Neu­es Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum

Zentrum Europaplatz

Die Infrastrukturen von Eisenbahn und Autobahn schlugen in Ausserholligen bislang eine unüberwindbare Bresche in den Stadtkörper zwischen Bern und Bümpliz. Eine landschaftsarchitektonische Intervention schafft die ­Vor­aussetzungen für ein Vernarben der städtebaulichen Wunde. Mit seiner Masse und den verschiedenen Nutzungen zieht das Gebäude städtisches Leben an.

Publikationsdatum
17-04-2018
Revision
17-04-2018

Wo heute das Zentrum Europaplatz steht, war früher ein unwirtlicher Flecken der Hauptstadt. Der Ort hatte nicht einmal einen eigenen Namen: Er hiess schlicht Haltestelle Ausserholligen, oder – benannt nach dem Betrieb, der auf dem kleinen Industriegebiet Karosserien und Seilbahnen fertigt – Gangloff-Areal. Neben den zwei Bahnhöfen gab es nicht viel mehr, was Passanten hätte anziehen können. Eine beklemmende Unterführung duckte sich unter den Gleisen der SBB hindurch, zudem überquerte auf mächtigen Stützen die Autobahn die ­Szenerie. Es war einer dieser Unorte, einer Zeit entsprungen, in der Infrastrukturprojekte Vorrang hatten gegenüber Durchlässigkeit oder den Bedürfnissen des langsamen Verkehrs.

Heute zeigt sich der Europaplatz als belebter und einladender Ort. Er ist das Resultat einer verblüffenden Verwandlung: Seinen grossstädtischen Charakter konnte der Ort bewahren – aber anstatt Passanten zu vertreiben, verbreitet der Platz heute eine positive, lebhafte Urbanität und zieht dadurch ein breites Publikum an. Das Zentrum Europaplatz ist das neue ­Gravitationszentrum geworden an der Grenze zwischen der Innenstadt und den Quartieren in Berns Westen.

Verkehr auf allen Ebenen

Auch wenn der Platz sich gewandelt hat, sind die Rahmenbedingungen unverändert geblieben: Die alte Landstrasse nach Freiburg kommt hier vorbei – heute heisst sie Freiburgstrasse und ist eine vielbefahrene Ausfallachse Richtung Westen. Bereits seit 1860 begrenzt die Eisenbahnlinie nach Lausanne den Perimeter im Norden. 1901 kam die Bahnstrecke nach Neuenburg hinzu, von der kurze Zeit später die Dekretsbahn ins Gürbetal und nach Schwarzenburg (GBS) abgezweigt wurde. Diese unterquert die Lausanne-Strecke und die Freiburgstrasse in einer engen Kurve und durch eine tiefe Schlucht – der heutige Bahnhof der BLS (früher Bern–Lötschberg–Simplon-Bahn). In den 1970er-Jahren entschlossen sich die Erbauer der A12, mit einer mächtigen Autobahnbrücke über das Ganze hinwegzusetzen.

Autobahn und Schienen schneiden auch nach dem Umbau tiefe Kerben in den Stadtkörper zwischen Bümpliz und Bern. Die Haltestelle der BLS unter Strassenniveau strahlt eine überraschend raue Metropolitanität aus. Wer hier aussteigt, wähnt sich in einem Vorort von Paris oder einer nordamerikanischen Grossstadt. Die Wände sind voller Graffiti, und die Brüstungen der Treppen sind so massiv, dass sie allen Hooligans, Vandalen und den Streichen von Nachtbuben standhalten. Weit filigraner erscheint Rolf Mühlethalers 1997 in Betrieb genommener Bahnhof an der SBB-Linie. Was ebenfalls über all die Jahrzehnte Bestand hatte: das Vereinslokal des BMEC (Berner Modell-Eisenbahn-Clubs) unter der Autobahnrampe. Die Baracke in der nördlichsten Spitze des Areals hat seit ihrer Einweihung 1986 allen Veränderungen getrotzt und den Platz zwischen den Gleisen ver­teidigt – auch nach der neuesten Verwandlung. Kurzum: Das Gebiet ist die Inkarnation eines Verkehrsknotenpunkts und ein Gordischer Knoten von urbanen Dimensionen.

Lange Entwicklung

Den entscheidenden Anstoss zur städtebaulichen Entwicklung gab 1989 die Einstufung Ausserholligens als kantonaler Entwicklungsschwerpunkt (ESP). In der Folge entstanden die beiden Bahnhöfe, von denen die wachsende Pendlergemeinde auf die damaligen Bümplizer Buslinien umsteigen konnte. Die Umsteigeverbindung wurde mit einem Park-and-Ride-Angebot zusätzlich aktiviert. Da das ESP-Konzept auch ein Arbeitsplatzprogramm war, errichtete der Bund hier Ende der 1990er-Jahre den neuen Hauptsitz der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza, der mit seiner gekurvten Westfassade den Radius der Gürbetalbahn nachzeichnet.

Die Stadtplanung hat das Problem Ausserholligen – und damit ebenso das Potenzial des Orts – seit Langem erkannt. 1998 wurde ein Europan-Wettbewerb unter dem Titel «Gangloff» durchgeführt. Das siegreiche Projekt wurde zur Basis des Zentrums Europaplatz, dessen Realisierung allerdings vom ersten Baugesuch bis zur kürzlich erfolgten Eröffnung ein gutes Jahrzehnt in Anspruch nahm (vgl. «Es war der Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit»). Aus der Zeit des Wettbewerbs stammt auch die Idee, die Brache unter der Autobahn auf den nicht ganz unprätentiösen Namen Europaplatz zu taufen.

Im Rücken der Quartiere

Solche Entwicklungen an gut erschlossenen Arealen kennt die Schweiz seit geraumer Zeit. Mit der Renaissance der Stadt haben Entwickler und Behörden das Potenzial an den Knotenpunkten der S-Bahnen erkannt und deren Aufwertung und Verdichtung eingeleitet. Der Strom der Menschen an den Rändern der grossen Städte schafft eine ideale Basis für gemischte Nutzungen, denn meistens sind die Pendlerinnen und Pendler auf dem Weg zwischen ihrem Wohn- und Arbeitsort. An diesen Stellen mit erhöhter Dichte und gemischten Funktionen können Gebäude entstehen, in denen sie einkaufen oder etwas unternehmen können.

Die Ausgangslage am Europaplatz war ähnlich, jedoch städtebaulich ausgesprochen schwierig. Denn die Bahn- und Autobahninfrastrukturen machen den Raum auf mehreren Geschossen unpassierbar. Eine besondere Herausforderung bildeten zudem die städtischen Strukturen rund um das Areal: Mit vereinzelten Wohnhäusern und mehreren Werkhöfen haben sich die Quartiere zwar von verschiedenen Seiten an diese Bruchstelle herangetastet, gleichwohl ist es nie gelungen, Bern und Bümpliz hier baulich verwachsen zu lassen.

Die benachbarten Quartiere kehren dem Europaplatz den Rücken zu. Die Strukturen orientieren sich auf die lokalen Zentren – deshalb kann das Zentrum Europaplatz kaum an seine Umgebung anknüpfen, zusätzlich sind die städtebaulichen Spielräume unter der Autobahn eingeschränkt. Die wichtigste Frage lautete deshalb: Wie kann man den Ort mit den benachbarten Quartieren vernetzen?

Absenken und neu verknüpfen

In dieser Frage spielt der eigentliche Europaplatz eine entscheidende Rolle. Nur eine hochwertige Gestaltung des Aussenraums konnte die Qualität des Orts steigern – die Anziehungskraft des Gebäudes mit seinen Geschäften, Büros und dem Haus der Religionen verstärkt lediglich den positiven Effekt. Der Platz schliesst die Bresche zwischen Bern und Bümpliz und schafft die Voraussetzungen dafür, dass die städtebauliche Wunde vernarben kann. Seine Gestaltung negiert den rauen Charakter des Gevierts nicht, aber sie transformiert ihn zu einem Ort, der zur mobilen Gesellschaft passt, die immer in Bewegung zu sein scheint.

Für die Projektierung des Europaplatzes erhielten extra (ehemals 4d) Landschaftsarchitekten einen Folgeauftrag, da sie bereits den Tramabschnitt Loryplatz–Europaplatz in Richtung Zentrum entworfen hatten. Die Aufgabe lautete, dem Verkehrsknotenpunkt städtebauliche Qualitäten einzuschreiben und die verschiedenen Andockstellen der Stadt über einen neuen Platz miteinander zu verknüpfen. Denn nicht nur die Siedlungen zeigen dem Platz ihren Rücken, ebenso endeten die Wege und Strassen unvermittelt an der Grenze zur ehemaligen Brache. Die Platzfläche sollte eine sichere und übersichtliche Verbindung zwischen den recht weit auseinander gelegenen Bahnhöfen und der Tramhaltestelle bieten und die verschiedenen Strassen- und Terrainanschlüsse verbinden. Zudem war die Veloroute Richtung Ladenwandweg in das Projekt zu integrieren, da sie den Platz an zentraler Stelle überquert.

Die Platzgestaltung entstand innerhalb verhältnismässig kurzer Zeit parallel zum Ausführungsprojekt für das Zentrum Europaplatz, dessen Erdgeschoss sich mit einem Detailhandelsgeschäft und einem Restaurant gegen den Raum unter der Autobahnbrücke öffnet. Der fertige Platz wird von vielen Besucherinnen und Besuchern kaum als Resultat eines gestalterischen Eingriffs wahrgenommen. Dies verweist auf einen elementaren Entwurfsansatz, der sich an den vor Ort vorhandenen Elementen orientiert. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildet Rolf Mühlethalers Bahnhof. Mit der überarbeiteten Unterführung im Bereich des Ladenwandwegs weitet sich der Platz bis auf die nördliche Seite der SBB-Linie.

Die wichtigste Entscheidung lag darin, das Platzniveau abzusenken. Eine radikale Massnahme, die die Beziehungen zur Stadt massgeblich verändert: Es entsteht ein Sichtkorridor über den ganzen Platz hinweg bis zur Brücke der Freiburgstrasse, die die BLS-Linie überquert. Diese bildet die stadtseitige Pforte zur Platzanlage und dient gleichzeitig als Zugang zum BLS-Bahnhof.

Der funktionale Zusammenhang wird neu geordnet, denn zwischen allen Anschlüssen der Peripherie wird ein selbstverständlicher räumlicher Zusammenhang geschaffen. Als wäre der Stöpsel gezogen worden, umspült das abgesenkte Terrain die Autobahnpfeiler, deren Fundamente aus der Asphaltfläche ragen. Das Vereinshaus des BMEC ragt auf seinem Sockel aus der Fläche heraus und wirkt nun wie ein städtebauliches Readymade. Dass die als Vereinshaus genutzte Baracke nicht vom Platz verbannt wurde, hatte zwar pragmatische Gründe, es wurde aber auch als Chance erkannt: Das Gebäude gibt der Anlage nun eine surreale Note.

Möblierung und Gestaltung

Indem das Niveau abgesenkt und die Unterführung verbreitert wurden, entstand aus dem Verkehrsknoten ein funktionierender Platz. Doch für Atmosphäre und Stimmung waren die Details der Planung entscheidend. Dank ihnen wurde der Platz veredelt und gestalterisch aufgewertet: zum Beispiel die abgetreppten Sockel um die Autobahnpfeiler. Auf ihnen lässt sich ungezwungen unter dem Dach der Autobahn sitzen, und durch sie verschmelzen Platz und Hochbahn zu einer Einheit. An ihnen wird die Neigung der Asphaltfläche sichtbar, an der Oberseiten der Podeste zeichnet sich der ehemalige Terrainverlauf ab.

Im Kopfbereich ist um jeden Autobahnpfeiler eine Manschette mit eingebauten Punktstrahlern gelegt. Diese Beleuchtung zieht einen strahlenden Vorhang um die Pfeiler und bringt sie dadurch hell zum Leuchten. Im Streiflicht sticht jedes Detail der betonierten Oberfläche plastisch heraus; die Stofflichkeit tritt überdeutlich hervor. Treppenpodeste und Lichtmanschetten deuten die nüchternen Pfeiler zu Säulen um. Der überdachte Platz erstrahlt als festlicher Lichterdom, dessen Decke, die Fahrbahnplatte der Autobahn, aus der Wahrnehmung im Dunkel entschwindet.

Der Europaplatz bleibt weiterhin eine städtebauliche Ausnahmesituation. Seine Gestaltung beschönigt nichts. Mit den Mitteln des Erhabenen – Stoff, Licht, Atmosphäre – wird die Platzanlage verfremdet und dadurch kultiviert. Dem einstigen Unort werden Sorgfalt und Respekt entgegengebracht, wodurch es gelingt, ihn bewohnbar zu machen. Die Elemente, die früher zu seiner Hässlichkeit und Lieblosigkeit beigetragen hatten, bieten sich nun als Medien der Aneignung an.

Wenn sich abends Passantinnen und Pendler unter die Jugendlichen mischen, die die Anlage mit ihren Skateboards bereits fest in Beschlag genommen haben, dann wird deutlich, dass sich dieser Ort auch in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit vom städtebaulichen Aschenbrödel in eine urbane Prinzessin verwandelt hat.

Dialog auf mehreren Ebenen

Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die beiden Bahnen mit ihren Infrastrukturen zum wichtigsten Aktivposten des Projekts geworden sind. Heute scheint es, dass die Pendlerströme die Richtung gewechselt haben: Führten sie einst von der Stadt über Ausserholligen hinaus in die Peripherie, sind die Menschen nun näher ans Zentrum gerückt und pendeln vom Europaplatz ins Zentrum – auch abends, wenn sie in ihrer Freizeit in die Innenstadt fahren. Gleichzeitig zieht insbesondere das Haus der Religionen Menschen aus einer weiteren Umgebung an.

In den veränderten Vektoren zeigt sich die neue Bedeutung der Städte: Erst durch diesen Wandel sind Siedlungen wie das Zentrum Europaplatz für die Mieterinnen und Mieter attraktiv geworden (vgl. «Homebase für urbane Nomaden»). Eine Wohnung in der Stadt hat inzwischen ein hohes Prestige. Und dank der Gestaltung des Platzes gedeiht nun das städtische Leben unter der Autobahn – geschützt vor sengender Sonne und strömendem Regen. Was einst drückend erschien, wird heute als schützendes Dach empfunden. Es brauchte einen langen Atem und viel Durchhaltewillen, aber die Metamorphose scheint vollendet.

Dass heute im Zentrum Europaplatz die Religionen einen gemeinsamen Auftritt wagen, unterstreicht den gesellschaftlichen Wandel, in dem das Projekt entstanden ist. Damit schliesst sich der Kreis auf mehreren Ebenen: Die Schweiz hat in den letzten 20 Jahren den Schritt zu einer städtischen Identität vollzogen – gleichzeitig sind die Minderheiten mit ihren Kulturen und Religionen viel sichtbarer geworden. Städtebau und Programm bringen dies am Europaplatz zum Ausdruck: Der Zusatz im Namen des Hauses der Religionen drückt die treibende Kraft dahinter aus: «Dialog der Kulturen». Dieser Dialog durchdringt das Gebäude und den Platz auf allen Ebenen. Eine bessere Bezeichnung hätte das Projekt kaum erhalten können.

Urbaner Magnet

Doch wie wirkt sich das Zentrum Europaplatz auf seine unmittelbare Umgebung aus? Zusammen mit dem Platz bildet es das neue Tor zu Berns Westen; es ist der Dreh- und Angelpunkt an der Grenze zur Innenstadt. Diese städtebauliche Präsenz war bereits im Siegerprojekt des Europan von 1998 angelegt. Von Anfang an postulierte es eine urbane Anziehungskraft: Wie in einem Physikexperiment, bei dem sich lose gestreute Metallspäne den Feldlinien entlang ausrichten, wird das Zentrum Europaplatz das Kräfteverhältnis an der Bruchlinie zwischen den Quartieren neu definieren.

Werden sich die Siedlungen an ihren Rändern auf dieses Zentrum ausrichten? Wie werden sie auf den neuen Pol reagieren? Diese Fragen lassen sich im Moment noch nicht beantworten, doch mit der ersten Etappe ist ein bedeutender Schritt getan, um das Motto des damaligen Europan-Wettbewerbs umzusetzen: «Mobilität und Nähe – Neue Landschaften urbanen Wohnens». Die weiteren Etappen sind bereits in Planung, der Wandel in vollem Gang: Am Europaplatz formt Bern eine eigene Identität, zwischen Innenstadt und Peripherie.

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