Ein Gesetz mit Geschichte und Potenzial
Das Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) entstand einst aus der Notwendigkeit, der Schweiz den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu sichern. Bei der Totalrevision im Jahr 2019 standen die Stärkung des Qualitätswettbewerbs und Nachhaltigkeitsziele im Vordergrund. Ein kurzer Abriss über ein für die Planungsbranche wichtiges Gesetz.
Es waren klare Worte, die der Wirtschaftsjournalist Willy Linder 1988 in der Oktoberausgabe der «Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur» fand. Linder war Mitglied der Eidgenössischen Kartellkommission und äusserte sich unter dem Titel «Helvetischer Submissionswirrwarr» zu den Missständen im hiesigen Beschaffungswesen.
Protektionismus statt Wettbewerb
Linder schrieb unter anderem: «Submissions- und Einkaufsordnungen nicht weniger Gemeinden und Kantone gleichen eher einer Heimatschutzveranstaltung. Restriktionen der verschiedensten Art bewirken eine mehr oder weniger penetrante Protektion zugunsten des lokalen Gewerbes. Vom Wettbewerb ist oft nicht mehr allzu viel zu spüren. Die Kartellkommission empfindet die Verhältnisse in den Kantonen Freiburg, Genf, Jura, Waadt und Wallis als besonders gravierend und abschreckend. Die Mittel der Steuerzahler werden durch die öffentliche Hand nicht effizient eingesetzt; vielmehr versickern erhebliche Teile in den Löchern von wirtschaftlich nicht begründbaren Sonderbestimmungen. Es handelt sich bei dieser Problematik nicht um eine Bagatelle oder um einen barocken Schnörkel in der helvetischen Wirtschaftsordnung, sondern um Beträge, die zu Buche schlagen. Der Bund gibt für Einkäufe von Gütern und Dienstleistungen jährlich zwischen 5 und 6 Milliarden Franken aus; und von den Bauinvestitionen entfallen etwa 30 % auf die öffentliche Bautätigkeit. Grund genug also, das Problem ernst zu nehmen und in den richtigen Proportionen zu sehen.»
Linders Griff zum verbalen Zweihänder kam nicht von ungefähr: Ende der 1980er-Jahre war das Schweizer Vergabewesen in der Baubranche lediglich sehr vage und zudem nur auf Verordnungsstufe geregelt. Selbst die im Jahr 1971 in Kraft getretene und damals noch gültige Verordnung über die Ausschreibung und Vergebung von Arbeiten und Lieferungen bei Hoch- und Tiefbauten des Bundes («Submissionsverordnung») liess beachtliche Möglichkeiten zur Umgehung eines öffentlichen Wettbewerbs zu und Rechtsmittel bei Vergabeentscheiden waren praktisch ausgeschlossen. Wenn man Linders Ausführungen glaubt – sie werden mit dem Verweis auf einen Bericht der Kartellkommission über das Submissions- und Einkaufswesen in Bund, Kantonen und ausgewählten Gemeinden belegt –, schöpften insbesondere die Kantone und Gemeinden ihre Möglichkeiten zur Umgehung des Wettbewerbs aus. Wie die weiteren Zeilen in seinem Artikel aber vermuten lassen, ging es Linder nicht um einen Rundumschlag gegen eine Branche oder das Anprangern einzelner Sünder – vielmehr hoffte er wohl zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Disruption, die die Schweizer Beschaffungspraxis mit der Einführung des neuen Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) im Januar 1996 erfahren würde.
Ein Gesetz, das die Planungsbranche massgeblich betrifft
Das BöB war die Konsequenz des Beitritts des Bundes zum internationalen Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (Government Procurement Agreement, GPA) und eine logische Folge, um mögliche Nachteile für Schweizer Unternehmen beim Zugang zum europäischen Binnenmarkt nach der Ablehnung des EWR-Beitritts im Dezember 1992 mit gezielten Massnahmen zu kompensieren. Mit dem BöB wurden grundlegende internationale Verpflichtungen aus dem GPA in die Bundesgesetzgebung übertragen; die bis dahin gewohnte Verschlossenheit im Beschaffungswesen ersetzten Grundsätze wie Marktliberalisierung, Transparenz und Nichtdiskriminierung.
Mehr zur Revision des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) und die Tätigkeiten der AföB finden sich in unserem E-Dossier «Vergabewesen» und auf der Website der AföB
Diese Hintergründe sind relevant, da besonders die Planungsbranche von der Einführung des BöB betroffen war. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Bund als bedeutende Vergabestelle von öffentlichen Aufträgen nämlich nicht verpflichtet, Planungs- und Beratungsmandate öffentlich auszuschreiben. Weil die Submissionsverordnung des Bundes keine Dienstleistungen einbezog und auch nur einzelne Kantone die Beschaffung von derartigen Leistungen mittels Rechtsetzung regelten, kamen Planerinnen und Planer in der Regel über Beziehungen und per Handschlag zu ihren öffentlichen Aufträgen. Oder um es im Ton von Linder auszudrücken: Sie profitierten nicht nur von lokalem Protektionismus, sondern genossen auch Artenschutz.
Angleichung mit Unterschieden
Mit dem BöB wurde der Schweizer Markt für alle GPA-Signatarstaaten geöffnet und fortan mussten sämtliche vom Gesetz erfassten Aufträge – dazu gehörten neu auch Dienstleistungen wie Planungs- und Beratungsaufgaben – über einem bestimmten Schwellenwert öffentlich ausgeschrieben werden. Gleichzeitig erliessen die Kantone mit der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) eine gemeinsame und sich auf den Grundsätzen des Binnenmarktgesetzes abstützende Rahmenordnung, um die GPA-Grundsätze auf subsidiäre Ebenen zu übertragen und gleichzeitig die Submissionsbestimmungen innerschweizerisch zu harmonisieren. Zwar unterlag damit die Vergabe von öffentlichen Aufträgen nach wie vor entweder dem eidgenössischen oder dem kantonalen Vergaberecht und die IVöB wich in einzelnen Punkten wie etwa den Schwellenwerten, den Anforderungen an die Ausschreibung, den Auswahlkriterien oder in Sachen Preisverhandlungen vom BöB ab. Im Grundsatz aber handelten sämtliche Vergabestellen – sofern sie dem BöB unterstellt oder Teil des IVöB-Konkordats waren – nach dem GPA. Dies hatte insbesondere auch für die Anbieter Vorteile: Sie erhielten Zugang zu internationalen Märkten und bekamen zur Durchsetzung ihrer Ansprüche in Sachen Transparenz und Nichtdiskriminierung mit dem öffentlichen Beschwerdeschutz ein Mittel in ihre eigenen Hände gelegt.
Ein wenig fremd mag aus heutiger Sicht anmuten, dass dieser Rechtsschutz bei Beschaffungen der SBB (inklusive NEAT – zumindest bis zur Alpentransit-Verordnung im Jahr 2001) nicht griff, weil die Vergabe solcher Aufträge zunächst nicht im Gesetz, sondern lediglich in der Verordnung über das öffentliche Beschaffungswesen (VöB) geregelt war und demnach keine anfechtbare Verfügung darstellte.
Dynamik in der Gesetzeslandschaft
Die erste Generation des BöB und der zugehörigen VöB aus dem Jahr 1996 erfuhr über die folgenden Jahre ihrer Gültigkeit diverse Überarbeitungen, im Zuge derer unter anderem auch die Sonderstellung der bundesnahen Betriebe fiel. Von grosser Bedeutung für Letzeres und für eine Teilrevision der VöB und der IVöB verantwortlich war das bilaterale Beschaffungsabkommen zwischen der EU und der Schweiz aus dem Jahr 2002. Es erweiterte den Anwendungsbereich des GPA innerhalb der Schweiz auf Bezirks- und Gemeindeebene und unterstellte ihm die Sektoren Schienenverkehr, Telekommunikation, Gas- und Wasserversorgung sowie die Beschaffungen durch private Unternehmen in den Sektoren der Wasser-, Elektrizitäts- und Verkehrsversorgung.
Und nicht nur bilaterale Abkommen, sondern auch innerstaatliche Entwicklungen, politische Anstösse und allem voran die Revision des GPA aus dem Jahr 2012 zwangen die Schweiz, ihre Gesetzgebung laufend anzupassen. Zudem wiesen die geltenden Gesetze von Bund und Kantonen mit den Jahren immer mehr unterschiedliche Regelungen auf und es galt, diese so weit wie möglich zu vereinheitlichen.
Einzigartiger Schulterschluss der Bau- und Planungsbranche
Auf unserer Reise durch die Entstehungsgeschichte des Schweizer Vergaberechts befinden wir uns damit in der Mitte der 2010er-Jahre. Zu diesem Zeitpunkt betrug das Volumen des öffentlichen Beschaffungswesens in der Schweiz bereits rund 40 Milliarden Franken pro Jahr. Allein die Güter- und Dienstleistungsbeschaffung der zentralen Bundesverwaltung belief sich auf mehr als 5 Milliarden Franken. Es geht also um bedeutende Summen und Einflüsse aus dem In- und Ausland, die damals eine Revision der Beschaffungsgesetze erforderten.
Den Wertewandel im hiesigen Planungs- und Baugeschehen dokumentiert ausserdem Band 3 unserer Reihe «Schweizer Ingenieurbaukunst»
An erster Stelle dieser Einflüsse stand das revidierte GPA aus dem Jahr 2012, das als Kernstück eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Wettbewerb enthielt. Neben der Umsetzung des GPA ins nationale Recht war das Hauptziel der Revision eine Angleichung der Beschaffungsordnungen von Bund und Kantonen. Dafür formte sich im Jahr 2012 eine paritätisch zusammengesetzte Arbeitsgruppe (Bund und Kantone), um inhaltlich harmonisierte Revisionstexte für das BöB und die VöB und eine neue IVöB vorzubereiten.
Inhaltlich gesehen war im Zuge der Revision den Anliegen sämtlicher am Beschaffungswesen beteiligten Akteure Rechnung zu tragen; selbstredend auch denjenigen der Baubranche. Um sich in den Revisionsprozess einzubringen, schlossen sich ab dem Jahr 2016 zahlreiche Branchenverbände und -vereine zu einem einzigartigen und bislang noch nie dagewesenen Bündnis – der Allianz für ein fortschrittliches öffentliches Beschaffungswesen – zusammen, bekamen starke Unterstützung von Bauenschweiz (dem Dachverband der Schweizer Bauwirtschaft) und kämpften für eine Stärkung der Qualitäts- und Nachhaltigkeitskriterien bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Sie bewirkten unter anderem die Änderung des Zuschlagsartikels («Das vorteilhafteste Angebot erhält den Zuschlag»), die Erweiterung der gesetzlich genannten Zuschlagskriterien (z. B. «Nachhaltigkeit» oder «Plausibilität des Angebots»), die zwingende Prüfung von Angeboten mit ungewöhnlich niedrigem Gesamtpreis sowie die Möglichkeit zum Dialogverfahren bei intellektuellen Dienstleistungen.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 3/2024 «Warten auf den Kulturwandel».