Sechs Punk­te zur ar­chi­tek­to­ni­schen Iden­ti­tät

Architektur und Städtebau stehen unter Druck. Universale Phänomene wie Klimawandel, Ressourcenknappheit und Bevölkerungswachstum dominieren die Debatte. Die räumlichen Aspekte – das Architektonische – stehen dabei nicht oder zu wenig im Zentrum. Nachhaltigkeit gründet aber in elementarer Weise gerade darauf.

Publikationsdatum
02-05-2023

In der derzeitigen, alle anderen Fragen übertünchenden Nachhaltigkeitsdebatte wird das Nachdenken über das Architekto­nische und dessen Potenzial oft ­bewusst ausgeblendet oder als ana­chronistisch abgetan. Das Schweigen darüber dient denjenigen Planenden, die die architektonischen Instrumente selbst nicht kennen und kulturgeschichtliches Wissen insgesamt in Abrede stellen. Die ­Tabuisierung spielt zudem denjenigen Bauträgern, Investorinnen und ­Politikern in die Hände, die ein ihnen vermeintlich verständliches, technisches Nachhaltigkeits-Vokabular erlernt haben und sich damit moralisch entlastet sehen.

Die These hier lautet, dass das aktuelle «Nachhaltigkeitsrennen» zu einem wesentlichen Anteil weder auf einer technischen noch auf einer materiell-moralischen oder Bauteiljagd-Ebene entschieden wird. Brennende Themen wie die Frage der baulichen Verdichtung werden massgeblich davon abhängen, wie vir­tuos die Architektinnen und Ar­chitekten ihre Instrumente beherrschen, um charakterstarke, atmosphärisch angenehme, für den Menschen mass­stabs­gerechte, greif- und begreifbare Orte herzustellen.

Jeder diesbezüglich planerisch starke Eingriff trägt zur Verringerung des heute absurden Ressourcenverschleisses bei: Räumlich robuste, widerstandsfähige Orte werden auch langfristig keiner ­Tabula-rasa-Strategie zum Opfer fallen – sie sind über die Zeiten stabil und eignen sich für dauernden Aufenthalt, was die heute inflationären Mobilitätsbewegungen korrigiert – sowohl bezüglich arbeitsbedingter Pendlerströme als auch in Bezug auf Freizeitaktivitäten. Oder mit den Worten von ChatGPT: «Die Schaffung einer starken architektonischen Identität kann dazu beitragen, ein Gebäude oder eine Stadt zu einem Ort von Bedeutung und Erinnerung zu machen, an dem Menschen gerne leben, arbeiten oder Zeit verbringen.»1

Die Relevanz gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und klimatischer Aspekte soll hier keineswegs in Abrede gestellt werden. Vielmehr geht es darum, «Raum» auch wieder als Wirkungsraum zu fokussieren: Für die Frage, ob und wie ein guter Ort gelingt, erachte ich die Ergründung des Architektonischen – und damit einhergehend der architektonischen Identität – als entscheidend. Interessanterweise ist der Begriff der Identität in der Architektur­theo­rie nicht geklärt, obwohl in Architekturtexten häufig von der Identität eines Bauwerks oder von identitätsstiftenden Elementen die Rede ist.

Punkt 1: Identität, Identi­fikation und Universalität

Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ist ohne identifikatorische Prozesse nicht denkbar: In der Psychologie stehen Identität und Identifikation in direkter Relation zueinander. Der Begriff der Identifikation stammt vom lateinischen «idem facere» – dasselbe machen – und bedeutet so viel wie «sich etwas gleichsetzen». Die Psychologie spricht dabei von einem innerseelischen Vorgang im Sinne eines Mitempfindens mit einem anderen Menschen oder dessen Situation. Der Mensch empfindet also Empathie, er kann sich einfühlen.

Genau dies tut er auch in Bezug auf den ihn umgebenden Raum: Jeder Mensch erfährt den Raum und jeder Mensch hat ein Raumgefühl. Die menschliche Wahrnehmung des Raums ist eine physische Erfahrung, die weit über eine rein visuelle Wahrnehmung hinausgeht: Wir spüren durch unseren ganzen Körper. Gewicht, Kontraktion, Kraft, Spannung, Druck, Wärme etc. projizieren wir als am eigenen Leib gemachte Erfahrungen unbewusst auf den architektonischen Raum und ordnen ihm die uns bekannten Attribute zu. Wir empfin­den einen Raum dann also als weit, beengend, luftig, bedrohlich, leicht, offen, hermetisch etc. Die Identifikation mit dem architektonischen Raum wirkt sich in der Umkehrung direkt auf die menschliche Selbstwahrnehmung, auf unsere Identität aus: In ange­nehmen Räumen fühlen wir uns beschwingt, entspannt, geerdet, erhaben, angeregt etc. Räumlich unangenehme Situationen hingegen lassen uns schwach, bedrängt, wehr- und kraftlos etc. erscheinen.

Es ist deshalb wichtig, das Gespräch wieder auf die Wirkungsweise von Architektur zurückzubringen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie architektonischer Raum oder Form erscheinen, welche Wirkung diese auf den Menschen haben. Dazu ist es für die Architektenschaft absolut zwingend, sich mit den für den Menschen elementaren und universalen Kategorien wie Vertikale und Horizontale, Schwere und Leichtigkeit, Leere und Dichte, Dynamik und Unbeweglichkeit, Festkörper und Hohlräume etc. (vgl. Rudolf Arnheim, «The Dynamics of Architectural Form») auseinanderzusetzen und diesbezüglich selbst Klarheit zu haben.

Punkt 2: Identität und Relativität

Die Identität eines Bauwerks ist immer relativ zu einer Situation. «Alles ist Umbau», wie es Hermann Czech einst formulierte. Jedes Haus steht demnach in einem Kontext, der auf das Bauwerk einwirkt und worauf dieses adäquat reagieren muss. Weit vor jeder Absicht nach Individualität und Unverwechselbarkeit, fern von avantgardistischen Ansprüchen soll das Bauwerk bezüglich Gestalt und Fassaden eine auf seine Umgebung angemessene Reaktion zeigen.

Ein Beispiel: Auf den Kontext kann durch die Gerichtetheit von Fassaden reagiert werden, was bis Ende des 19. Jahrhunderts absolut üblich war. Die Idee von hierarchisierten Gebäudeseiten ging erst in der Moderne verloren und ist bis heute verschüttet. Überall sehen wir allseitig gleiche Gebäude, monotone, ungerichtete Figuren auf orientierungslosem Grund. Das ist schade, da die Hierarchisierung von Fassaden auch heute ein potentes Mittel ist, um das Bauwerk in seinem Kontext zu verorten und ihm gleichzeitig zu Gestalthaftigkeit und Prägnanz zu verhelfen. Die Herausfor­derung dabei besteht darin, ein ge­richtetes Bauwerk zugleich auch zu einer Wesenseinheit zu «verschmelzen», die Balance zwischen Unterschiedlichkeit und Zusammenhang auszuhandeln. Dies sind alles Entscheidungen, die sich um Rangfolge, Ordnung, Verschiedenheit und Zusammenhalt drehen. Der Einsatz heute zweckdienlicher Bauteile wie Photovoltaik- oder rezyklierter Elemente soll dabei in­tegraler Bestandteil dieser Abwägungen sein.

Punkt 3: Identität, Wiederholung und Transformation

Etymologisch wird Identität vom lateinischen «identitas» (= Wesens­ein­heit) abgeleitet, vom Pronomen idem/eadem/idem: derselbe. Es geht also um Übereinstimmung und Gleichheit. Architektonische Identität steht im Zusammenhang mit der Wiederholung bestimmter Typen, Themen, Konstruktionen an bestimmten Orten über die Zeiten.

In unserer Kulturgeschichte wohnte jedem neuen Wiederholungsversuch (= Tradition) die Absicht inne, das Vorhergehende zu verbessern, durchaus aber auch gewisse Variablen neu zu interpretieren. In den letzten Jahrzehnten wurde dieses perfektionierende Verständnis und die dazu notwendige Langsamkeit über den Haufen geworfen: Durch zunehmende Mobilität und Bevölkerungswachstum haben sich die Rahmenbedingungen verändert, was in einem sehr kurzen Zeitraum zu neuen Typologien in neuen Massstäben und Materialien geführt hat und uns die endlose Ausdehnung gesichtsloser, identifikationsschwacher Stadtlandschaften beschert hat.

Um dieser immer noch anhaltenden Entwicklung entgegenzuwirken, ist es notwendig, zu einer Kultur der Transformation zurückzukehren. Zurück zu einem Verständnis von Architektur, das diese als eine ­Kol­lektion von architektonischen Elementen und Instrumenten versteht, die im Laufe der Zeit wiederkommen und immer wieder leicht verändert werden. Entwurfsprozesse sind also Transformationsprozesse, in denen Material aus der Vergangenheit bewusst und graduell in die Gegenwart ummodelliert und an neue Rahmenbedingungen adaptiert wird.

Eine solche Kultur der Trans­formation basiert auf Gedächtnis und Kulturgeschichte, während sie gleichzeitig aktiv nach Erneuerung sucht. Kontinuität und Veränderung sind eng miteinander verschränkt. Oder wie es Jean Jaurès sinngemäss formuliert hat: Nicht die Anbetung der Asche, sondern die sorgfältige Weitergabe des Feuers ist das Ziel.

Punkt 4: Identität, spezifischer ­Charakter und Ausdruck

Die Philosophen Christoph Baumberger und Georg Brun identifizieren in ihrem Text «Identität, Charakter und Stil von Bauwerken»2 als primären Aspekt des Begriffs der Identität den «spezifischen Charakter» eines Bauwerks oder eines Raums. Die Frage danach, welche Eigenschaften eines Bauwerks seine Identität konstituieren, bezeichnen sie als Schlüssel zur Explikation.

Spezifischer Charakter, Stimmlage, Ausdruck, Temperament und Atmosphäre: Sie alle sind zentrale Aspekte der räumlichen Identität und sind massgeblich davon bestimmt, wie gut die Verbindungsglieder zwischen den Bauwerken und dem Menschen funktionieren. Damit sind diejenigen Elemente/Massnahmen gemeint, welche die Gebäude – gerade auch solche in einem grösseren Massstab – für den Menschen sinnlich begreifbar werden lassen. Es geht also um die Kommunikationsfähigkeit der Architektur.

Dabei handelt es sich einerseits um grundsätzliche Fragen von Ordnung und Gliederung: Ist bei einer Fassade die Balance zwischen einem starken, in sich ruhenden Fassadenrhythmus und gleichzeitig ausreichender Varianz bei der Befensterung gefunden? Gibt es genügend (aber nicht zu viele) singuläre Elemente, die mit städtebaulicher Wirkungsabsicht gesetzt sind und das Gebäude mit der Textur optisch verklammern? Das clevere Masshalten zwischen den gliedernden Massnahmen und deren Überlagerung mit einzelnen Elementen ist für eine unaufgeregte, aber keineswegs langweilige Atmosphäre eines Gebäudes und eines Quartiers grundlegend.

Relevant ist dabei auch die Frage nach der Verzahnung von Gebäude und Umraum: Die Gestaltung der Übergangsräume zwischen innen und aussen wirkt sich massgeblich auf unser Empfinden der Gebäudegestalt aus. Ob diese Schwellenräume angenehm sind, hängt nicht nur von ihren Proportionen und Mate­rialität ab, sondern genauso von einem feinen Sensorium dafür, wie die delikate Verklammerung von privat und öffentlich architektonisch in ein angenehmes Mass gebracht werden kann. Offenheit, ­Privatheit und Grös­se der Übergangsräume wirken sich auf die optische Stabilität der Wand aus und beeinflussen die Stimmlage der Gebäudegestalt massgeblich.

Sicherlich stehen Themen wie das Verhältnis von Leerraum und Masse, aber auch die Zusammenhänge zwischen Nutzung und Typologie in einem Entwurfsprozess hierarchisch an erster Stelle und müssen zuerst geklärt werden, auch in Wettbewerbsverfahren. Derzeitige Siegerprojekte zeugen aber nicht selten davon, dass die sorgfältige Diskussion und Einordnung der weiter oben beschriebenen feinräumlichen Aspekte, die für die architektonische Identität zentral sind, als irrelevant oder als in der weiteren Bearbeitung korrigierbar eingestuft werden – was ein fataler Trugschluss ist: Städtebau, Architektur und Konstruktion sind sich gegenseitig durchdringende Kategorien und müssen von Anfang an parallel entwickelt werden, wie es bereits Fernand Pouillon gefordert und selbst auf eindrückliche Weise eingelöst hat.

Punkt 5: Identität, Konstruktion und Technik

Das Verhältnis zwischen Raum und Konstruktion spielt im Zusammenhang mit Identitätsfragen eines Bauwerks eine zentrale Rolle. Die Frage nach dem Druck der Konstruktion auf den Raum und wie diesem vom Architekten begegnet wird, hat die Architekturdebatte seit langem befeuert und wurde immer wieder anders beantwortet. Aus meiner Sicht ist klar, dass strukturelles / kon­struktives Wissen genutzt werden soll, um räumliche Absichten zu verfolgen. Konstruktion und strukturelles Denken sind deshalb eine Basis, eine Grammatik, die wir wie eine Sprache lernen und stetig weiterentwickeln müssen.

Gerade heute: Die zeitgenössische Notwendigkeit des zirkulären Bauens bringt vermehrt die Forderung nach flexiblen, modularen und rückbaubaren Strukturen mit sich. Der erhöhte Einsatz von Solartechnologie wirft Fragen zu Umgang und Ausmass der meist glatt-­spiegelnden Ober­flächen auf. Die heutige Tendenz zum Holzbau führt weg von den gros­sen Spannweiten hin zu engeren Stützen­ab­ständen. Diese und weitere neue Parameter werden zum Test für Architekten und Architektinnen, dessen Gelingen von der Beherrschung der Grammatik, von einem profunden Konstruktionswissen abhängt.

Punkt 6: Identität und ­Baugesetze

Zusätzlich zu den oben beschriebenen neuen Fragestellungen steht die Qualität der architektonischen Identität in direkter Relation zum Effort des einzelnen Entwerfenden, dem absurden Mix an vorgegebenen Baugesetzen und Normen noch ein paar architektonische Themen abzuringen. Für eine Veränderung des «big picture» müsste dringend das Bewusstsein dafür, dass die Grundbedingungen der räumlichen Identität in unseren Baugesetzen (und auch in den Normen) wurzeln, auf der politischen Ebene geschärft werden.

Da keine politische Partei ihren Fokus darauf gerichtet hat und es auch keine Gewerkschaft für Raumanliegen gibt, ruht die letzte Hoffnung auf unseren Ausbildungsstätten: Diese hätten die personellen und ­intellektuellen Ressourcen, mittels eines schulübergreifenden, nationalen Swiss Case Studies-Projekts angewandte Entwurfsforschung zu diesem Thema zu betreiben.

Dieser Text basiert auf einem Vortrag der Autorin im Archi­tekturforum Ostschweiz im Dezember 2022, hier ansehbar.

Anmerkungen


1 Ausschnitt aus ChatGPT vom 30. März 2023 auf die Frage, was unter architektonischer Identität zu verstehen sei.


2 Christoph Baumberger und Georg Brun, «Identität, Charakter und Stil von Bauwerken» in: Christoph Baumberger (Hg.), Architektur­philosophie. Grundlagentexte (Kunst-Philosophie, Bd. 10), Münster: Mentis 2013, S. 140–165.