beeindruckend, noch lädt die unmittelbare Umgebung zum Wandern ein. Trotz der Fenster bleibt das Interieur seltsam hermetisch und selbstbezogen.

Vielleicht verhält es sich mit dem «Life House» wie mit dem «Lifeboat»: Gerettet ist nur, wer an Bord ist. Für einige Tage kann das Leben in einem minimalistischen Folly des 21. Jahrhunderts eine reizvolle Erfahrung sein. Bis die bereitgestellten Bücher gelesen, die CDs gehört und die Contemplation Chamber ausreichend genutzt worden ist. Und das reale Leben wieder beginnt.

Daten und am Bau Beteiligte
 

Ort: Llanbister, Llandrindod Wells, Powys LD1 (GB)
 

Architektur: John Pawson, London
Bauherrschaft: Living Architecture, London
HLKS-Planung: Atelier Ten, London  
Tragwerksplanung: Jane Wernick Associates, London
Bauunternehmung: JA Morgan Construction, London
 

Ziegelsteine: Randers Tegl, Aalborg (DK)
Holz Innenausbau: Amerikanische und deutsche Douglasie, weiss geölt
Bodenbelag und Einbaumöbel Terrazzo:
Herstellung: inOpera, London
Ausführung: TRI contracting, Essex (GB)
 

Umfang: 334 m2
Fertigstellung: 2016

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