Vom Bild zum Bau
Holzbauingenieur Hermann Blumer hat kürzlich an einem Bauwerk mitgewirkt, das für einmal ganz kleinformatig ist: ein farbenfroher und von Geometrie geprägter Pavillon in Waldstatt AR. Hier kommt die präzisierte Holzkonstruktion in feinsten Finessen zur Geltung.
Emma Kunz (1892–1963) war eine Schweizer Radiästhesistin, Heilpraktikerin und Künstlerin. Sie soll in Würenlos Gestein mit heilenden Kräften gefunden haben; sie nannte es Aion A. Sie schrieb Gedichte und gab 1953 im Eigenverlag das Buch «Neuartige Zeichnungsmethode» heraus. Ab den 1930er-Jahren malte sie mithilfe eines Pendels auf Millimeterpapier grossformatige Bilder, die heute im Museum des Zentrums Emma Kunz in Würenlos zu sehen sind – und in international renommmierten Häusern wie der Serpentine Gallery in London, dem Muzeum Susch im Unterengadin oder dem Tel Aviv Museum of Art.
2008 liess die Gemeinde Waldstatt, der langjährige Wohnort von Kunz, mit finanzieller Unterstützung verschiedener Stiftungen den Emma-Kunz-Pfad erstellen – einen Weg, der das Leben und Wirken von Emma Kunz als Heilpraktikerin, Radiästhesistin und Künstlerin aufzeigt. Mitte September 2020 feierte die Gemeinde Waldstatt im Kanton Appenzell Ausserrhoden ihr 300-jähriges Bestehen, und mit diesen Feierlichkeiten wurde auch der Emma-Kunz-Pfad erneuert. Der «Holzweg» erhielt zusätzlich einen Pavillon – darin spiegeln sich die Waldstätter Holzbautradition und ihre Kultur, und damit verbindet sich auch das Wirken der beiden Waldstätter Persönlichkeiten Emma Kunz und Hermann Blumer. Der Emma-Kunz-Kulturpavillon beim Bad Säntisblick ist zwar kleinformatig, aber ein komplexer Holzbau, angelehnt an das Werk 393 von Emma Kunz, dreidimensional ausgearbeitet.
Dazu Hermann Blumer: «Die fast 500 geometrischen Bilder begann Emma Kunz immer mit einer Frage. Auch meine Arbeit am Pavillon begann mit der Frage, ob es möglich sei, aus einem ihrer Bilder einen dreidimensionalen Raum in Holz zu entwerfen und zu bauen. Das Geometrische und Statische schien mir noch einigermassen möglich, aber gelänge es auch, das Spirituelle, Verflochtene, Heilende aufzugreifen und nicht zuletzt eine Harmonie der Farben ganz im Sinn von Emma Kunz aufzunehmen?»
Der Holzbauingenieur Hermann Blumer im Interview über zweifelnde Bauherrschaften und was es braucht, um sie vom Holzbau zu überzeugen.
Mit der Hilfe eines Vorentwurfs von Siv Helen Stangeland von Helen & Hard Architekten aus Stavanger (vgl. «Holz neu verflochten») entstand allmählich die geometrische Form auf einem Betonsockel von 3 m × 3 m. Darin eingelassen ist ein Hohlraum, der von einem als Stern ausgebildeten Holzboden eingedeckt ist, worin Muschelkalk eingelegt wurde – eine Erde, der Heilkraft nachgesagt wird, entdeckt von Emma Kunz im römischen Steinbruch von Würenlos.
Haus aus Stäben
Die Holzkonstruktion besteht aus vertikal angeordneten Platten und lamellenartigen, schräg von unten nach oben angeordneten Latten, die dem Betonsockel über eine angeschraubte Auflagerlatte aus Eichenholz aufgesetzt sind. Die in den Ecken angeordneten schlanken Stäbe lassen Lichtschimmer in den Innenraum. Die seitlichen Latten und Platten sind über Holzdübel an Sitzbankteile angeschlossen. Über Stahlplatten, die punktuell unter den Sitzbankteilen eingelassen und verschraubt sind, ist die Holzkonstruktion auf Druck und Zug verankert. Die Auflagerstelle mit dem Übergang von Beton zu Holz ist durch die überhängenden Wände gegen Regen und damit vor Feuchtigkeit geschützt. Falls die Stelle infolge heftigen Winds doch nass werden sollte, trocknet sie dank der offenen Bauweise rasch wieder aus.
Dreidimensionales Puzzle
Nach oben hin weiten sich die vier Platten und die rund 160 Wandstäbe nach aussen aus. Im Innern entsteht trotz kleinem Grundriss eine erstaunliche Geräumigkeit. Die seitlichen Tragelemente gehen an der Traufkante in Zickzackform über in ein Faltdach. Dieses ist mit Stäben so konstruiert, dass ein dreidimensionales geometrisches Muster entsteht, das einer Zeichnung von Emma Kunz nachempfunden ist. Die farbigen Sparren sind lediglich mit Überblattungen und ohne Leim miteinander verbunden.
Das Faltdach wird am Aussenrand mit einem Einbinder abgeschlossen. Dieser umlaufende Träger wirkt als Zugband und schliesst die horizontalen Kräfte kurz, die aus der vertikalen Belastung des Faltdachs entstehen. Während die Wandstäbe und -scheiben mit Holzdübeln an den Einbinder verleimt sind – die Scheiben sind zusätzlich mit Vollgewindeschrauben statisch gesichert –, stossen die Sparren des Dachstuhls stumpf und ohne zusätzliche Verbindungsteile an den zickzackförmigen Einbinder, der zugleich sichtbare Traufkante ist.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 5/2021: Holztragwerke mit Charakter.
Emma Kunz
Emma Kunz, geboren am 23. Mai 1892 in Brittnau AG, war Naturheilpraktikerin, sie selber bezeichnete sich als Forscherin. Von 1951 bis zu ihrem Tod 1963 wohnte sie in Waldstatt AR. Ihr Schaffen erreichte in diesem Lebensabschnitt seinen Höhepunkt. Ihre Bilder waren für sie keine Kunst, sondern mit ihrer Tätigkeit als Naturheilpraktikerin verbunden. Konzentriert auf eine Frage lotete Emma Kunz mit dem Pendel die Fläche des Millimeterpapiers aus, setzte Punkte und Schwerlinien. Sichtbares Zeugnis dieser Suche nach Gesetzmässigkeiten sind die mit Farbstift und Ölkreide angefertigten grossformatigen Pendelbilder, von denen über 400 Originale im Emma Kunz Zentrum in Würenlos zu besichtigen sind. (Quelle: www.appenzellerland.ch)
Eigentümerin
Gemeinde Waldstatt AR
Initiantin / Farbkonzept
Manuela Amhof,
Drogerie Waldstatt
Projektleitung/-finanzierung
Ernst Bischofberger, Waldstatt
Projektvorentwurf/Vorschlag Farbkonzept
Helen & Hard Architekten, Stavanger (N)
Projektentwicklung, Machbarkeit, Geometrie, Vorstatik
Hermann Blumer, Waldstatt
Holzbau Detailstatik
SJB.Kempter.Fitze, Frauenfeld
Holzbau Werkplanung
Klauser Holzplan, Degersheim
Maschinenprogrammierung
Ausführungsverantwortung
Holzbau
Blumer Schreinerei, Waldstatt
Ausführung Dachhaut
M. Meier Bedachungen, Waldstatt