«Al­les hat sich be­schleu­nigt»

Welche Rolle spielte die Stadt Zürich bei der umstrittenen Entscheidung, die Industriehallen auf dem Maag-Areal zu ersetzen? Wie entstand die kooperative Planung in Zürich-West? Und allgemeiner: Welche Zielkonflikte erschweren die urbane Transformation, wie kann man sie lösen? Die Direktorin des Amts für Städtebau Zürich gibt Auskunft.

Publikationsdatum
06-06-2022

TEC21: Frau Gügler, der geplante Ersatz der Maag-­Hallen aus den 1960er-Jahren durch Neubauten hat bei vielen Planenden für Skepsis gesorgt; ebenso das Verfahren, das zu diesem Entscheid der Investorin SPS geführt hat. Ein wiederkehrender Kritikpunkt ist: Die Ausschreibung des Studienauftrags mit den Varianten Erhalt und Neubau zeige, dass die Investorin für ein Weiterbauen des Be­stands offen gewesen wäre, doch die Stadt habe es verpasst, frühzeitig und unbürokratisch den juristischen Weg dafür zu ebnen. Was halten Sie von dieser Aussage?

Katrin Gügler: Sie steht im Raum, doch wie weit die Auftraggeberin wirklich gegangen wäre, um den Bestand zu erhalten, wissen wir nicht. Die Ausschreibung des Studienauftrags zeigt nur, dass die Auftraggeberin eine Auslegeordnung der Ideen mit und ohne Erhalt der Hallen wünschte. Als die zwei finalen Varianten schliesslich auf dem Tisch lagen, zeigten wir für beide einen planungsrechtlichen Weg zur Umsetzung auf. Beim Ersatzneubau war er klar, das Projekt hält sich an die geltenden Sonderbau­vorschriften. Beim Erhalt wären die Sonderbauvorschriften verletzt worden, das Projekt ist in der vorliegenden Form nicht genehmigungsfähig. Darüber können wir uns nicht hinwegsetzen: Die Sonderbauvorschriften sind öffentlich-rechtlich verbindlich. Sie wurden vor 20 Jahren durch den Gemeinderat fest­gesetzt und von der Baudirektion des Kantons Zürich genehmigt; um sie zu ändern, bräuchte es wieder einen entsprechend aufwendigen politischen Prozess. Alternativ dazu haben wir einen privaten Gestaltungsplan vorgeschlagen. Diesen Weg hätte die Bauherrschaft gehen können, aber sie hat anders entschieden.

Bei Studienaufträgen von so grosser städtebaulicher Relevanz ist das Amt für Städtebau oft in der Jury vertreten. Hier war das anders, es beschränkte sich während des Konkurrenzverfahrens wie andere Verwaltungsstellen auf eine beratende Funktion. Warum?

Wir haben auf eine Teilnahme in der Jury verzichtet, weil der Studienauftrag unseren Qualitätskriterien, nach denen wir alle Verfahren prüfen, nicht entsprach. Aus unserer Sicht war die Aufgabe zu offen formuliert. Vor allem hätte es eine umfassendere Grundlagenarbeit im Vorfeld gebraucht, um eine Vergleichbarkeit der Lösungen zu ermöglichen. Wenn man zwischen zum Teil widersprüchlichen, aber durchaus legitimen Zielen gewichten muss, braucht es sorgfältig aufbereitete Grundlagen, aufgrund derer das Beurteilungsgremium entscheiden kann. Das hat man bei der Vorbereitung leider verpasst. Die Folge war ein offenes Resultat mit zwei sehr unterschiedlichen Projekten, in der die Rolle der Stadtverwaltung nachgelagert war und darin bestand, für beide Projekte den behördlichen Weg für eine Realisierung aufzuzeigen.

TEC21 und espazium.ch haben verschiedentlich über das Maag-Areal berichtet. Eine Sammlung aller Beiträge finden Sie hier.

Zu hören war auch der Vorwurf, die Verwaltung habe keine eigene Vorstellung, wie sich das Areal entwickeln solle. Sie würde lediglich die administrativen Abläufe verwalten.

Das stimmt nicht. Unsere Aufgabe ist es, gute Lösungen für politisch untermauerte Ziele einzu­fordern. Doch es gibt hier eine Vielzahl von Randbedingungen, die einander teilweise widersprechen: Wir bauen ja nicht auf der grünen Wiese, sondern in der gewachsenen Stadt. Daher entstehen regelmässig Zielkonflikte. Ein klassisches Beispiel ist der Widerspruch zwischen dem Erhalt historischer Bauten samt der Aussicht, weniger graue Energie zu vernichten, und der Schaffung neuer Wegbeziehungen und von mehr Grün- und Freiräumen; so auch im umstrittenen Teil des Maag-Areals. Jeder Entwurf hat verschiedene Konsequenzen, die man abwägen muss. In diesem Fall standen am Ende des Wettbewerbs zwei sehr unterschiedliche Projekte zur Auswahl: Beide nehmen Stellung zu aktuellen Themen wie Bestand, Baukultur, Transformation, Klima oder Freiraum, aber mit anderen Gewichtungen. Es war jedoch an der Jury und schliesslich an der Bauherrschaft, sich für ein Projekt zu entscheiden, unsere Rolle war eine andere.

Sie haben verschiedentlich betont, dass Sie Ihre Aufgabe anders interpretieren als ein traditioneller Stadtbaumeister wie Albert Steiner, der die erste einheitliche Bauordnung für Zürich schuf und damit die Standorte für Wohnquartiere, Industrie und öffentliche Einrichtungen vorgab. Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Direktorin des Amts für Städtebau, und warum ist diese neue Interpretation zeitgemäss?

Weil Stadtplanung heute anders funktioniert. Zum einen gibt es mehr Akteure, die es einzubinden gilt, Partizipation hat einen höheren Stellenwert, die Menschen wollen an der Entwicklung ihrer Quartiere beteiligt sein. Zum anderen hat sich alles beschleunigt: Laufend kommen neue Herausforderungen hinzu, etwa Fragen der nachhaltigen Energieversorgung und des Stadtklimas, der CO2-Absenkpfad, die Innenentwicklung, der Verkehr; kaum hat man das erforderliche Fachwissen und die notwendigen Prozesse zu einem Thema erarbeitet, ist das nächste schon da. Transformation ist eine komplexe Aufgabe. Wir arbeiten als Teamplayer, und das ist richtig so.

Geht es «lediglich» darum, Prozesse mit einer Vielzahl von Beteiligten zu moderieren? Wäre es aufgrund der Komplexität der Aufgaben und der Zielkonflikte nicht umso wichtiger, dass das Amt für Städtebau von Fall zu Fall übergeordnete Prioritäten setzt?

Dass man nicht alles im Alleingang entscheidet, heisst nicht, dass man keine Prioritäten setzt. Die Wirkung unserer Arbeit ist nicht kleiner als früher, sie entsteht nur anders, weniger direkt. Selbstverständlich haben wir eine Gestaltungsabsicht und eine Haltung zu den aktuellen Themen.

Die Verwaltung hat die Aufgabe, demokratisch sanktionierte politische Ziele umzusetzen. Manche betreffen direkt die Stadtplanung und den Bau, z.B. die 2000-Watt-Gesellschaft oder den CO2-Absenkpfad. Wie geht das Amt für Städtebau vor?

Unsere Rolle besteht meist darin, die verschiedenen Themen zusammenzubringen und die erforderlichen Planungsgrundlagen zu entwickeln. Gerade bei komplexen Themen wie diesen sind immer mehrere Amtsstellen beteiligt, etwa der Umwelt- und Gesundheitsschutz, das Amt für Hochbauten oder das Tiefbauamt. Bei allen ist viel spezifisches Fachwissen vorhanden, oft geht es ja um Fragen, die eine hohe Spezialisierung erfordern. Hier gilt es, den Überblick zu wahren, um Zielkonflikte frühzeitig zu erkennen und im Sinn des grossen Ganzen eine Gewichtung vornehmen zu können. Deshalb sind wir bei solchen Prozessen oft im Lead. Das Ergebnis sind übergeordne­te Planungsinstrumente, wie aktuell der kommunale Richtplan.

Richtpläne sind behördenverbindlich, nicht eigen­tümerverbindlich, für die konkrete Umsetzung braucht es weitere Schritte. Warum ist der kommunale Richtplan dennoch wichtig?

Der Richtplan stimmt basierend auf einer langfristigen Entwicklungsvorstellung Sachthemen wie Siedlung, Landschaft, öffentliche Bauten und Anlagen sowie Verkehr aufeinander ab. Um mit Zielkonflikten sinnvoll umzugehen, muss man in einem übergeordneten Kontext, in einem grösseren Massstab denken. Themen wie Lärm, Wohnungsbau, Infrastruktur, Grünräume, Kaltluftströme etc. muss man früh koordinieren. Wenn man sich erst auf der Ebene der Parzelle damit beschäftigt, hat man zu wenig Spielraum. Insbesondere auf städtischem Land, mit dem es haushälterisch umzugehen gilt, entstehen Widersprüche zwischen verschiedenen politischen Zielen: Was braucht es dringender, einen Freiraum oder eine Schule? Die Entscheidung liegt bei der Politik bzw. beim Stimmvolk, nicht bei den Ämtern. Unsere Rolle ist eine fachliche. Wir haben die wichtige Aufgabe, Kriterien für diese politische Entscheidung zu schaffen und mit Argumenten zu belegen: Wo ist die Dringlichkeit höher, die Konsequenz einschneidender, wo gibt es welche Alternativen? Interessen abzuwägen heisst, dass man nicht alles haben kann.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 18/2022 «Urbane Transformation: heikle Fragen». In dieser Ausgabe finden sich noch weitere Artikel zum Maag-Areal.

TEC21 und espazium.ch haben verschiedentlich über das Maag-Areal berichtet. Eine Sammlung aller Beiträge finden Sie hier.

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