La­wi­nen­schutz in der Schweiz

Ende des 19. Jahrhunderts wurden hierzulande erstmals Steinmauern errichtet, um Lawinen zu verhindern. Die Weiterentwicklung der baulichen Interventionen in Zusammenspiel mit dem Schutzwald sowie planerische und organisatorische Massnahmen gewährleisten heute ein hohes Mass an Sicherheit.

Publikationsdatum
06-02-2020

Herabstürzende Schneemassen zerstörten 1602 die Kirche in Frauenkirch bei Davos. Die Menschen gaben aber nicht auf: Sie bauten das Gotteshaus mitten im Lawinenhang wieder auf, versahen das Gebäude jedoch mit einem mächtigen Spaltkeil. Seither trotzt der zeitlose Bau den Naturgewalten und mahnt die Menschen, dass mit Lawinen nicht zu spassen ist.

Die Lawinengefahr prägt seit Jahrhunderten das Leben der Menschen in den Alpen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leitete der Bündner Johann Coaz (vgl. TEC21 45/2018) eine neue Phase im Lawinenschutz ein. Nach einem schadensreichen Lawinenniedergang 1868 projektierte er als Bündner Forstinspektor in Martina im Unterengadin die ersten Trockensteinmauern, um die Entstehung von Lawinen zu verhindern. Dabei handelte es sich vermutlich um die ersten in einem Lawinenanrissgebiet erstellten Schutzbauwerke im Alpenraum.

1875 wechselte Coaz nach Bern, um die Stelle des ersten Eidgenössischen Forstinspektors anzutreten. Als im Winter 1887/88 viele Lawinen niedergingen, reagierte Coaz entschlossen auf die Vorfälle und liess eine Ereignisanalyse erstellen, so wie es heut erstellte Coaz eine Ereignisanalyse, so wie es heute nach jedem grösseren Naturgefahrenereignis üblich ist. Auch gewann den Forstdienst dafür, die potenziellen Sturzbahnen von Lawinen (Lawinenzüge) der Schweizer Alpen systematisch zu erfassen. 1910 veröffentlichte Coaz schliesslich das umfassende Werk «Statistik und Verbau der Lawinen in den Schweizeralpen»1. In den Tabellen sind nahezu 10'000 Lawinenzüge verzeichnet.

Das Forstpolizeigesetz von 1876 erlaubte dem Bund, Verbauungen und Aufforstungen finanziell zu unterstützen. So entstanden bis 1940 in der Schweiz zirka 1000 km Trockenmauern und Terrassen zum Schutz vor Lawinen.

Im Winter 1950/51 kam es zum härtesten Test im 20. Jahrhundert in den Schweizer Alpen – für Menschen wie für Schutzbauten. Gegen 1300 Lawinen verursachten Schäden. 1500 Gebäude wurden zerstört, 98 Menschen kamen ums Leben. Die Aufarbeitung der Ereignisse deckte verschiedene Mängel im Lawinenschutz auf. «Der Lawinenwinter 1951 hat zu einem Paradigmenwechsel im Lawinenschutz geführt», sagt Stefan Margret, Experte für Lawinenschutzbauten am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos. Die wenigen Stützbauwerke wie etwa Schneerechen, die damals bereits existierten, hätten sich aufgrund ihrer Wirkungshöhe als viel effektiver erwiesen als die massiven Mauern oder Terrassen. Deshalb habe man nach dem Lawinenwinter zunehmend auf gegliederte Stützwerke gesetzt. In einem informativen Artikel zeigt Margreth auf, wie die extremen Lawinenereignisse den Lawinenschutz beeinflussten.2

Die Politik erkannte, dass der Lawinenverbau durch den Bund stärker als bisher zu fördern war, wenn Schäden wie 1951 künftig verhindert werden sollten. Die Projektierung und Erstellung moderner Lawinenschutzbauten stieg sprunghaft an: Heute sichern rund 500 km Stützbauten die Lawinenhänge in den Schweizer Alpen.

Ebenso wurde das Bauen in lawinengefährdeten Gebieten eingeschränkt. Die Lawinenzonenpläne entstanden ab 1960. Mit einer roten Zone (Bauverbot) und blauen Zone (Bauen nur mit Auflagen) war diese Karte ein Vorläufer der heute nicht mehr wegzudenkenden Gefahrenkarten, die inzwischen für sämtliche Naturgefahren existieren und öffentlich einsehbar sind.3

Der Schlüssel für einen wirksamen und effizienten Lawinenschutz liegt in der Kombination aus biologischen (Schutzwald), baulichen, planerischen und organisatorische Massnahmen. Das hohe Niveau im Lawinenschutz in der Schweiz beruht auf viel Erfahrung, lokalem Wissen sowie der fachlichen Beurteilung der Gefahren. Unter Federführung des Bundesamtes für Kultur erarbeitete das SLF gemeinsam mit dem Kanton Wallis, dem Schweizer Alpen-Club (SAC), dem Schweizer Bergführerverband, dem Bundesamt für Umwelt sowie Verbänden und Institutionen aus Österreich eine Kandidatur als UNESCO-Kulturerbe. Mit Erfolg: Der «Umgang mit der Lawinengefahr» wurde im November 2018 in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.4


Anmerkungen

[1] Johann Coaz: Statistik und Verbau der Lawinen in den Schweizeralpen, Stämpfli & Cie., 1910.
[2] Stefan Margreth: Lawinenwinter der letzten 150 Jahren: ihre Bedeutung für die Entwicklung des Lawinenschutzes. Im. Forum für Wissen 2019, WSL Berichte, Heft 78, 2019.
[3] Die Gefahrenkarten werden von den Kantonen erstellt und können auf den kantonalen Geoportalen eingesehen werden: www.bafu.admin.ch> Themen > Naturgefahren > Gefahrenkarten
[4] Umgang mit der Lawinengefahr: https://ich.unesco.org/en/RL/avalanche-risk-management-01380

Eine ausführlichere Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21  4/2020 «Leben mit Lawinen».

 

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