«Weil wir eine Gesellschaft sind – und nicht 22 000 Bubbles»
Am 30. Juni 2024 rief OpenSquare, eine Gruppe von acht Personen, den «Tag des öffentlichen Raums» aus. Mit einer Finanzierungsaktion mobilisierten sie über 300 Menschen, die mit ihren Beiträgen ganzseitige Anzeigen in den grössten Schweizer Tageszeitungen ermöglichten. Wir trafen die Initiatoren zum Gespräch.
Anfang November 2024 trafen sich Gundula Zach, Thomas Schregenberger und Sibylle Grosjean von der Initiative OpenSquare mit TEC21 zum Gespräch über den öffentlichen Raum auf dem Sechseläutenplatz in Zürich.
Der Sechseläutenplatz ist der grösste innerstädtische Platz in der Schweiz. Werden hier Ihre Erwartungen an den öffentlichen Raum erfüllt?
Thomas Schregenberger: Es handelt sich um einen wunderbar gestalteten Platz. Er ist erfolgreich – viele Leute halten sich hier auf. Eine Katastrophe ist aber, dass er nur für sechs Monate im Jahr der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung steht.1
Sibylle Grosjean: Die Möglichkeit, demokratische Rechte auszuüben, gehört explizit zum öffentlichen Raum. Dort darf man sich für staatsgesellschaftliche Anliegen treffen und demonstrieren.
Gundula Zach: Der 1. Mai findet hier statt. Aber was das Entscheidende ist: Ich kann hier sein, ohne dass ich konsumieren muss, und ich kann mich hinsetzen. Die Leute sitzen hier sogar auf dem Boden. Viele finden den Sechseläutenplatz wunderbar, meinen aber, dass der Utoquai in einem Tunnel verschwinden muss. Ich sage: Nein! Der Verkehr gehört dazu. Er muss langsam sein, Tempo 30. Am liebsten würde man die Strasse überall überqueren können. Der Sechseläutenplatz ist kein klassisch räumlich gefasster Platz, er hat etwas Landschaftliches. Nur die Öffnung zum See fehlt. Die Hecken versperren den Blick auf das Gewässer und kanalisieren die Strasse.
Sind öffentliche Räume immer Aussenräume oder gibt es auch öffentliche Räume in Gebäuden?
Sibylle Grosjean: Die Frage ist, ob ich im Innern dieselben Möglichkeiten habe, wie ich sie als Bürgerin im öffentlichen Raum wahrnehmen kann. Darf ich mich dort aufhalten, unabhängig davon, welchen Pass ich besitze? Kann ich dort mein Meeting abhalten oder mich mit Freundinnen treffen? Darf ich eine Demonstration machen? Wenn das in einem Innenraum gewährleistet ist, handelt es sich um einen öffentlichen Raum, sonst ist er ein Begegnungsraum. Im öffentlichen Raum soll man auch Leute treffen, die man nicht schon kennt, Menschen ausserhalb seiner Bubble.
Thomas Schregenberger: Ein öffentlicher Raum gehört der Öffentlichkeit und steht ihr zur Verfügung. Und was ich rechtlich ganz wichtig finde: Es ist die Polizei, die für Ordnung sorgt, und nicht irgendjemand. Das ist beim Bahnhof nicht so. Die Bahnhofshalle ist insofern kein öffentlicher Raum. In vielen Ländern, beispielsweise in England, ist das ein grosses Problem. Da sind viele Plätze privat und es darf dort nicht demonstriert werden.
Gundula Zach: Ein gutes Beispiel ist das alte Foyer des Opernhauses vor der Umgestaltung. Es war tagsüber offen und wurde von den Leuten genutzt – sogar Sprachkurse fanden darin statt. Ich finde es begrüssenswert, dass sich die Öffentlichkeit Nischen sucht, wo man nicht konsumieren muss, aber im Warmen sitzen kann. Die Innenräume der öffentlichen Hand sollten ebenfalls auf diese Weise verwendet werden.
Thomas Schregenberger: Es gibt das Foyer Public im Theater Basel. Es wird öffentlich genutzt – als Co-Working-Space und Aufenthaltsraum.
Am 30. Juni haben Sie in drei Schweizer Tageszeitungen mit einer ganzseitigen Anzeige den Tag des öffentlichen Raums ausgerufen. Wie kam es dazu?
Sibylle Grosjean: Nachdem wir zwei Jahre lang darüber diskutiert hatten, was wir tun könnten, wurden wir ungeduldig und de-klarierten diesen Tag des öffentlichen Raums. Das allein ist schon eine wichtige Aktion. Warum gab es diesen Tag noch nicht? Wir haben einen Wikipedia-Eintrag geschrieben. Dann kam uns die Idee, ein ganzseitiges Inserat zu schalten. Wir haben unsere Freunde und unser ganzes Netzwerk gefragt, ob sie unterschreiben und dieses Inserat mit 100 Franken mitfinanzieren. Am Ende haben wir die benötigten 300 Leute gefunden.
Was haben Sie sich vom Inserat konkret erhofft?
Sibylle Grosjean: Dass die Deklaration gilt. Es gibt jetzt den Tag des öffentlichen Raums.
➔ Der nächste «Tag des öffentlichen Raums» findet am Sonntag, 29. Juni 2025, statt.
Gab es eine Idee, wie es danach weitergehen könnte oder sollte?
Sibylle Grosjean: Wir würden gerne die verschiedenen Interessen bündeln und auf überregionaler Ebene eine Diskussion darüber führen, was für die Gesellschaft relevant ist und was der öffentliche Raum für unsere Demokratie tut.
Was ist Ihre Vision für den öffentlichen Raum?
Thomas Schregenberger: Unsere Vision für den öffentlichen Raum ist ein Ort, an dem alle ihre Kopfhörer abnehmen, ihre Handys ausschalten, langsamer gehen und die Sinne auf Empfang schalten, um mitzukriegen, wo man überhaupt ist und wer gerade unterwegs ist.
Gundula Zach: Ein Raum der Begegnung.
Thomas Schregenberger: Jane Jacobs spricht im Buch «Tod und Leben grosser amerikanischer Städte» oft von dieser Anonymität, die dann, wenn es darauf ankommt, keine ist. Wenn etwas passiert, dann helfen dir die Leute.
Gundula Zach: Wobei, dass die Hilfe wirklich kommt, hat schon etwas damit zu tun, dass der öffentliche Raum in der Gesellschaft verankert ist. Wenn der öffentliche Raum nur als gefährlich wahrgenommen wird, bin ich mir nicht so sicher, ob dir jemand hilft. Deswegen ist es wichtig, dass er als verbindendes, öffentliches Element angesehen wird.
Sibylle Grosjean: Wir sollten keine Gated Communities brauchen. Wenn sich beispielsweise Strassencafés auf den Trottoirs mit Wändchen und Pflanzentöpfen abgrenzen, sind sie bereits Gated Communities.
Gundula Zach: Die Kommerzialisierung darf nicht überhandnehmen. Der Münsterhof ist ein Beispiel, wo es kommerziell überbordet und der öffentliche Raum beschnitten wird. Der Brunnen ist als Teil des öffentlichen Raums inzwischen von den vielen Caféstühlen darum herum vollständig eingehaust und damit privatisiert. Das darf nicht sein. Die freie Verfügbarkeit des öffentlichen Raums ist wichtig. Und gleichzeitig besteht der öffentliche Raum natürlich nicht nur aus schönen, angenehmen Plätzen, sondern auch aus Strassen. Wir müssen das Bewusstsein dafür schaffen, dass das alles unsere Räume sind, in denen wir Einfluss nehmen können und sollen.
Welche Veränderungen würden Sie gerne anstossen?
Sibylle Grosjean: Wir würden den öffentlichen Raum gerne in Quadratmetern pro Einwohnerin vermessen. Wird er grösser oder kleiner? Es gibt Schätzungen, wie viel Raum die Strassen beanspruchen, aber es gibt keine Informationen darüber, wie viel öffentlicher Raum insgesamt existiert und wofür er verwendet wird. Wir möchten eine faktenbasierte Diskussion darüber führen können, wofür wir den Platz brauchen und wie viel genug oder zu wenig ist. Ausserdem würden wir gerne feststellen, welchen Anteil Strassen, Plätze oder Parks einnehmen.
Viele Gemeinden ergreifen Massnahmen für den öffentlichen Raum und die «Aufwertung der öffentlichen Räume» ist oft Teil von Entwicklungskonzepten. Die Öffentlichkeit sollte aber auch regelmässig darüber informiert werden, was Gemeinden mit dem öffentlichen Raum machen. Eine Broschüre, die an alle Haushalte geht, vielleicht zum Tag des öffentlichen Raums. Für alle Bürgerinnen und Bürger sollte ersichtlich sein, was ihre Gemeinde im letzten Jahr in Bezug auf den öffentlichen Raum unternommen hat.
Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Akteure, um diese konkrete Forderung umzusetzen?
Gundula Zach: Das ist ganz sicher die öffentliche Hand.
Thomas Schregenberger: Aber die Öffentlichkeit muss das auch einfordern. Es gibt dieses grosse Wort der Aneignung. Die Frage ist also, wie ein öffentlicher Raum angeeignet werden kann. Es existieren wunderbare Beispiele wie der Hallwylplatz. Die Anwohner hatten einen Tischtennistisch in die Velo-Fahrbahn gestellt und wurden aufgefordert, ihn wegzunehmen. Sie haben aber dafür gekämpft und jetzt einen betonierten erhalten. Solche Aktionen finde ich toll.
Sibylle Grosjean: Stichwort Nutzungskonflikte – diese sollten nicht über Gated Communities gelöst werden. Es braucht nicht noch mehr Striche am Boden, die aufzeigen, wo ich hingehöre und wo nicht. Ärgernisse muss man ausdiskutieren und aushalten. Wir sind eine Gesellschaft und nicht 22'000 Bubbles, die sich abgrenzen und dann wundern, dass sie nicht in der Lage sind, dieses Gemeinsame zu steuern. Dafür braucht man Koalitionen.
Anmerkung
1 Einen Grossteil des Jahres wird der Sechseläutenplatz für kommerzielle Grossveranstaltungen wie den Weihnachtsmarkt, den Zirkus Knie oder das Zurich Film Festival genutzt.