Vorwärts zur Landschaft!
Die Parameter, an denen ein gelungenes Wohngebäude gemessen wird, umfassen zunehmend die Aufenthaltsqualität des umgebenden Freiraums. Ein Kommentar zum wachsenden Interesse an der Landschaftsarchitektur im Tessiner Wettbewerbswesen.
‹Un primo sud› hat Hermann Hesse diese Sehnsucht beschrieben, gleich hinter dem schneebedeckten Gotthard blühende Kamelien anzutreffen. Wer hat sie nicht, diese Lust, ein bisschen näher ans Mediterrane und an südliche Unbeschwertheit zu rücken?
Meine persönliche Sehnsucht nach ‹Sud› führte zur beruflichen Neugier. Es folgten zwei Wettbewerbsgewinne und dann eine erste Jury in Lugano. Sie war dann eine harte Probe! Die Landschaftsarchitektur im Tessin – wo Landschaft so ausdrucksstark, so nah, so augenfällig ist – war in vielen Architekturprojekten schlicht inexistent. Inzwischen haben Juryteilnahmen als echtes Engagement für eine klare Positionierung der Landschaftsarchitektur im Tessin für mich eine gewisse Regelmässigkeit. In der deutschen Schweiz ist diese durch das Wirken einer ganzen Generation von Berufskolleginnen und -kollegen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Sie haben das Metier von einer dienenden zu einer selbst- und eigenständigen Fachdisziplin gemacht, die viel mehr beinhaltet als Begrünung und Umgebungsgestaltung.
Die Seepromenade von Paradiso, der Parco Viarno, die Scalinata degli Angioli, die Revitalisierung des Laveggio: In all diesen abgeschlossenen Wettbewerbsverfahren spielte die Landschaftsarchitektur eine tragende Rolle. Weitere Verfahren sind in Vorbereitung. Und siehe da, das zarte Pflänzlein beginnt zu spriessen und schlägt langsam seine Wurzeln! Schritt für Schritt scheint auch im Tessin der Einbezug von Landschaftsarchitektur zu einer ganz selbstverständlichen Sache zu werden. Mit den Ausschreibungen kommt die Nachfrage; aus Wettbewerbsgewinnen entsteht ein gewisses Auftragsvolumen; mit Publikationen kommt ein Nachdenken und ein Sprechen über Landschaftsarchitektur. Die Verwaltungen rüsten nach. Unterdessen gibt es im Tessin mehrere jüngere Büros, die sich ihren Weg in den Markt suchen – und ihn auch finden.
Natürlich sind dies alles Beobachtungen eines Positivisten und eines Aussenstehenden. Es bleibt aber die Tatsache, dass sich unsere Ballungsräume zunehmend verdichten und die Bedeutung von qualitativ hochstehenden Freiräumen zwangsläufig zunimmt. Denn sie dienen neben ihrer Erholungsfunktion auch dem gemeinschaftlichen Austausch und der sozialräumlichen Aneignung. Darüber hinaus erhalten Freiräume eine zusätzliche Bedeutung durch den Klimawandel, der nach mehr Biodiversität, einer höheren Porosität der Böden, nach mehr Schatten ruft. Auch die derzeitigen Corona-Wirren tragen dazu bei, dass Freiräume an Bedeutung gewinnen: Luft schöpfen, draussen sein, Distanz haben!
Drum gilt umso mehr: ‹Vorwärts zur Landschaft› und zu einer eigenständigen Landschaftsarchitektur!
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