«Nicht je­der schätzt die Plat­te so wie wir»

Interview mit BHSF Architekten

Was treibt drei junge Architekten aus Zürich nach Belgrad? Zusammen mit der lokalen Szene engagieren sich BHSF Architekten für den Architekturdiskurs in Serbien und lernen Chancen und Probleme von Belgrad kennen.

Publikationsdatum
11-06-2014
Revision
18-10-2015

Das Architekturbüro BHSF macht nicht nur Architektur. Die drei Gründer Benedikt Boucsein, Axel Humpert und Tim Seidel geben gemeinsam mit Jeannette Beck auch die Zeitschrift «Camenzind» heraus und suchen den Austausch mit anderen Kulturen. Bei einem Projekt in Tansania lancierten sie die erste Architekturzeitschrift des Landes, und im vergangenen Jahr lebten sie abwechselnd für einige Zeit in Belgrad. Aus dem Kontakt zur serbischen Architekturszene ist eine enge Zusammenarbeit entstanden: Mittlerweile sind bereits vier Ausgaben von «Kamenzind» in Belgrad erschienen.

TEC21: Ihr habt ein Jahr lang eine Wohnung in Belgrad gemietet. Wie kam es dazu?
Axel Humpert: Wir wurden von Tim Rieniets und dem Goethe-Institut eingeladen. Er bat uns, für sein Projekt «Urban Incubator: Belgrade» ein Heft zu publizieren. Die Reise- und Hotelkosten hätten jedoch das Budget aufgefressen, und so bin ich nach Belgrad geflogen und habe eine Wohnung in Neu-Belgrad gesucht, also in der sozialistischen Erweiterung der Stadt jenseits des Flusses Save. Mit Hilfe eines Freundes haben wir im Block 1, im ersten Block der Überbauung, eine Dreizimmerwohnung bekommen.

Wie ist die Situation der Architekten in Serbien heute?
Benedikt Boucsein: Man spürt den Stillstand oder auch die ökonomischen und sozialen Probleme, aber andererseits ist ein unglaubliches Potenzial da, sehr viele interessante Leute, die da leben und arbeiten. In Zürich hat man das Gefühl, es sei alles schon gebaut. In Belgrad sehe ich viele Gebäude, die man umbauen könnte. Als Architekt sieht man einfach die Arbeit, die da wartet.
Humpert: Aber ich glaube, den Blick hat man nur, wenn man von aussen kommt. Wenn man selber in Belgrad lebt, muss man sich nichts vormachen. Da sind viele über die Jahre einfach desillusioniert zurückgeblieben. Wenn man dann jemanden fragt, 35 Jahre alt, Akademiker, promoviert: «Wo willst du hin, was willst du machen », dann sagen die alle: «Ich will hier weg.» Ganz selten, dass man mal jemanden trifft, der sagt, er möchte da bleiben und er sehe eine Zukunft. Aber es gibt auch eine nachfolgende Generation, zehn Jahre jünger, die nicht zynisch ist, die mit vollem Elan an die Dinge glaubt.
Boucsein: Und sie arbeiten in so einer Art Tabularasa-Situation. Viel mehr als wir. Also nicht mit dem ganzen ETH-Rucksack mit Märkli und Šik im Gepäck. Sie haben das Gefühl einer grossen Freiheit und stehen irgendwie am Anfang von etwas.

Spielt denn die Jugoslawische Moderne keine Rolle mehr in der Praxis?
Humpert: Die Architekten, die ich getroffen habe, sehen den sozialistischen Modernismus ambivalent. Nicht jeder weiss die Platte so zu schätzen wie wir. Und es liegt vielleicht auch ein bisschen am Erbe. Die Leute leben da nicht, weil sie unbedingt da leben wollen, sondern weil sie einfach die Wohnung ihrer Eltern übernommen haben und es sich auch nicht leisten können, umzuziehen.
Tim Seidel: Ich hatte das Gefühl, dass der ganze Modernismus mit einer Bürgerlichkeit konnotiert war, mit etwas Spiessigem, weil es so eine Wohngegend ist, wo man halt lebt – weder besonders heruntergekommen und gefährlich noch irgendwie besonders hip.
Boucsein: Also, es ist wie überall im ehemaligen Ostblock. Dieses Erbe wird nicht sehr wertgeschätzt, und der Blick ist nach Westen gerichtet, auch formal. 
Humpert: Genau das finde ich erstaunlich. Serbien war Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft. Das taucht im Diskurs gar nicht auf, aber man fragt sich doch manchmal, was wäre, wenn sich eine Entwicklung Richtung Orient einstellen würde. Unwahrscheinlich, aber interessant.

Ihr habt mit «Kamenzind» vier Hefte zu Belgrad herausgegeben. Was nehmt ihr mit?
Seidel: Dass wir weitermachen wollen. Und dass wir mit «Kamenzind» in Serbien etwas Längerfristiges aufbauen wollen, das sich von uns emanzipiert und nicht an uns oder unser Büro gebunden ist. Persönlich finde ich den Austausch sehr bereichernd.
Humpert: Als wir nach Belgrad kamen, gab es keine Architekturzeitschrift mehr, keine öffentliche Debatte. Nicht weil es die Leute hierzu nicht gäbe, sondern weil sie glaubten, dass man sie so oder so nicht hört und dass das keiner liest. Und jetzt waren beim Launch der vierten Ausgabe viele dabei, die zum vierten Mal geschrieben haben.
Boucsein: Die Architekturkritik wird wieder ernster genommen. Es gibt auch einen Preis, der wieder ausgeschrieben wurde. 
Humpert: Stimmt. Es gibt den Architektur­salon in Belgrad – seit 40 Jahren, glaube ich –, und es gab noch nie einen Architekturkritikpreis in diesem Salon. Und den hat die Autorin Ljubica Slavkovi  gewonnen, die jetzt auch Mitherausgeberin von «Kamenzind» in Belgrad ist. Also, das sind einfach ganz coole Momente. Solche Erlebnisse hat man in der Schweiz nicht.
Boucsein: Ivan Kucina, ein Dozent aus ­Belgrad, war bei uns im Werkstattgespräch und meinte zudem, dass der Rest von Europa in 20 Jahren so sein wird wie Belgrad jetzt, also durch Temporäres und Unsicheres geprägt. Er meinte, dass wir für unsere eigene Zukunft viel von Belgrad lernen könnten.
Humpert: Um es mit seinen Worten zu sagen: «We are the avantgarde.»

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