«Das Vergabewesen ist auf Neubauten ausgerichtet»
Podiumsdiskussion an der Tagung «Historische Brücken in der Ostschweiz»
Bauwerkserhaltung erfordert weit mehr als nur technisches Know-how. In St. Gallen gaben Fachleute Anfang September im Rahmen einer Tagung einen Blick auf die komplexen Entscheidungsprozesse. Klar ist: Es braucht einen Wandel in Erwartungshaltung und Ausbildung ebenso wie mehr Fachleute.
Historische Bauwerke sind viel mehr als nur technische Konstruktionen – sie sind Kulturgut, Zeitzeugen und tragen zur Identität einer Region bei. Ihre Erhaltung fordert jedoch einen sensiblen Balanceakt zwischen modernem Nutzungsanspruch und dem Schutz historischer Substanz.
Dieses Thema griff die Tagung «Historische Brücken in der Ostschweiz: Schützens- und erhaltenswert» auf. Die anschliessende Podiumsdiskussion mit Fachleuten aus der Bauwerkserhaltung, des SIA und vom Tiefbauamt des Kanton St. Gallen zeigte das Potenzial ebenso wie die aktuell bestehenden Hürden.
➔ Die Vorträge der Tagung stehen hier zum Download zur Verfügung.
Teilnehmende
- Christoph Angehrn, Holzbauing. FH SIA Vorstand SIA Sektion St. Gallen/Appenzell, Mitbegründer der Atlas Tragwerke AG
- Prof. Dr. Eugen Brühwiler, Prof. em. für Bauwerkserhaltung, ETH Lausanne; Technologie zur Erhaltung historischer Brücken
- Dr. Katrin Eberhard, Architektin und BSA-Vertreterin, Leiterin der Eberhard Baukultur GmbH
- Dr. Moritz Flury-Rova, Leiter Denkmalpflege Kanton St. Gallen
- Marcel John, Kantonsingenieur St. Gallen und Bauingenieur ETH
- Kilian Looser, Gemeindepräsident, Gemeinde Nesslau
- Jakob Ruckstuhl, Jurist und Präsident des Heimatschutzes St. Gallen/Appenzell Innerrhoden
Moderation: Clementine Hegner-van Rooden
Clementine van Rooden: Herr Brühwiler, die Technik zur Erhaltung historischer Bauten ist vorhanden. Warum setzen wir sie nicht ein?
Eugen Brühwiler: Die grössten Hindernisse sind organisatorischer Natur. Das Vergabewesen ist auf Neubauten ausgerichtet, nicht auf die Erhaltung der Bauwerke. Zeitmangel, fehlende Honorare und wenig Anreize für kreative Lösungen führen dazu, dass Erhaltungsprojekte oft nicht die notwendige Unterstützung bekommen. Technisch ist vieles möglich, doch ohne passende Strukturen und Teamarbeit, aber auch fehlende Fachkompetenz, wird das Potenzial nicht ausgeschöpft. Ausser man fordert extreme Massnahmen, wie grundsätzlich alle Brücken unter Schutz zu stellen, damit ein echtes Erhaltungsprojekt zur Pflicht wird.
Clementine van Rooden: Herr John, als Kantonsingenieur stehen Sie in der Verantwortung, die Erhaltung von Bauwerken zu fördern. Lassen sich organisatorische, geometrische und sicherheitsrelevante Aspekte lösen, oder ist es letztlich immer eine Frage der Interessenabwägung?
Marcel John: Ich stimme Herrn Brühwiler zu und möchte seine Aussage nicht infrage stellen. Es ist aber tatsächlich immer ein Abwägen verschiedener Interessen, die die Werte unserer Gesellschaft widerspiegeln – und diese werden teils vehement vertreten, teils sind sie aber auch umstritten. Ich würde anregen, die offiziellen Prozesse, die politisch legitimiert sind, zu verwenden, um den Schutz zu definieren. Neben dem Schutz und der Erhaltung von Kulturgütern spielt auch die Ökologie eine Rolle. Und es gibt noch viele weitere Interessen, die nicht alle gleichzeitig bedient werden können. Unsere Aufgabe ist es, Vorhaben so zu gestalten, dass sie gesellschaftlich und politisch anerkannt und umgesetzt werden können. Wenn ein Bauwerk unter Schutz gestellt ist, wie bei kantonalen oder gar bundesweiten Schutzauflagen, geniesst die Erhaltung höchste Priorität – es sei denn, der Zustand ist technisch nicht mehr zu retten. Nur in solchen Ausnahmefällen wäre ein Abriss und Neubau vertretbar.
Clementine van Rooden: Herr Flury, unabhängig vom Denkmalschutz: Inwiefern kann die Denkmalpflege dazu beitragen, Erhalt und Nutzung von historischen Bauten zu ermöglichen?
Moritz Flury-Rova: Unser Ziel ist es immer, Wege aufzuzeigen, die die Erhaltung ermöglichen. Dafür sollten wir auch eine langfristige Nutzung solcher Bauwerke ermöglichen – denn nur in seltenen Fällen, wie bei Burgruinen, ist eine Erhaltung ohne eigentliche Nutzung noch sinnvoll. Doch Erhaltungen werden häufig skeptisch betrachtet, vor allem bei älteren, schwer reparierbaren Strukturen, wie es teilweise bei den Eisenbrücken der Fall ist. Hier besteht oft die Sorge, dass der Schutz künftige Reparaturen erschweren könnte, was die Bereitschaft mindert, solche Bauwerke überhaupt unter Schutz zu stellen. Dabei ist jedes Beispiel wichtig, das zeigt, dass es machbar ist.
Clementine van Rooden: Frau Eberhard, wie sieht es mit der Akzeptanz für die Erhaltung bestehender Bauwerke in der Architektur aus?
Katrin Eberhard: Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Vor allem in älteren Generationen haben viele Architektinnen und Architekten noch Schwierigkeiten mit dem Wandel, der heute stattfindet. Statt alles neu auf 'der grünen Wiese' zu errichten, wird zunehmend mit bestehenden Strukturen gearbeitet. Ich denke, die Überzeugungsarbeit beginnt bei uns selbst in der Baubranche. Dabei geht es nicht nur um den Schutz historisch oder architektonisch wertvoller Gebäude, sondern auch um die ökologische Verantwortung.
Clementine van Rooden: Architekturschaffende sind auf verlässliche Aussagen von Ingenieuren und Ingenieurinnen angewiesen, um ihre Entwürfe umzusetzen. Wenn diese aber in ihren Einschätzungen und Methoden so unterschiedlich sind, wie lässt sich dann eine stabile Basis für gemeinsame Projekte schaffen?
Eugen Brühwiler: Essenziell ist das Vertrauen darauf, dass die eigentliche Ingenieurarbeit im kreativen Prozess liegt – und zu unterschiedlichen Resultaten führt. Aber oft halten uns Normen zurück, die wir vor Jahrzehnten selbst formuliert haben, die heute aber zumindest teilweise überholt sind. Was wir zusätzlich brauchen, ist mehr Austausch und Diskussionskultur, um fundierte, verlässliche Aussagen zu treffen. Architekten sind es gewohnt, ihre Projekte zu besprechen und Kritik zu üben, doch bei Ingenieuren fehlt diese Kultur weitgehend.
Clementine van Rooden: Herr Angehrn, Sie betonten in ihrem Referat, dass Kreativität eine grosse Rolle spielt. Wie wichtig ist dieser Aspekt in der Ausbildung und Praxis der Ingenieure und Ingenieurinnen?
Christoph Angehrn: Die für Umbauten nötigen Ideen und kreativen Ansätze entwickelt man tatsächlich oft erst in der Praxis oder in der Weiterbildung, da der Fokus in der Ingenieurausbildung meist auf Neubauten liegt. Es geht darum, zu verstehen, wie ein Bauwerk entstanden ist, um es sinnvoll weiterentwickeln zu können. Hier spielt die Zusammenarbeit mit Handwerkern eine entscheidende Rolle. Auch gesellschaftlich braucht es einen Wandel. Was früher als zu teuer oder zu kompliziert galt, wird heute geschätzt und häufiger eingesetzt. Wenn es uns gelingt, den Wert und die Attraktivität der Erhaltung zu fördern, könnte ‹alt› genauso geschätzt und gewünscht werden wie ‹neu›.
Clementine van Rooden: Herr John, ist das notwendige Fachwissen für Ingenieurbaukunst vorhanden, oder weiss man zumindest, wo man es einfordern kann?
Marcel John: Das ist tatsächlich das grösste Defizit. Dieses Know-how ist bei uns im Amt schlichtweg nicht vorhanden. Wir haben nur ein begrenztes Verzeichnis an immer wieder gleichen Fachleuten, die wir in solchen Fällen kontaktieren können.
Clementine van Rooden: Wie ist das in der Denkmalpflege?
Moritz Flury-Rova: In der Denkmalpflege muss man in allen Bereichen bewandert sein – vom Gartenbau bis hin zur Ingenieurbaukunst. So ist es unser Ziel, das Team so vielseitig wie möglich aufzustellen. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, zu erkennen, wann wir externe Unterstützung benötigen, um die fachliche Tiefe zu gewährleisten. Dann greifen auch wir auf eine kleine Kartei zurück und ziehen meist immer dieselben Namen heran.
Clementine van Rooden:: Frau Eberhard, braucht es starke Institutionen, die einem Rückendeckung geben und sich für die Erhaltung einsetzen?
Katrin Eberhard: Bei nicht denkmalgeschützten Bauwerken sind wir alle in der Verantwortung. Da müssen wir an unseren eigenen Ansprüchen arbeiten. In der Schweiz sind «saubere» Lösungen beliebt – die perfekte, glatte Oberfläche. Die sind aber oft ökologisch fragwürdig, weil eigentlich noch funktionierende Elemente oder traditionelle Materialien verloren gehen. Institutionen wie das Tiefbau- und Hochbauamt sind zwar auch Teil der Gesellschaft, aber der Wandel kann nicht allein von diesen Institutionen kommen.
Kilian Looser: Die Bevölkerung in diese Richtung zu sensibilisieren, ist herausfordernd, da Grundeigentum in der Schweiz einen hohen Stellenwert besitzt und viele Eigentümer nur ungern Vorschriften für ihr Grundstück akzeptieren. Gezielte Aufklärung und Leitfäden, die Gemeinden erarbeiten, um eine angemessene Instandsetzung und Einbindung von Gebäuden in die Umgebung zu fördern, helfen aber sehr. Bei Einzelobjekten mit Schutzstatus, wie Denkmälern, lässt sich in Kooperation mit der kantonalen Denkmalpflege gezielt Einfluss nehmen, ebenso durch den Ortsbildschutz. Allerdings erfordert dies einen klar definierten Schutzstatus, was der begrenzende Faktor ist.
Katrin Eberhard: Möglichkeiten der Einflussnahme gäbe es durchaus auch auf politisch übergeordneter Ebene. Eine Massnahme könnte sein, Abfallentsorgung deutlich teurer zu machen. Nach wir vor haben wir viele Fehlanreize, zum Beispiel Steuervergünstigungen, die gewährt werden, wenn man möglichst umfangreich baut. Auch bei den Honoraren: Architekten werden oft nach der Grösse der Neubausubstanz entlohnt.
Clementine van Rooden: Herr Ruckstuhl, braucht es Zivilcourage, um sich den sicherheitsspezifischen Anforderungen und Wünschen entgegenzustellen? Anforderungen wie Sicherheit und Verkehrsfluss
Jakob Ruckstuhl: Definitiv. Es braucht Zivilcourage und Weitblick. Behördenmitarbeitende sind oft sowohl Eigentümervertreter als auch genehmigende Instanz. Sie müssten erkennen, ob ein Objekt schutzwürdig ist und dies gegenüber anderen Stellen wie der Denkmalpflege vertreten. Dabei muss man über den eigentlichen Aufgabenbereich hinausdenken, wofür es oft Weiterbildung und Eigeninitiative benötigt, denn nicht jede Verwaltung kann Spezialisten einstellen. Es liegt an jedem Einzelnen, sich entsprechend weiterzubilden und weiterzuentwickeln.
Eugen Brühwiler: Es geht ums Überzeugen. Ich erinnere mich an die Isler-Schalen bei der Autobahnraststätte in Deitingen. Vor etwa zehn Jahren wollte die Betreiberfirma die Schalen abreissen und durch einen Neubau ersetzen, der dreimal mehr Profit versprochen hätte. Wir konnten die Firmenleitung jedoch vom Wert dieses Bauwerks überzeugen. Sie passten ihr Konzept an, damit ein moderner Betrieb möglich wurde. Vor Kurzem war ich dort – alle sind zufrieden und die Betreiberfirma scheint ihren Profit zu machen. – Überzeugen war der Schlüssel.
Clementine van Rooden: Es wäre grossartig, wenn Fachleute verstärkt als Mentoren für die Erhaltung solcher Bauwerke agierten.
Eugen Brühwiler: Es gibt solche Initiativen. Oft werde ich von Bürgerinitiativen kontaktiert, die sich für die Erhaltung von Brücken und anderen Bauwerken einsetzen. Ihr Engagement ist beeindruckend, und es entstehen erstaunlich gute Ergebnisse. Doch Infrastrukturbauwerke, vor allem Brücken, sind oft unzureichend in Bauwerksinventaren erfasst. Seit über 20 Jahren setze ich mich dafür ein, dass Brücken nachträglich geschützt werden. Wichtig ist darum kurzfristig, dass die Kantone das Inventar um Brücken und Infrastrukturbauwerke erweitern. Das Problem ist erkannt, aber die Lösung wird noch einige Jahre dauern, da auch die finanziellen Mittel fehlen. Mittel- und langfristig geht es um Ausbildung und Umdenken.
Clementine van Rooden: Arbeitet das ASTRA auch an einem Inventar?
Eugen Brühwiler: Kürzlich hat das ASTRA ein Dokument erstellt, das Kriterien und eine Liste von Objekten enthält. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.