Vom Wert des Nichtstuns
Wie Wälder bewirtschaftet werden, verrät einiges über eine Gesellschaft. Der Sihlwald bei Zürich ist dafür ein gutes Beispiel.
Über Jahrhunderte war der Sihlwald, eines der grössten zusammenhängenden Waldgebiete des Mittellands, das Rückgrat der Holzversorgung der Stadt Zürich. Die Waldungen links der Sihl gehören der Stadt seit 1309, diejenigen rechts der Sihl übernahm sie 1524 nach der Auflösung des Fraumünsterklosters. Im 17. Jahrhundert entstand die erste Planung für die Holznutzung. Die Stämme flösste man bis 1865 auf der Sihl nach Zürich. Für eine einfachere Bringung des Holzes war im Sihlwald ab 1876 eine Waldeisenbahn mit einer Spurbreite von 60cm in Betrieb. Die Bahn wurde 1932 stillgelegt. Noch heute sind die alten Trassen am regelmässigen Gefälle gut zu erkennen.
Im November 1878 bat Ulrich Meister, Stadtzürcher Forstmeister von 1875 bis 1914, den Dichter Gottfried Keller, einen Vers für das Forsthaus im Sihlwald zu entwerfen. Keller nahm sich der Sache an und schlug verschiedene Verse vor. Einer lautete: «Ein Forst zeigt, wie ein blanker Schild / Dir der Gemeinde Spiegelbild.» Am Forsthaus unweit der Station Sihlwald erblickt der Besucher heute jedoch einen anderen Vers von Keller: «Schöner Wald in treuer Hand / Labt das Aug und schirmt das Land.»
Gottfried Keller kannte die Wälder rund um Zürich. Und er liebte sie. Das belegen einige seiner schönsten Gedichte etwa das erste der Waldlieder, ein Lobgesang auf den Eichenwald. Und auch in seinem Prosawerk taucht der Wald in den verschiedensten Facetten immer wieder auf. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Staatsschreiber des Kantons Zürich wusste Keller aber auch über den damals weit verbreiteten Raubbau in den Wäldern Bescheid. Und er hat dieses Thema literarisch aufgegriffen, etwa im 1886 veröffentlichten Roman «Martin Salander».
Die Plünderung der Wälder führte in Europa dazu, dass Hans Carl von Carlowitz in Sachsen bereits 1713 die Idee der Nachhaltigkeit postulierte. Aber obwohl vielerorts Regeln für die Nutzung des Walds existierten, erwies sich der Weg zu einer geregelten Forstwirtschaft als steinig. Erst die verbreitete Nutzung von Kohle und später von Erdöl entlastete die Wälder (doch von der Abhängigkeit der fossilen Energieträger wollen wir nun wieder wegkommen wiederum ein schwieriges Unterfangen).
1876 gab sich die Schweiz das erste eidgenössische Forstgesetz. Fortan genoss der Wald einen recht guten Schutz, und die Förster kümmerten sich primär darum, wie der Wald am besten zu bewirtschaften sei. Neben der Funktion als Holzlieferant und dem Schutz vor Naturgefahren wurden im 20. Jahrhundert die sogenannte Wohlfahrtsfunktion des Walds sowie der Schutz der Biodiversität immer wichtiger.
Und gerade bei diesen beiden Funktionen sollte der Sihlwald wiederum eine wichtige Rolle spielen. 1986 überraschte der damalige Stadtforstmeister Andreas Speich mit der Idee einer Naturlandschaft im Sihltal. Er schlug vor, den Sihlwald künftig nicht mehr traditionell forstwirtschaftlich zu nutzen. Der Wald würde sich nach seinen eigenen Gesetzen entwickeln und könnte zudem der Umweltbildung dienen. Darauf entbrannten hitzige Diskussionen. Mancher fragte sich, ob es aus Sicht einer optimalen Ressourcennutzung wirklich sinnvoll sei, auf die Bewirtschaftung eines der wüchsigsten Waldgebiete des Mittellands zu verzichten. Doch die Idee, einen Wald ganz der Natur zu überlassen, hatte ihren Reiz. Und in einem Land, in dem ausser im Hochgebirge nahezu jeder Quadratmeter einer Nutzung unterliegt, war sie geradezu revolutionär.
Andreas Speich verlor zwar bald darauf seinen Job; seine Vision wurde aber umgesetzt. Seit 2009 ist der Sihlwald ein Naturerlebnispark mit einer grosszügigen Kernzone. Der erste national anerkannte Park dieser Art wird heute als Pionierleistung gewürdigt und kaum mehr infrage gestellt.
Doch wie viele solche Wälder soll es in der Schweiz geben? Der Streit entzündet sich an der Frage, wie viel Hektare Naturwaldreservate auszuscheiden sind. Zur Förderung der Biodiversität soll der Anteil der Schweizer Waldfläche, auf der keinerlei Holznutzung erfolgt, bis 2030 rund fünf Prozent betragen. Dieser 2001 von Bund und Kantonen festgelegte Zielwert wird im Rahmen der Strategie Biodiversität Schweiz überprüft. Es ist vorgesehen, den Aktionsplan, der die Biodiversitätsstrategie ergänzen soll, demnächst zu verabschieden. Als reiches Land könnte es sich die Schweiz leisten, auf die Nutzung ihrer Wälder ganz zu verzichten und sämtliches Holz aus dem Ausland zu importieren. Das wäre aber kaum im Sinn einer umfassenden Nachhaltigkeit.