Neu­bau­haus

Kritische Rekonstruktion

Bruno, Fioretti, Marquez aus Berlin vervollständigen die Meisterhäuser in Dessau und zeigen dabei eine anspruchsvolle Alternative zur Rekonstruktion auf: Entstanden ist eine meisterhafte neue Zeitschicht für das Ensemble.

Publikationsdatum
10-09-2014
Revision
19-05-2017

Wie aus einer architektonischen Wundertüte purzeln derzeit vom Berliner Schloss bis zur Altstadt in Frankfurt am Main zahlreiche Rekonstruktionen durch die deutschen Städte. Als Stadtreparaturen getarnt, restaurieren sie mit dem Stadtbild gleich auch die Nachkriegsgeschichte. Fragt man nach den Ursachen ihrer Beliebtheit, findet man eine Antwort in der zwiespältigen Rezeption der Moderne: Während die Bauten der klassischen Moderne aus den 1920er- und 1930er-Jahren nach wie vor ein beliebtes Ziel für Architekturtouristen sind, wird insbesondere der Architektur der Nachkriegsmoderne ein Mangel an stadträumlicher Qualität und Emotion angelastet. Doch dabei wird übersehen, dass es sich bei den vielbesuchten Klassikern der Moderne von Barcelona über Berlin bis Dessau ebenfalls um Rekonstruktionen handelt.

Das Schicksal einer geschichtsverfälschenden Totalrekonstruktion drohte auch den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Wohnhäusern der Bauhausmeister Walter Gropius und László Moholy-Nagy in Dessau. Während die stark vernachlässigten und kaum noch als Ikonen der Moderne erkennbaren Doppelhäuser Muche/Schlemmer und Kandinsky/Klee bereits nach 1990 rekonstruierend restauriert worden sind, wurde der Umgang mit dem Direktorenwohnhaus von Gropius lange Zeit kontrovers diskutiert. So stritt man darum, ob das an seiner Stelle in den Fünfzigerjahren gebaute Satteldachhaus «Emmer» – auf dem Fundament und Keller des Gropius-Hauses errichtet – nicht selbst als ein Dokument des Umgangs der DDR mit dem Erbe der Moderne zu erhalten wäre. Und wie sollte das nur noch zur Hälfte vorhandene Meisterhaus Feininger um seinen Bauteil Moholy-Nagy ergänzt werden 

Erschwert wurde die langwierige Dessauer Debatte durch die ebenso energische wie zweifelhafte Einmischung durch Icomos (International Council on Monuments and Sites), das vehement für eine Totalrekonstruktion der Welterbestätte eintrat. Nachdem unter diesen schwierigen Voraussetzungen ein erster Wettbewerb gegen die Wand gefahren wurde, bot das in Berlin arbeitende argentinisch-italienische Architekturbüro von Piero Bruno, Donatella Fioretti, José Gutierrez Marquez (BFM) nach einem zweiten Wettbewerb einen klugen Ausweg aus dem Dessauer Dilemma an, indem es eine anspruchsvolle Alternative zur Rekonstruktion aufzeigte. 

Beabsichtigte Unschärfe

Die Idee von BFM ist, die Kubatur der verlorenen Meisterhäuser in einer gebauten Skulptur aus 37cm dickem monolithischem Dämmbeton nachzuzeichnen. Auf die feingliedrige Detaillierung des Entwurfs von Walter Gropius verzichten sie bewusst. Dabei entsteht eine beabsichtigte «Unschärfe» des Baus, ein augenscheinliches «same same but different» zwischen dem tausendfach publizierten Original und seinem verfremdeten Nachfolger. So sitzen die Fenster der Neubauten zwar an der von Gropius vorgesehen «richtigen» Stelle in der Fassade. Doch sie schliessen bündig mit der Fassade ab und gewähren eben keine Einblicke ins Haus, denn die Oberflächen der Gläser erscheinen durch eine farbliche Beschichtung lediglich transluzent. 

Auf der Gartenseite des Direktorenhauses haben BFM der Komposition von Gropius’ Kuben bautechnisch etwas auf die Sprünge geholfen. Dort, wo beim Bauhausdirektor noch (stets zu retuschierende) Stützen notwendig waren, kann das Obergeschoss nun dank bautechnischer Optimierung stützenfrei auskragen. Gleichzeitig wurde das «originale» Kellergeschoss des Gebäudes erhalten, samt dem Gropius’schen Weinregal. Diese Vorgabe zieht allerdings denkmalpflegerische Grenzfälle nach sich, denn im «originalen» Keller wurden auch die baulichen Veränderungen der jüngsten Nachwendezeit beibehalten, samt grau melierter Bodenfliesen und Kunststofffenster. Bauhaus goes Baumarkt! 

So entlarvt die Akribie im Kellergeschoss des Direktorenwohnhauses den Umgang mit dem übrigen Gebäude als eine der typischen denkmalpflegerischen Inkonsequenzen; eine Bewahrung aller Zeitschichten hätte auch die Erhaltung von Haus «Emmer» bedeutet. Trotzdem wächst nun ein wunderbar verfremdeter Gropius auf der alten Bodenplatte empor (fein durch eine absetzende Fuge gekennzeichnet), der künftig als dringend benötigtes Besucherzentrum für die Meisterhäuser dienen wird. Auferstanden aus Ruinen ist selbst die später in der Gartenmauer eingefügte und überraschend niedrige Trinkhalle. Kommt man vom Bauhausgebäude, markiert sie den Eingang zur Meisterhaussiedlung. 

«Artefakt» aus Holz

Auf die neue Nutzung ist auch das Innenleben des Hauses ausgerichtet, ein «Artefakt» aus Holz, wie es die Architekten benennen: Die hölzernen Einbauten mit verputzten Oberflächen sollen die einstige Grundrissorganisation des Hauses erlebbar machen. In erster Linie aber ist es eine faszinierende gebaute Skulptur. Eine zusätzliche Schicht erhält sie durch die Wandgestaltung von Olaf Nicolai. Sein Kunstwerk behandelt die Wandflächen des Artefakts mit geometrischen Texturen und zeichnet darauf sehr zarte (und hoffentlich nicht über die Massen empfindliche) Variationen von Weiss an die Wand, die im Wechsel des Lichts ihren Charme entwickeln. 

Während Bruno, Fioretti, Marquez im Direktorenwohnhaus von Gropius durch die Erhaltung des historischen Kellergeschosses in der Konzeption des Grundrisses beschränkt waren, entfalten sie in der Doppelhaushälfte Moholy-Nagy ihre ganze raumschaffende Architekturqualität. Dort beziehen sie den Keller für die neue Nutzung durch das Kurt-Weill-Zentrum mit ein, das die Räumlichkeiten für Veranstaltungen nutzt. Ihr frei stehendes «Artefakt», erneut von Olaf Nicolai in samtigen Weisstönen bearbeitet, entwickelt sich hier über alle drei Ebenen des Hauses. Das ermöglicht eindrucksvolle Blickbeziehungen, die quer durch das Gebäude gehen und der Raumskulptur eine fast schon monumentale Note verleihen. 

Wie schon in früheren Projekten schafft das Architektentrio ein gleichermassen überraschendes wie überzeugendes räumliches Erlebnis. Es gelingt ihm, den klassischen Kuben der Bauhausmoderne eine weitere bauliche und intellektuelle Schicht hinzuzufügen. Das ist fraglos Architektur für Fortgeschrittene, die den Spagat zwischen dienender Funktion und eigenständigem Kunstwerk auf eindrucksvolle Weise meistert. Auch jene Besucher des Bauhauses, die noch nicht mit dessen wechselhafter Geschichte vertraut sind, erkennen dank der klugen Intervention auf den ersten Blick, dass es sich bei den neuen Meisterhäusern weder um das Original handeln kann noch um eine (rekonstruierte) Fälschung – sondern um eine meisterhafte neue Zeitschicht für das Ensemble der Meisterhäuser. 

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