Si­mu­la­tio­nen: Än­de­run­gen vor­be­hal­ten

Ein Gebäude, das vielen Menschen nützen soll, bietet mit Vorteil ein ausgeglichenes Raumklima. Doch wie sehr beeinflussen Glasdächer und -fassaden diese Komfortansprüche? Immer häufiger wird die Nutzung während einer Projektierung simuliert. Das hat Folgen auch für die Architektur, wie folgende Fallbeispiele zeigen.

Publikationsdatum
22-07-2021

Simulationszweck: weniger Hitze im Hof

Fallbeispiel: ZHAW-Haus «Adeline Favre» Winterthur


Das Gebäude ist das Herzstück der früheren Giesserei­fabriken in Winterthur. Und die Namenspatronin war eine Pionierin des Hebammenwesens im 20. Jahrhundert. Nun ist das letzten Sommer eröffnete Haus «Adeline Favre» auf dem Sulzerareal das schweizweit grösste Ausbildungszentrum für Pflege, Geburtshilfe sowie Ergo- und Physiotherapie.

Macht die Corona-Pandemie dem Belegungsplan derzeit noch einen Strich durch die Rechnung, wird die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) diesen voluminösen Ersatzneubau sobald wie möglich für 2000 Studierende und 300 Mitarbeitende nutzen. 2013 gewannen die Zürcher pool Architekten das öffentliche Wettbewerbsverfahren. Das Gebäude selbst erwarb ein privater Immobilieninvestor während der Projektierung vom Kanton Zürich.

Zu den Merkmalen des 70 m langen, 50 m breiten und über 30 m hohen Gebäudes gehört der industrielle Charakter. Daran lehnt sich die Gestaltung der Fenster und Fassaden an; zudem wurde die frühere Original-Kranbahn wieder montiert. Eine weitere Besonderheit ist der offene, überdachte Kern. Er ist mit markanten Kandelabern und Outdoor-Mobiliar ausgestattet und ersetzt den fehlenden Aussenraum.

«Das grosszügige Atrium ist ein öffentlicher Platz», erklärt Riet Bezzola, Projektleiter von pool Architekten. Auf verschiedenen Ebenen schliessen sich Räume mit unterschiedlicher Nutzung sowie Emporen als weitere Aufenthaltsflächen an. Ein thermoaktives Bauteilsystem in den Geschossdecken temperiert das Atrium im Winter und Sommer. Vornehmlich erneuerbare Energie zum Heizen oder Kühlen liefert das Fernwärme- respektive Fernkältenetz der Stadt Winterthur.

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Im Entwurf war ein vollverglastes Dach für das sieben Geschosse hohe Atrium vorgesehen. Weil die Bauherrschaft die Maximaltemperatur von 26.5 °C – gemäss der SIA-Norm 180 Wärmeschutz, Feuchteschutz und Raumklima in Gebäuden – definierte, waren die Bedingungen für den geschlossenen Raum im Sommer zu überprüfen. Mithilfe von thermischen Gebäudesimulationen wurde der Einfluss des Wärmeeintrags durch das Atriumdach untersucht.

Im gleichen Schritt wurde auch das geplante Kühlkonzept im Voraus analysiert. Würde das aktive Bauteilsystem genügen, oder mussten Zusatzmassnahmen getroffen werden, etwa Klappen im Dach und im Erdgeschoss zur Verbesserung der Nachtauskühlung? Dank den Erkenntnissen aus dieser Gebäudesimulation konnte die Konstruktion ­optimiert werden, um so die Komfortanforderungen im grosszügig konzipierten Gebäudeinnern zu erfüllen.

Ausgangspunkt für die Simulationen war das virtuelle Architekturmodell, das aber ergänzt und verfeinert werden musste. Die Berechnungen bezogen sich zum einen auf gebäudebezogene Daten zu Masse, Geometrie oder Eigenschaften von Materialien und Oberflächen wie Wärmeleitfähigkeit und Wärmeabstrahlung. Zum anderen waren zeitlich veränderbare Informationen wie Sonnenstand und Wetterdaten in die Modellierung zu integrieren. «Personen, Geräte und die Beleuchtung beeinflussen das Raumklima ebenfalls, weshalb auch deren thermischen Einflüsse zu modellieren ­waren», ergänzt Stefan Barp, Projektleiter von AFC Air Flow Consulting.

Insgesamt waren mehrere Dutzend der teilweise variablen Kennwerte einzugeben, um den Verlauf der Raumtemperatur für jeden Tag im Jahr zu simulieren. Dies erlaubt Aussagen darüber, ob die Maximaltemperatur im Innenhof auch an heissen Sommertagen eingehalten wird. Der Effekt von Hitzewellen wurde dagegen nicht simuliert; Abweichungen von den normierten Temperaturbedingungen werden in ausserordentlichen Fällen akzeptiert.

Die Simulationen zeigten für den Regelfall jedoch: Ohne aussen liegenden Sonnenschutz wäre die Temperatur an insgesamt 1150 Stunden auf 33 °C gestiegen statt der erwünschten 26.5 °C. Ein Sonnenschutz hätte die Überhitzung auf 170 Stunden und ein Maximum von 28 °C reduziert. Aus der Diskussion zwischen den Verantwortlichen für Simulation, Architektur und Fassadenplanung ergab sich folgende Lösung: Die Dachgeometrie wurde angepasst und der Glasanteil fast halbiert.

Die Reduktion des Transparenzanteils mindert den Aufwärmeffekt entscheidend. Die Temperatur im Atrium steigt gemäss den Simulationen nie über 26 °C, bestätigt Barp. Auch für die technischen Spezifikationen trugen die Analysen zu Verbesserungen bei, «etwa bei der Qualität der Verglasung und des Sonnenschutzes sowie zur Ausrichtung der Lüftungsflügel», ergänzt Architekt Bezzola. Ebenso verhalfen die Simulations­resultate dazu, die Einstellungen des Heiz- und Kühlsystems zu optimieren.

Bauherrschaft
Siska Immobilien, Winterthur (Erwerb 2016)

Mieter
Kanton Zürich

Nutzerin
ZHAW, Departement Gesundheit

Totalunternehmung
Implenia Schweiz, Zürich

Architektur
pool Architekten, Zürich

Tragwerksplanung
dsp Ingenieure + Planer, Uster ZH

Haustechnik
Kalt + Halbeisen Ingenieurbüro, Zürich

Bauklimatik
AFC Air Flow Consulting, Zürich


Simulationszweck: weniger Technik

Fallbeispiele: Landwirtschaftliches Zentrum St. Gallen / Volksschule Wyssloch Bern
 

Die Ausbildungsstätte der Stunde ist …? Ein leichtes Gebäude mit Veranda und einem Blick ins Grüne, sei dies ein Stadtpark oder eine Kulturlandschaft. Auch das Innenleben wirkt behaglich, dank Oberflächen aus Holz und spärlicher technischer Ausstattung. Das beste Beispiel für diesen Schulhaustyp steht im St. Galler Rheintal: Das Landwirtschaftliche Zentrum in Salez ist zwei Jahre nach Eröffnung bereits Kult. Wer sich über aktuelle Lowtech-Prinzipien informieren will, wird in dem zweistöckigen Holzbau gern herumgeführt und schnell fündig: Klassenzimmer, Aula, ­Mensa und Nasszellen werden «natürlich belüftet», ­bestätigt Leiter Markus Hobi auf dem Rundgang.

Erst auf Papier respektive im virtuellen Format existiert der Neubau der Volksschule Wyssloch in der Stadt Bern. Dennoch ist sein konstruktives und konzeptionelles Wesen demjenigen der St. Galler Landwirtschaftsschule verblüffend ähnlich. Der schlichte Holzbau mitten in Bern soll ebenso «frei von komplexer Technik sein», sagt Stadtbaumeister Thomas Pfluger. Und was beide Projekte fast zu Zwillingen macht: Die Idee, möglichst auf Haustechnik zu verzichten, kam im Nachhinein auf.

Erst nachdem die Architekturwettbewerbe entschieden waren, verordneten die öffentlichen Bauherrschaften den Siegern eine Entschlackungskur. Andy Senn, der das Landwirtschaftszentrum in Salez noch getreu der Ausschreibung auf Minergie-Komfort trimmte, musste unter anderem auf die Lüftungs­anlage verzichten. Und auch Bischof Föhn Architekten hatten den Luftwechsel und das Raumklima im Wyssloch-Schulhaus nach Absprache mit der Bauherrschaft ohne Mechanik zu organisieren.

Mithilfe von umfangreichen Gebäudesimulationen liessen die Bauämter überprüfen, dass die Vorgaben zu Komfort und Energieeffizienz auch mit einem Lowtech-Konzept erfüllbar sind. Wie wird der CO2-Gehalt in den Klassenzimmern ohne automatische Belüftung gesteuert? Und wie lassen sich die Räume im Sommer passiv kühlen?

Die Analysen zur Raumklimatisierung ergaben an beiden Projekten: Die Standorte selbst liegen günstig; dank ruhiger Lage wird der Unterricht auch bei offenen Fenstern kaum gestört. Trotzdem berechneten die Computer, dass sich die Innenräume im Sommer jeweils am Nachmittag zu stark aufheizen würden. Um die Komfort­norm von maximal 26.5 °C besser einzuhalten, ging es deshalb an die Substanz. Die Entwürfe der Architekten waren an einigen prominenten Stellen zu korrigieren.

Die ausführliche Version dieses Artikels mit weiteren Informationen zu den Projekten sowie Bilder und Grafiken ist erschienen in TEC21 22/2021 «Simulieren geht über studieren»

Landwirtschaftliches Zentrum Salez SG


Bauherrschaft
Baudepartement Kanton St. Gallen

Nutzung
Ausbildungszentrum, Hotellerie

Architektur
Andy Senn, St. Gallen

Landschaftsarchitektur
Mettler Landschafts­architektur, Gossau SG

Simulation
Richard Widmer, Wil SG

Eröffnung
2019

Volksschule Wyssloch, Bern


Bauherrschaft
Hochbau Stadt Bern

Architektur
Bischof Föhn Architekten, Zürich

Landschaftsarchitektur
Parbat Landschafts­architektur, St. Gallen

Haustechnik / Simulation
Gruner Roschi, Köniz BE

Eröffnung
2022 (geplant)