Neue Standards und Vorschriften für die Gebäudeenergie
Die Klimapolitik verändert die Bewertungslogik im Gebäudesektor: Die meisten Kantone verzichten auf eine Begrenzung der direkten CO2-Emissionen und gestatten ein Abwägen zwischen zusätzlicher Dämmung und mehr erneuerbarer Energie.
Ein wichtiges Marktcredo lautet «Konkurrenz belebt das Geschäft». Für die Klimapolitik ist der Föderalismus ein ähnlich belebender Faktor. Vor drei Jahren scheiterte die Revision des nationalen CO2-Gesetzes an der Urne. Das Stimmvolk lehnte damals ein Begrenzen der direkten Treibhausgasemissionen aus dem Gebäudebereich ab. Inzwischen verbieten die Kantone Zürich, Glarus, Wallis und Basel-Stadt eine Neuinstallation von Öl- oder Gasheizungen dennoch fast ausnahmslos. Auch der Kanton Aargau möchte ein Fossilverbot zumindest für Neubauten einführen; beim Heizungsersatz wären Öl oder Gas jedoch weiterhin opportun. Die Beratungen über die kantonale Gesetzesrevision sind noch im Gange.
Viele andere Kantone vollziehen bereits derart differenzierte Energievorschriften. Bei Neubauten erhält eine Baubewilligung nur, wer die eigene Heizung mit erneuerbarer Energie betreibt oder sich einem klimafreundlichen Fernwärmenetz anschliesst. Beim Heizungsersatz bleiben fossile Brennstoffe dagegen erlaubt – falls die Gebäudehülle sehr gut gedämmt ist und zumindest das Brauchwasser CO2-frei erwärmt wird.
Mindestquote für Solarstrom
Auf gesetzlicher Ebene erweitern die Kantone ihre Bewilligungspraxis – bisher mit Fokus auf Sparsamkeit und Energieeffizienz – um die Pflicht zur Versorgung mit erneuerbarer Energie. Die meisten haben sogar eine Mindestquote für die eigene Solarstromproduktion festgelegt. Doch den kantonalen Energiedirektionen genügt das nicht. Sie kündigen für 2025 eine Revision der Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich (MuKEn) mit dem Titel «Das Gebäude wird zum Energiehub» an.
Laut den Verantwortlichen der Energiedirektionen soll ein Ausbau der Eigenversorgung sicherstellen, dass die Dekarbonisierung des Gebäudebestands nicht zum Bumerang wird. Die eigene Produktion von Solarstrom diene nämlich dazu, den wachsenden Bedarf für Wärmepumpen und Elektroautos vor Ort zu decken. Und eine lokale Photovoltaikanlage auf dem Dach oder an den Fassaden helfe dabei, auch die öffentliche Stromversorgung nicht überzustrapazieren.
CO2-Bilanz oder Gesamtenergieeffizienz?
Eine klimaspezifischere Vollzugsoption wählt Solothurn. Auch hier läuft eine Gesetzesrevision. Die Pflicht zur Eigenstromerzeugung soll mit der einst verworfenen nationalen Idee von CO2-Grenzwerten für Heizungsanlagen kombiniert werden. Solange diese Limite nicht auf null gesetzt wird, wären fossile Brennstoffe jedoch erlaubt. Die ersten Reaktionen auf die Vernehmlassung fielen eher ablehnend aus. Bis zur Bereinigung wird Solothurn als letzter Kanton die MuKEn-Version 2008 anwenden und die Wärmewende im Gebäudebereich nicht per Gesetz anordnen können.
Eine andere Strategie wählte der Kanton Bern. Seit 2023 spielt der Nachweis des Heizwärmebedarfs nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Bewilligungsbehörden kontrollieren zuerst bei jedem Neubau die gewichtete Gesamtenergieeffizienz. Diese Richtgrösse bilanziert einheitlich alle Wärme- und Stromflüsse innerhalb des Gebäudesystems. Selbst produzierter Solarstrom darf darin mit dem Wärmebedarf für die Heizung oder dem Strombedarf für die Beleuchtung gegengerechnet werden.
Mit dem Wechsel zur Gesamtenergieeffizienz vergrössert sich der Spielraum für Gebäudeplaner und Bauherrschaften. Entweder können sie mehr dämmen oder mehr lokale Energie gewinnen. Das flexible Abwägen lässt bei kleinen Wohnhäusern allerdings eine Hintertüre für das fossile Heizen offen: Dachflächen sind meistens gross genug, um mithilfe von Photovoltaikanlagen deutlich mehr als nur den eigenen Strombedarf abzudecken. Und selbst überschüssige Erträge, die eigentlich ins Netz abgegeben werden, lassen sich teilweise für die eigene Gebäudebilanz gutschreiben, etwa zur Kompensation des verbleibenden fossilen Energiekonsums.
Der Berner Effizienznachweis ist allerdings keine Neuerfindung. Bereits der Gebäudeenergieausweis der Kantone (GEAK) bewertet die Gesamtenergieeffizienz, indem er den Eigenstromertrag vom Energiebedarf für Heizung, Warmwasser, Lüftung, Beleuchtung und Klimatisierung subtrahiert. Und bis vor wenigen Monaten war eine solche Bilanzierung auch im Zertifizierungsverfahren des freiwilligen Gebäudestandards «Minergie» verlangt.
Labels zählen auch CO2-Emissionen
Das Gebäudelabel «Minergie», das vor über 20 Jahren als Sparsamkeitsstandard eingeführt wurde, hat sich inzwischen zu einem Klimavorreiter gewandelt. Das Update für 2023 erlaubt fast nur noch fossilfreie Gebäudenutzungen. Zudem wird erstmals die Erstellungsphase in der CO2-Buchhaltung mitgezählt. Allerdings bleiben beide Bereiche bei der Beurteilung fein säuberlich getrennt: Der CO2-Ausstoss im Betrieb kann nicht mit den Emissionen der vorangegangenen Erstellung auf- oder abgerechnet werden. Die Bilanzierungsmethode für direkte Emissionen ist nicht kompatibel mit derjenigen für die indirekte Treibhausgasbilanz.
Diese Lücke will der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA mit einer Lebenszyklusbetrachtung schliessen. Die Norm SIA 390 Klimapfad liegt seit letztem Jahr als Vorschlag für eine umfassende Dekarbonisierung des Gebäudebereichs vor. Wie ihr Vorgänger, der SIA-Effizienzpfad Energie, erfasst und begrenzt sie die Treibhausgasemissionen von Gebäuden auf einheitlicher Basis über den gesamten Lebenszyklus – von der Rohstoffgewinnung für das Baumaterial bis zum Rückbau.
Ist Netto-Null berechenbar?
Die lebenslange Klimabilanzierung stützt sich auf etablierte Planungsmethoden und erlaubt – analog zur Effizienzbeurteilung im Kanton Bern – ein übergeordnetes Abwägen: Soll ein Gebäude besser gedämmt werden oder ist dafür der Materialbedarf zu gross? Und muss nicht auch eine PV-Anlage hinsichtlich ihrer grauen Energie optimiert werden? Über die gesetzlichen Vorgaben hinaus soll der SIA-Klimapfad die Bauherrschaften an ihre Produkteverantwortung erinnern.
Wird dieses Planungsinstrument eingeführt, lassen sich damit erstmals einheitliche Informationen zum CO2-Ausstoss aus allen Gebäudelebensphasen sammeln. Die Promotoren erhoffen sich davon auch, die jüngsten Erkenntnisse über eine CO2-Speicherung in Gebäuden für die Praxis aufzubereiten. Erwartet wird etwa, dass der SIA-Klimapfad die Vorzüge einer klimafreundlichen Holzbauweise nachvollziehbar bilanzieren kann.
Während die Vorgaben der Kantone und der Gebäudelabels den Stand der Technik berücksichtigen und auf breiter Basis anwendbar sind, peilt der SIA eine Bau-Avantgarde an. Die Ziele im Klimapfad sind so streng definiert, dass sie nur von wenigen erfüllbar sind. Und selbst diese dürfen sich erst Vorreiter eines Netto-Null-Gebäudes nennen. Denn auf netto null Treibhausgasemissionen lässt sich derzeit kein einziges Hochbauprojekt trimmen.
Zwar streben Bund und Kantone dieses Ziel ebenfalls an. Doch mit der Ablösung des Heizwärmebedarfs durch eine Gesamtenergieeffizienz ist es kaum getan. Umso mehr ist zu hoffen, dass sich die Standards und Vorschriften gegenseitig bereichern und die aktuelle Vielfalt zum Motor für das klimaneutrale Bauen wird.
Wie misst Europa die Klimabilanz seiner Gebäude?
Die EU-Behörde berät aktuell über eine Revision der Gebäuderichtlinie (European Performance of Building Directive EPBD) mit dem Ziel eines CO2-freien Immobiliensektors ab 2040. Das «nearly zero emission building» soll über eine Reduktion des Wärmebedarfs und des Primärenergiekonsums – kombiniert mit einer solaren Eigenproduktion – erreicht werden. Den Mitgliedstaaten werden dazu Zielwerte für die Dekarbonisierung und Effizienzsteigerung empfohlen. Dies hält die einzelnen Länder allerdings nicht davon ab, das klimaschonende Bauen mit höchst unterschiedlichen gesetzlichen Mitteln zu vollziehen.
Deutschland begrenzt den Fossilanteil für Neubauten im 2024 eingeführten Gebäudeenergiegesetz (GEG) auf 35 %. Vollständig emissionsfrei soll der Gebäudesektor erst ab 2044 sein. Österreich definiert jetzt schon verbindliche Kennwerte für den direkten CO2-Ausstoss sowie den Heizwärme- und Primärenergiebedarf. Finnland ist daran, Grenzwerte auch für indirekte Emissionen aus der Bau-Lieferkette einzuführen; Dänemark, die Niederlande und Schweden wollen diesem Beispiel folgen.
Derweil gilt das französische Regelwerk «RE 2020» europaweit als das fortschrittlichste: Vorschriften für die Mindestenergieeffizienz werden mit Höchstwerten für die nutzungsbedingten sowie produktionsspezifischen Treibhausgasemissionen kombiniert.