Poe­tik des Raums

Schönheit und Poesie in der Architektur

Was ist «schöne» Architektur? Im ihrem sechsten Beitrag zu aktuellen Planerthemen, welche die Zürcher Philosophin Eva Schiffer einer geistesgeschichtlichen Re-Vision unterzieht, weist sie auf die Wichtigkeit von Poesie und Fantasie sowie der Fähigkeit zum Staunen hin, um kreatives Potenzial zu entwickeln. Damit Bauten «schön» sein können, dürfen sie nicht nur eine Ansammlung von Materialien sein, sondern sollten zugleich «eine Verkörperung unserer Ideale durch ein stoffliches Medium» darstellen.

Publikationsdatum
19-04-2015
Revision
25-08-2015

In einem Gespräch über das geplante Hochschulgebiet an der Zürcher Rämistrasse äusserte der renommierte Architekt und Städtebauhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani den lapidaren Satz: «Es ist immer wichtig, dass Architektur schön ist.»1 Was zunächst wie ein Gemeinplatz klingt, erweist sich dem sensibleren Ohr als bitter-ironischer Hinweis auf eine Art Amnesie des Zeitgeistes: In den gängigen Diskussionen über Raumplanung und Architektur scheint man sich fast ausschliesslich auf Themen wie Funktionsweise, Finanzierung und Einhaltung der Bauvorschriften zu kaprizieren. Ästhetische und ethische Werte kommen kaum zur Sprache, Gewinnmaximierung, Marktwert und Effizienz herrschen souverän. Entsprechend habe der Städtebau - so Lampugnanis trauriges Fazit - «gegenwärtig nicht nur jegliche Autorschaft aufgegeben, sondern sich auch zur Konzeptlosigkeit bekannt; angeblich um autokratische Gesten von sich zu weisen; in Wahrheit, um willfähriger den Vermarktungsmechanismen der Stadt zu entsprechen». Der Städtebau jedoch sei auf «den Mut und die Fähigkeit» von Planern, Ingenieuren und Architekten «angewiesen, Werturteile zu fällen»- den Mut, der Tyrannei gängiger Ideologien durch geistige Unbefangenheit zu begegnen; die Fähigkeit, die eigenen Konzepte und Visionen im Kontext historischer und kultureller Zusammenhänge zu reflektieren.2

«L'avion accuse»

Zu den wichtigsten Wegbereitern gegenwärtiger Wertvorstellungen in der Architektur gehört Le Corbusier: Zeitgemässe Gebäude hätten - so lautete das Diktum des grossen Pioniers der Moderne - «nicht schön, sondern ausschliesslich zweckmässig» zu sein. Was ein Haus seinen Bewohnern zu bieten habe, sei weder Zierrat noch Pomp, sondern lediglich Licht und Sonne, Schutz vor Hitze, Kälte, Regen, Räubern und neugierigen Blicken, einige Wohnzellen zum Kochen, Arbeiten und für das Privatleben. In Analogie zum Sitz eines Cockpits, dessen Gestaltung sich von der «schieren Notwendigkeit des Fliegens» herleite, sei auch ein Haus von allem «überflüssigen Dekor» freizuhalten. Deshalb seien Flugzeuge die Modelle für seine Architektur: «L'avion accuse» - die nüchterne Funktionalität des Flugzeuges sollte all das «schuldig sprechen», was sich als funktionswidrig und unnötig erweist.3

Le Corbusiers oft bewusst provokativ formulierter Abscheu vor jeder Art Dekor wird im Kontext der vorherrschenden Bauweise seiner Vorgänger verständlich: Die Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts drohte in einem Chaos von endlosen Zitaten, manierierter Opulenz, «embellissements», Friesen, Schnörkeln und Pilastern zu ersticken. Statt klarer Konzepte und schöpferischer Inspirationen herrschte blanke Willkür: Dorische, klassizistische, palladianische, neogotische, altenglische, toskanische, ägyptische und chinesische Motive wurden beliebig durcheinander gemischt. «Wir leiden an einem wahren Karneval der Architektur», klagte Augustus Pugin 1836: «Laienmeinungen schiessen ins Kraut, und jeder Baumeister hat seine eigene Theorie.»4

Eine Lyrik der Form

Inmitten dieses «Karnevals» der Stile drängte es sich auf, erneut grundsätzlich über Ästhetik und Ethik in der Architektur nachzudenken: In welchem Stil sollte man in der Moderne bauen, an welchen Werten sich orientieren? Eine Antwort, die sich abzuzeichnen begann, war die Antwort der Ingenieure: Eine zeitgemässe Architektur habe sich - so lautete das Verdikt - nicht mit Fragen des Baustils herumzuschlagen, sondern mit den Problemen der Statik, Hydraulik, Aerodynamik, der Eigenschaften der Materialien und des Lichts.

Die Resultate dieser asketischen Methode waren erstaunlich: War es nicht gerade ihre Absage an ästhetische Gesichtspunkte, die es den Ingenieuren zu erlauben schien, «die imposantesten und oft auch faszinierendsten Bauwerke ihrer turbulenten Zeit zu schaffen» 5 Erwiesen sich diese Werke nicht als schön - und zwar nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer grandiosen Einfachheit und Zweckmässigkeit? In der Tat schien «die Pflicht der Architektur, Nützliches, Praktisches und Zweckmässiges in etwas Schönes zu verwandeln», in den neuen Werften, Brücken, Aquädukten oder Eisenbahndepots aufs Beste erfüllt worden zu sein. Gerade kraft ihrer Nüchternheit schienen diese Werke das «Wesen der Architektur, über den reinen Zweck hinauszureichen», zu verkörpern.6 Die strenge Askese im Hinblick auf Dekor, die von den Ingenieuren ausging und zur Signatur des Stils eines Le Corbusier und einer «Neuen Sachlichkeit» wurde, war keine Absage an die Schönheit oder an die Poesie. Im Gegenteil: Nüchternheit und klare Formen wurden als Darstellung künstlerischer, geistiger, ästhetischer und ethischer Werte verstanden, die Spannung zwischen Funktionalität und Schönheit als eine «Lyrik der Form».7

Diffamierung der Schönheit

Zu einer wirklichen Diffamierung, ja Tabuisierung der Kategorie Schönheit sollte es im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts von ganz anderer Seite kommen: Schönheit - so lautete das Diktum des «wissenschaftlichen Realismus» - stehe im Gegensatz zu einer nüchternen wissenschaftlichen Einstellung und deren unbeugsamem Streben nach Wahrheit: Indem sie die Sinne berausche, lenke die Schönheit von den nackten «Tatsachen» ab und verführe zu gefährlichen Phantasmagorien. Weitere Attacken kamen von den Hütern der «political correctness»: Huldigten Schönheit und Poesie nicht dem «anstössigen» Überfluss der Privilegierten? Im Gefolge solcher Ideologien habe sich das Sprechen und Nachdenken über Kunst - so Peter von Matt - «in ein Dilemma gebracht, aus dem es sich offenbar nicht mehr befreien kann: die heute geltende Bedeutung des Wortes ‹schön› als Kategorie der Kunst ist emotional gestört und ins Schiefe verzerrt durch die Normen einer kollektiv verordneten ästhetischen Moral».8

Eros

So «emotional gestört und ins Schiefe verzerrt» unsere Sehnsucht nach Schönheit und Vollkommenheit auch sein mag - aus der Welt zu schaffen ist sie nicht: Denn «der Mensch kann die Vollkommenheit denken. Seit er sie denken kann, ist er davon besessen.» Die Vollkommenheit ist «die zweite Beute, auf die er, neben den erlegten Tieren und den erschlagenen Feinden, auf immerwährende Jagd zieht». Hinter aller Kunst «steht der Stachel einer einzigen Idee: der Vollkommenheit». Dichter, Denker, Komponisten, und grosse Architekten aller Zeiten sind ständig auf der Jagd nach «der Schönheit als dem Absoluten, dem Vollkommenen als Ziel und erstrebtem Besitz: der hohen Beute».9

Der Gedanke, dass die Sehnsucht nach Schönheit zum Menschsein gehört, hat in Platons Figur des Eros poetische Gestalt angenommen: Eros - so lehrte die Priesterin Diotima den Sokrates - sei gar kein Gott, «wie die Vielen glauben», sondern ein «Dämon ... bedürftig stets, und bei Weitem nicht zart und schön, sondern spröde und struppig und unbeschuht und heimatlos, im Staube liegend immerdar». Dieses Mängelwesen Eros nun verzehre sich nach all dem, woran es ihm selber gebricht; deshalb stelle er «den Schönen und Guten nach, mannhaft und kühn und konzentriert, ein gewaltiger Jäger ... philosophierend sein ganzes Leben hindurch».10

Grösse und Elend der Fantasie

Unverzichtbare Begleiterin des Eros auf seiner Jagd nach Vollkommenheit und Schönheit ist die Einbildungskraft: Als «die intellektuelle Gabe, Alternativen zu denken, die niemand zuvor wahrnehmen konnte»,11 ist sie die geistige Fähigkeit, über das Gegebene hinaus zu denken - das, was Robert Musil den «Möglichkeitssinn» nannte. Dass die Imagination in ihrer Ausrichtung auf Vollkommenheit nicht nur schöpferische, sondern immer auch zerstörerische Potenziale birgt, meinte wohl der belgische Architekt Henry van de Velde, als er die Fantasie als «Gift und Virus» angriff - ein Gift, das immer wieder unsägliche Monstrositäten hervorbringe, nicht nur in Architektur und Design.12

Eindringlich warnt auch der Historiker und Philosoph Charles Taylor vor den «grossen spirituellen Visionen der Menschengeschichte», indem er sie als «Giftbecher» bezeichnet - immer wieder seien solche Utopien «Ursachen unsäglichen Elends, ja unermesslicher Grausamkeit» gewesen. Im 20. Jahrhundert mit seinen millenaristischen Zerstörungen habe sich die Neigung der Fantasie, sich von Ideologien in den Dienst nehmen zu lassen und ins Wahnhafte auszuufern, auf das Schrecklichste realisiert.13

Poetisches Staunen

In seinem Buch «Poetik des Raumes» stellt der französische Philosoph Gaston Bachelard der entfesselten die poetische Vorstellungskraft gegenüber: Wie die Fantasie, welche bekanntlich «keine Grenzen kennt», sei auch die Poesie eine Kraft, die über das Bestehende hinaus zu denken und zu imaginieren fähig ist; poetische Bilder seien Schöpfungen der von kausalen Zusammenhängen befreiten Fantasie. Anders als die Einbildungskraft jedoch, deren Visionen nicht selten grössenwahnsinnig sind, sei die poetische Überschreitung der Wirklichkeit aus dem Staunen über die Welt, nicht aus dem Willen zur Weltbemächtigung geboren.

Am Beispiel des spiralförmigen Hauses, das der französische Keramikkünstler und Naturforscher Bernard Palissy 1563 in seinem Buch «Recette véritable» imaginierte, zeigt Bachelard, dass das Staunen über den Reichtum der Naturerscheinungen - bei Palissy etwa die Formen von Schneckenhäusern und Muscheln - die kreativen Potenziale weit mehr beflügelt als der Wille zur Beherrschung der Phänomene.14

Dieser Gedanke geht auf Aristoteles zurück, für den das Staunen nicht nur Grundlage allen ästhetischen und ethischen Empfindens, sondern des Denkens überhaupt war: Der Mensch werde zum Fragenden durch die stets neue Überraschung vor der überwältigenden Vielfalt und Schönheit der Phänomene. «Wer aber fragt und staunt, hat das Gefühl der Unwissenheit.»15 So uncool es für heutige Ohren klingen mag: Bedingung der Möglichkeit aller menschlichen Selbst- und Welterkenntnis, aller Orientierung, aller Kreativität ist nicht der Wille zur Macht; Wirklichkeit erschliessend, erweiternd und vertiefend ist vielmehr das poetische Staunen vor dem Geheimnis der Welt.

«Den Stein placieren, wo er es möchte»

Beispielhaft für eine so verstandene Poetik scheinen mir die Bauten der schottischen Architektin Kathryn Findlay und ihres Partners, des Japaners Eisaku Ushida (Ushida Findlay Architects), zu sein. Mit ihrem Leitsatz, Architektur sei «das Herstellen von Landschaft», propagiert Findlay keineswegs das Überstülpen menschlicher Massstäbe auf die «Natur». Im Gegenteil: Das Architektenpaar sucht nach Gesetzmässigkeiten in der Welt der Erscheinungen, um sich von ihnen inspirieren und für das «Herstellen von Landschaft» - die ja nie «Natur», sondern immer schon «Kultur» ist - leiten zu lassen. Eine staunende Haltung vor den Phänomenen geht bei Findlay/Ushida mit formaler Stringenz Hand in Hand: Das mathematische Erfassen komplexer Naturerscheinungen – der Spiralform von Schneckenhäusern, des Adernetzes der Lunge oder der Regelmässigkeit von Kristallen, Blättern oder Schneeflocken - sei unabdingbares Hilfsmittel einer Architektur der staunenden «Anlehnung an die Natur».

Fraktale Geometrie - so Findlay - erfordere nicht nur mathematische Fähigkeiten, sondern vor allem «eine demütige Beobachtung der Natur», jenes «Hineinsinken in sie», welches in der japanischen Tradition des Bauens seit je selbstverständlich sei. Entsprechend heisst es in einem japanischen Handbuch der Gartenkunst aus dem 11. Jahrhundert: «Der Stein muss placiert werden, wo er es möchte.»16

«Built upon Love»

Architektonische Bauten sind nie nur Ansammlungen von Stein, Glas, Holz und Beton, sondern immer zugleich eine Verkörperung unserer Ideale durch ein stoffliches Medium: «In its worldforming capacity, architecture transforms matter into meaning.»17 Ein Werk schön zu nennen heisst also, «darin eine Darstellung von Werten zu erkennen, die für unser Wohlergehen unabdingbar sind».18

Es ist die poetische Einbildungskraft, die das Wunder vollbringt, Materie in Bedeutung und Sinn zu verwandeln, während die entfesselte Imagination, blind für alle umfassenderen Zusammenhänge, immer wieder der Gefahr erliegt, sich in den Dienst eines triumphierenden Herrschaftswillens und anderer Megalomanien zu stellen. Aus dieser Einsicht heraus stimmt der Architekturhistoriker Alberto Pérez-Gómez in seinem Buch «Built upon Love» ein Loblied an auf die formende und zugleich befreiende Kraft der poetischen Fantasie: «Während die Technologie die Materie benutzt, um Gebrauchsgegenstände herzustellen, wird die Materie durch poetisches Schaffen befreit» - und zwar «ohne dabei den Tod zu verdecken, wie es technologische Errungenschaften so häufig tun.»19

Der Sinn für Schönheit und der Sinn für die Fragilität und Endlichkeit aller menschlichen Angelegenheiten sind nicht zu trennen: «Poetisch leben heisst, Verlust als Tatsache zu leben, in dem Wissen, dass wir nicht die Besitzer der Welt sind, in der wir wohnen.»20

In der Tat: «Es wäre schön und wünschenswert, wenn nicht eine zweite Europaallee entstehen würde.»21

Anmerkungen / Literaturhinweise

  1. Vittorio Magnago Lampugnani, Ein Gespräch, Tages-Anzeiger, 13. September 2014
  2. Vittorio Magnago Lampugnani: Leitlinie, Gedächtnis oder Selbstzweck  Vom Nutzen und Nachteil der Theorie für den Städtebau, NZZ, 16. Mai 2014
  3. Alain de Botton: Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein. Deutsche Ausgabe bei Fischer; engl. Originalausgabe bei Penguin: The Architecture of Happiness. Zu Alain de Botton siehe auch seine Website
  4. ebenda
  5. ebenda
  6. ebenda
  7. ebenda
  8. Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. dtv 2001
  9. ebenda
  10. Platon, Symposion. Bezug z.B. Felix Meiner Verlag, 2012
  11. Richard Rorty: Zum Tod von W.V.O. Quine, NZZ 17. Februar 2001
  12. Ursula Seibold-Bultmann: Poesie der Geometrie. Zum Werk der in Japan und London tätigen schottischen Architektin Kathryn Findlay, NZZ 2. August 2014
  13. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Deutsche Ausgabe bei Suhrkamp/Insel, 1996
  14. Ursula Seibold-Bultmann, Poesie der Geometrie, NZZ 2.8.14
  15. Aristoteles: Metaphysik. Bezug z.B. Anaconda-Verlag, 2015
  16. Ursula Seibold-Bultmann, NZZ 2.8.14
  17. Robert P. Harrison: The Dominion of the Dead, University of Chicago Press 2005
  18. Alain de Botton: Glück und Architektur
  19. Ursula Seibold-Bultmann, NZZ 2.8.14
  20. Robert P. Harrison: Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur. Hanser Literaturverlage, 2013
  21. Vittorio Magnago Lampugnani: Tages-Anzeiger, 13. September 2014

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