«Lasst die Ar­chi­tek­ten spie­len!»

Darstellungen in Games

Ulrich Götz ist Leiter der Studienvertiefung Game Design der Zürcher Hochschule der Künste. TEC21 befragte ihn zu den Zusammenhängen zwischen Gamedesign und Architektur.

Publikationsdatum
08-04-2015
Revision
06-10-2015

TEC21: Herr Götz, die Umgebung in Computerspielen kann aussehen wie ein Architekturrendering oder ein altes Gemälde, wie eine Legokulisse oder eine Fotografie. Was bezwecken die Hersteller mit solchen Darstellungsformen?
Ulrich Götz: Der Inhalt wird so vermittelt, dass er für eine Zielgruppe lesbar und interessant ist. Aber der Zweck der Darstellung lässt sich nicht vom Gesamtprodukt trennen, beide sind aus einem Guss. Wenn der Designer weiss, ob er sich an Seniorinnen, 5-jährige Mädchen oder 14-jährige männliche Jugendliche wendet, dann kann er entscheiden, was diese Zielgruppe interessiert und wie man sich ihrem Thema nähert. Die einen wollen Visualisierungen lesen, die andere überhaupt nicht interessieren. 5-jährige Mädchen wollen sicher kein schmutziges, splitterndes, dreckiges Autorennen spielen, genauso wenig, wie das Senioren anspricht. Die interessieren sich für ein Spiel, das mit ihrem Erfahrungsschatz und Wissen zu tun hat, und allenfalls einen gewissen inneren Wettkampf erfordert. Die 14-jährigen männlichen Jugendlichen könnte das Autorennen, das auf Geschwindigkeit und Rasanz ausgerichtet ist, aber interessieren. In einer ganzen Reihe von Spielen geht es um Action und Lärm – da fliegen die Fetzen. 

TEC21: Welche Spiele verwenden solche Inhalte?
Götz: Es gibt viele Renn- und Actionspiele, und auch die Shooter-Genres sind rasant. Wir haben natürlich in derselben Altersklasse unterschiedliche Zielgruppen. Bei den Spielen der Rätsel-Adventures geht es darum, nachzudenken, zu kombinieren, zu überlegen und Geschichten zu erzählen. Auch das richtet sich an Jugendliche oder junge Erwachsene. 

TEC21: Die Spielperspektive ist bei den verschiedenen ­Spielen jeweils anders. Sieht man zum Beispiel in Rätsel-Adventures die Umgebung eher aus der Vogelperspektive oder zweidimensional?
Götz: Nehmen wir ein Strategiespiel mit Simulationscharakter, bei dem Architektur eine wichtige Rolle spielt, zum Beispiel «SimCity». Da muss ich das Umfeld aus einer Art göttlichen Perspektive sehen – oder mit unwesentlicher perspektivischer Verjüngung. Dafür bietet sich die axonometrische oder isonometrische Darstellung an, weil ich von fern auf alles gleichermassen schaue, sodass ich strategisch grosse Gebiete überblicken und bespielen kann. Es wäre völlig undenkbar, aus dieser Per­spek­tive ein Actionspiel zu machen, das muss aus der Ich-Perspektive gezeigt werden. Die Ich-Perspektive ist wiederum für Rätsel-Adventures unsinnig. Dort wird der Raum in Bildabfolgen wie in Theaterszenen serviert. Darin kann ich mich den Rätseln widmen, die von einer Szene zur nächsten präsentiert werden. 

«5-jährige Mädchen wollen sicher kein schmutziges, splitterndes, dreckiges Autorennen spielen.» 

TEC21: Oft sieht man im Hintergrund von Spielen Architekturelemente, entweder ganze Gebäude oder Ausschnitte. Ihr Stil kann von gotisch bis futuristisch variieren. Gibt es Stile, die zu verschiedenen Genres oder Zielgruppen besser passen?
Götz: Nun, Architektur in Science-Fiction­-Spielen ist logischerweise eher futuristisch dar­gestellt. Im Gegensatz dazu sind Fantasyspiele, wo es Trolle, Orks, Zwerge und Zauberer gibt, mit pseudo­gotischen Burgen und Schlössern ausgestattet. ­Moderne Gebäude wiederum finden wir in allen möglichen Kategorien von Spielen, die in der Gegenwart stattfinden. «Mirror’s Edge» ist ein Spiel, das Architektur explizit mit einem Aspekt aufgreift, der in der Architekturdiskussion vor rund 20 Jahren aufgekommen ist: Es setzt die Stadt als Spielfeld um und liest das System somit anders, als wir dies gewöhnlich tun – vergleichbar mit der Sportart Parkour. Sie ist passenderweise zeitgleich entstanden. Menschen begreifen Stadtmöbel und städtische Anlagen und Gebäude als höchst sportliche Herausforderung. «Mirror’s Edge» imitiert Parkour. 

«Die meisten Leute, die lesen und Computer spielen, werden sich nach zehn Jahren lebhafter an das Spiel er­innern als an das Buch.»

TEC21: Aber sind nicht städtische Szenarien in Videospielen mehr als nur Kulisse, sondern auch Teil des Spiels?
Götz: Das gehört meist zusammen – ich stimme zu, die Stadt ist insofern Teil des Spiels, als dass die Architektur zu einem wesentlichen Teil des Spielfeldes wird. Das Spielfeld ist in jedem Spiel gegeben – Fussballspielen macht ohne Fussballplatz keinen Sinn. Die Architektur ist nicht etwas, das im Hintergrund drangeklatscht ist, sondern sie muss dafür sorgen, dass ein Spielfeld als Fläche oder als 3-D-Gebilde entsteht. Das ist eigentlich immer so. Es gibt wenige Spiele, die ohne solch räumliche Konstrukte auskommen, beispielsweise Sprachspiele.

TEC21: Was nach dem räumlichen Konstrukt noch dazukommt, also das ganze Dekor, je nach Spiel – ist das wie der Zuckerguss auf dem Kuchen?
Götz: Genau. Wie wenn das Ganze später noch angemalt wird. Dabei stellt sich die Frage, wie stark dies geschieht. Doch selbst wenn man die Szenerie monochrom einfärbt, würde man die wichtigen räumlichen, objekthaften Elemente als konstitutiv erkennen. Ich brauche für einen Shooter ein Spielfeld, in dem ich mich verstecken kann – für Fussball nicht.

TEC21:  Aber es macht einen Unterschied für das Gefühl des Spielers, ob er sich in einem abstrakten, kubistischen Raum bewegt oder ob er in einem alten Tempel durch Spinnwebenfetzen irrt.
Götz: Der Spielraum hat als Erstes funktionale Aufgaben. Er zeigt auf, was man wie machen kann und darf. Daneben hat er aber natürlich auch narrative Qualitäten. Er ist eindrücklich atmosphärisch ausgemalt. Beim Anblick bekomme ich Glücksgefühle oder fürchte mich, obwohl ich noch überhaupt nicht gespielt habe. Ich kann auch in diesem Raum herumlaufen, ohne etwas Besonderes zu machen, und nur seine räumlichen Qualitäten erforschen. Es ist so, als könnte ich in einem Kinofilm bestimmen, wer Regie führt und wohin die Kamera sich richtet. Da muss ich noch gar nicht am Spiel teilgenommen haben. Schon allein die Raumerfahrung kann überwältigend sein.

TEC21: Wie ist die Qualität der Darstellungen – und wie wirkt sie sich auf den Spieler aus?
Götz: Ich finde diesbezüglich viele, vor allem auch abstrakte Spiele hochinteressant. Bei den grossen Spielen sind die Spezialeffekte gleichwertig wie jene von Kinofilmen vor einigen Jahren. Fast alle aktuellen Mainstreamproduktionen sind visuell erstaunlich – schon im naturalistischen Bereich. Auch ein ausgefeilter Mangatrickfilm erwacht mit Unmengen von Details zum Leben, oder es sieht aus, als würde ich durch ein Aquarell laufen. Spannen wir noch einmal den Bogen zurück zu «Mirror’s Edge», da werden der Raum und das Spielfeld auf extreme Weise in das Geschehen miteinbezogen. Es gibt keine Begrenzung, bis wohin ich gehen kann, es macht nicht «bums», und ich komme nicht weiter vor einer Wand. Die Wand bietet die Möglichkeit, mit einem Schritt nach oben zu springen, sie ist fast wie eine zweite Spielgefährtin. Ich glaube, viele Leute, die sowohl viel lesen als auch Computer spielen, werden sich nach zehn Jahren oft lebendiger an ein Spiel erinnern als an ein Buch. Selbstverständlich hat das Buch die ausgefeiltere Geschichte und Handlung. Aber es ist tatsächlich oft so, dass die narrative Erfahrung des sich im Spiel erarbeiteten Raums sehr nachhaltig ist. Dieser muss aber selbst erspielt worden sein, zuschauen genügt nicht. Man muss sich selbst vorwagen und sich die Geschichte erspielen.  

TEC21: Passt der Begriff Immersion zu diesem Thema?
Götz: Da muss man vorsichtig sein – dieser Begriff wurde inflationär benutzt, genauso wie «Flow». Er besagt, dass man eingebunden ist in das Spielgeschehen. Doch man kann stark auf ein ­Spielgeschehen fokussiert und konzentriert sein – aber man wird gleichzeitig nicht vergessen, dass man vor einem Bildschirm sitzt und einen Computer bedient. Zu meinen, man könne sich verlieren und würde als Körper tatsächlich Teil einer virtuellen Welt, ist ein typisches Vorurteil von Menschen, die über diese Produkte sprechen, sie aber nie ausprobiert haben. 

TEC21: Es gibt Spiele wie «Minecraft», bei denen der Spieler selbst entwirft und baut, das scheint gut anzu­kommen. 
Götz: Diese Gruppe an Spielen ist nicht so gross, aber extrem interessant und effektiv. Sie setzt auf die Motivation, sich etwas anzueignen und zu kontrollieren. Ich kann ins Spiel reingehen und bin der Regisseur, ich kann Spuren hinterlassen und die Umgebung verändern. Das ist herausfordernd für Bastler, Weltenbauer, Ausprobierer und Kontrolleure.

TEC21: Ist das das neue Lego?
Götz: Es hat einen ähnlichen Ansatz. Der von «Minecraft» geht aber weiter, weil die virtuellen Bauelemente eine riesige Palette an physischen Merkmalen wie Gewicht, Druck, Belastungs- und Temperatureigenschaften aufweisen. Die muss man kennen und berücksichtigen. Ich kann kein Schneeelement auf ein Feuerelement stellen, weil es wegschmilzt. Es ist eine simulierte Welt.

TEC21: Das klingt so, als ob man ein immenses Memorisierungsvermögen braucht. Sind all die Faktoren und Regeln überblickbar?
Götz: Bei «Minecraft» eignen sich die Leute das an. Es ist ein langer Lernprozess. Wenn man durch die virtuelle Landschaft spaziert, sieht man schnell, dass das Vergnügen begrenzt ist. Daraus entsteht das Bedürfnis, einzugreifen und zu bauen. Das ist noch schöner, wenn ich mich mit einem Mitspieler treffe – oder mit einer ganzen Gruppe, vielleicht sogar auf einem anderen Kontinent. Dann beschliesst man, z. B. zusammen die Kathedrale von Reims zu bauen. 

TEC21: Was für Vorteile hat ein virtuelles Spiel gegenüber einem gegenständlichen für Architekten  
Götz: Ich kann in virtuelle Spiele wie «Bridgebuilder» komplexe Berechnungen einfliessen lassen. Die Aufgabe ist zum Beispiel, mit einer Betonspannbrücke über einen 400 Meter breiten Abgrund zu kommen. Dazu muss ich mir Gedanken über Torsionen, Biegekraft und Flächenlast machen. Das macht keinen Sinn mit einem Holzbausatz oder mit Lego, und genau das kann im virtuellen Raum um einiges komplexer werden. Natürlich lerne ich durch den Bau eines Architekturmodells von Hand auch viel über Spannweiten. Das ist aber eine andere Art des Lernens und stellt nicht unbedingt einen Vorteil dar. 

«... wie wenn sich ein Fotograf nicht für Film interessieren würde.»

TEC21: Apropos Modell: Könnten Architekten ihre Bauherren nicht auch in virtuellen Welten herumführen?
Götz: Es würde mich erstaunen, wenn bisher noch kein Architekt daran gedacht hätte, die Planungsdaten in die Games hineinzuimportieren und die Oberflächen zu texturieren und Kunden oder Wett­bewerbsjuroren da durchlaufen zu lassen.

TEC21: Wie aufwändig ist es, so einen Architekturraum herzustellen?
Götz: Das hängt natürlich von Tausenden von Faktoren ab. Aber 2007 haben wir uns tatsächlich von EM2N, den Architekten des Toni-Areals, die Planungsdaten geben lassen. Damit haben wir mit dem 5. Semester Spiele entworfen, die im Toni-Areal spielen und dessen Räume virtuell begehbar gemacht und stilisiert. Sie erkennen unschwer alte Relikte aus der Molkerei und neue bauliche Elemente von EM2N. Auf den Screenshots sind sie aber zweckentfremdet, weil sie eben dem Spiel angepasst sind. Das führt  uns zu einem wichtigen Punkt – ein nur begehbarer virtueller Raum ist noch kein interaktives Spiel. Es ist nach 30 Sekunden meist langweilig, darin nur herumzugehen, da eine tiefere Motivation für den Aufenthalt in der Welt fehlt ... 

TEC21: .... ausser die Bauherrschaft will wissen, wie das zukünftige Haus aussehen wird. 
Götz: Ja, natürlich. Dann ist das hoffentlich mit dem Kamerawinkel erstellt, der meinem eigenen menschlichen Blickwinkel entspricht.  

TEC21: Was können sich Architekten vom Gamedesign abschauen? Was empfehlen Sie ihnen, um sich inspirieren zu lassen?
Götz: Als Grenzgänger zwischen Architektur und Gamedesign nehme ich seit vielen Jahren erstaunt zur Kenntnis, dass Architekten sich kaum mit Games auseinandersetzen. Das Interesse reisst schnell ab. Das ist für mich unerklärlich – so wie wenn ein Fotograf sich nicht für Film interessieren würde. Gerade die Experimentiermöglichkeiten des räumlichen Gefüges sind aber ein spannender Aspekt. Wir sprechen von einem Spielemarkt, der in seiner Quantität unüberblickbar ist – weil täglich Hunderte von Spielen international dazukommen. Meine Empfehlung ist: Holt eine Konsole ins Büro, einen leistungsstarken Rechner, fünf aktuelle Spiele und lasst die Belegschaft spielen! 

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