Zeit­lo­se Tu­gen­den

Gedanken zur Ingenieurbaukunst

Prof. Werner Lorenz begutachtet und setzt historische Ingenieurbauten instand, die von der Kunst und Technik ihrer Zeit zeugen. Grundlagen des kulturellen Werts dieser Bauten sind die Kraft und Kreativität ihrer Schöpfer. Für einen angemessenen Umgang mit dem Erbe sind jene Qualitäten neuerlich gefragt.

Publikationsdatum
02-10-2015
Revision
24-11-2015

Was macht «Ingenieurbaukunst» aus? Was sind die Parameter jener vielfach beschworenen Kreativität, die das zu schaffen ermöglichte, was wir heute als Ingenieurerbe schätzen und pflegen? Der britische Ingenieur Bill Addis hat Kreativität schlicht als «combination of inspiration and logic» charakterisiert.1

Paul Valéry, Poet wie Philosoph des frühen 20. Jahrhunderts, drückt sich detaillierter aus. In seinem ersten, 1894 entstandenen Essay über Leonardo da Vinci mit dem programmatischen Titel «Introduction à la méthode de Léonard de Vinci» untersucht er den Renaissancemeister als das Ideal eines Genies, den Inbegriff von Kreativität schlechthin. Das «Geheimnis Leonardos» liege in seiner Fähigkeit, «Beziehungen zu finden zwischen Dingen, deren Zusammenhang uns nicht aufgrund gesetzmässiger Kontinuität gegeben ist». Kreativität bedeute, «aus dem Schlaf eines Denkens, das zu lange gewährt hat, zu erwachen».2

Auch viele grosse Ingenieure selbst haben uns Hinweise darauf gegeben. Erinnert sei nur an Eugène Freyssinet, den virtuosen Pionier des Bauens mit Stahl- und Spannbeton in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: «Les qualités de charactère – courage, probité, amour et respect de la tâche acceptée – sont infinement plus nécessaires à l’ingenieur que celles de l’intelligence qui n’est jamais qu’un outil aux ordres de l’être moral.»3

Die Kraft und Kreativität der Pioniere der Bautechnikgeschichte war in der Regel mit bestimmten Haltungen verbunden. Man kann sie auch als Tugenden bezeichnen, zeitlose Tugenden, die heute nicht weniger aktuell sind als vor Jahrhunderten.

Einfachheit

Einfachheit ist eine dieser Tugenden, ein erstes Optimierungskriterium. Mehr als je zuvor kommt dem heute, im Zeichen omnipotenter Rechentechnik, besondere Bedeutung zu. Die Besten unter den Ingenieuren wussten schon immer darum: Freyssinet beispielsweise betonte immer wieder, dass die Verankerung im Handwerk sein Ingenieur-Sein weit mehr geprägt hatte als seine Schulung an der Ecole Polytechnique.

Letztendlich liess ihn das Handwerk die einfachen Lösungen finden; respektlos sprach er im Rückblick auf seine Zeit an Frankreichs Eliteschule von «Mathematikern, die die Natur durch eine Wolke aus x und y sehen». Für Freyssinet lag eines der wichtigsten Ziele für den Ingenieur im «souci extrême de la simplification des formes et de l’économie des moyens».4

Ganz ähnlich hatte schon ein halbes Jahrhundert zuvor Johann Wilhelm Schwedler, Preussens bedeutendster Ingenieur der Zeit, dasselbe Primat in der ihm eigenen prägnanten Kürze formuliert: «Es gilt, jede Aufgabe so lange durchzuarbeiten, bis die einfachsten Mittel für ihre Lösung gefunden sind.» 

Erfahrbarkeit und Mässigung

Zur Kultur des Einfachen gehört auch das Bestreben, ein anschauliches Modell des Lastflusses zu entwickeln und so den Lastabtrag erfahrbar zu machen. Dies schützt vor Rückschlägen, gerade in unserer Zeit, die zwar einst für «unvorstellbar» gehaltene Weiten und Höhen zu realisieren vermag, sich dazu jedoch oft auf Tragstrukturen stützt, deren Wirkungsweisen sich der unmittelbaren Anschauung tendenziell entziehen.

Unmittelbar verbunden mit dieser Rückbindung an die Erfahrbarkeit von Lastabtrag und Bemessung ist die Kunst der Mässigung. Im 19. Jahrhundert setzten die relativ begrenzten Verfahren der analytischen und grafischen Statik dem Entwerfen und Konstruieren noch «natürliche Grenzen». Sie zwangen die Ingenieure, so klug wie irgend möglich den Lastflüssen zu folgen, sie forderten Mässigung einfach ein.

Heute können wir theoretisch fast alles, selbst die unsinnigste Konstruktion, irgendwie hinrechnen. Der nahezu unbegrenzte methodische Reichtum, der uns heute zur Verfügung steht, macht es möglich. Er ist nicht nur eine Chance – er ist auch eine grosse Verführung. Der Sinn für kluge Mässigung wird da wichtiger denn je.

Gestalten und streiten

Mässigung freilich schliesst Mut nicht aus – den Mut, Tragwerke nicht nur zu realisieren, sondern zu gestalten. Das erfordert neben hoher konstruktiver Kompetenz die Schulung des Blicks und setzt einen Mut zum Streit voraus, der viele namhafte Ingenieure auszeichnete.

Der Berliner Karl Bernhard (1859–1937), ein im besten Sinn engagierter Tragwerksplaner, focht einen heftigen Streit mit dem Architekten Peter Behrens über die von beiden gemeinsam entworfene, heute weltberühmte «Turbinenhalle» der AEG in Berlin aus. Als Behrens gereizt die «notwendige Unterordnung der Konstruktion unter die künstlerische Zweckmässigkeit » postulierte, setzte Bernhard dem offensiv das Primat des «Civilingenieurs» im Ingenieurbau entgegen und akzeptierte Behrens allenfalls noch als seinen «künstlerischen Beirat».

Gleichwie man zu diesen Positionen stehen mag – wesentlich ist: Der Ingenieur Bernhard scheute sich nicht, Position zu beziehen, einen Streit auch öffentlich auszutragen und damit eine fruchtbare Debatte über das Verhältnis von Struktur, Werkstoff und Gestalt sowie die Rollen von Ingenieur und Architekt im Industriebau anzustossen.

Denken wir auch an Robert Maillart (1872–1940), der ein primär wissenschaftsbezogenes Ingenieurverständnis ebenso offensiv angriff wie die «Paragraphenpanzer » der Schweizer Bauvorschriften oder die Brückengestaltung seines deutschen Kollegen Paul Bonatz. Auch Felix Candela (1910–1997) entdeckte sukzessive für sich, welch immense Bedeutung einer eigenen Entwurfshaltung zukommt; 1951, nach Vollendung des ersten Hypar-Tragwerks an einem Pavillon in Mexico City, begann er «to sense that I had my own opinion. Before I never had dared to have an own opinion.»5

Synthese von Wissenschaft und Kunst

Candela entwickelte seine faszinierende Handschrift ungeachtet allen strengen Bezugs auf Mathematik und Statik. Heisst Kreativität nicht gerade, die scheinbar unverrückbare Dichotomie von Wissenschaft und Kunst infrage zu stellen und sie vielmehr als Komplementäre verstehen zu lernen? Schon Candelas Lehrer, der Schalenpionier Eduardo Torroja, hat auf diesen Konflikt hingewiesen und ihn als «spirituelle Trennung» thematisiert: «Our capacity to develop the aesthetic quality of structural harmony [...] is as undeveloped in our time as orchestration and counterpoint were in the seventeenth century. The reason is possibly the spiritual divorce of our specialized techniques.»1

Geradezu visionär erscheint in diesem Zusammenhang ein Vortrag von Fritz Stüssi in Houston 1962. Der Professor für Baustatik und Stahlbau an der ETH Zürich sprach von der «Synthese von Intuition, Erfahrung, Wissen und Können, die allein grosse Ingenieurbauwerke zu schaffen vermag». Diesen Syntheseprozess aber, so Stüssi, «dominiert die Ingenieurbaukunst, der sich die Theorie als Dienerin zu unterordnen hat. Und die Ingenieurbaukunst ihrerseits war und ist eine Dienerin der menschlichen Zivilisation.»6

Mut zur Verantwortung

Stüssi verweist damit auf eine entscheidende Kategorie des Ingenieurseins, die Frage nach der Verantwortung für die Bewahrung und Entwicklung einer zivilisierten Welt. Das Bewusstsein darüber wird den Ingenieuren heute eher ausgetrieben als gefördert. Ein ganzer Berufsstand duckt sich weg in die Vollkaskowelt von tausenden Seiten von Regelwerken – in der Planung, in der Ausführung und erst recht in der Bauverwaltung.

Dabei hat Verantwortung so viele Dimensionen. Sie reichen von der unmittelbaren Verantwortung für die Sicherheit und Zuverlässigkeit des eigenen Werks bis hin zum «Prinzip Verantwortung» eines Hans Jonas7, bis hin zu den ethischen Dimensionen heutiger raumgreifender Ingenieurwerke – man denke nur an die «langen Schatten», die sie in Raum und Zeit werfen.

Nur eine dieser Dimensionen sei im Kontext dieses Hefts hervorgehoben: die Verantwortung für angemessene Umgangsformen mit dem Erbe unserer Vorgänger. Gerade im Pflegen, Sichern und Weiterbauen der Zeugnisse historischer Ingenieurbaukunst hat sich die Kreativität des Ingenieurs besonders zu bewähren. Jenseits des auf den Neubau ausgerichteten Regelkanons kulminieren hier oftmals die technischen Herausforderungen.

Hervorragende Beispiele zeigen, welch richtungsweisende Lösungen entstehen können, wenn Planer mutig und im Bewusstsein ihrer Verantwortung bereit sind, dabei die Grenzen des Geläufigen zu überschreiten und dies dann auch durchzusetzen. Aber es gibt auch und immer wieder schier unüberwindbare Widerstände gegen alle nicht exakt dem aktuell festgeschriebenen Neubaustandard entsprechenden Lösungen, genährt einzig und allein durch die Befürchtung: Ich könnte ja Verantwortung übernehmen müssen.

Übernehmen wir sie! Arbeiten wir an der ureigenen Aufgabe des Ingenieurs – aus einem tiefen Verständnis von Material und Struktur mit hoher Methodenkompetenz verlässliche, dauerhafte und gut gestaltete Konstruktionen zu entwickeln. Nicht mehr und nicht weniger – auch und gerade im Umgang mit dem uns anvertrauten Erbe unserer Vorgänger. 

Anmerkungen
1 Bill Addis: Creativity and Innovation. The structural engineer’s contribution to design. Oxford 2001.
2 Paul Valéry: Introduction à la méthode de Léonard de Vinci. 1894, 1933. Deutsch in: Karl August Horst, Jürgen Schmidt-Radefeldt: Paul Valéry. Leonardo da Vinci. Essays. Frankfurt am Main 1998, S. 16–18.
3 Bernard Marrey: Écrits d’ingénieurs, Éditions du Linteau, Paris 2000, S. 100.
4 Eugène Freyssinet: Un amour sans limite. Paris 1993, S. 17.
5 Colin Faber: Candela und seine Schalen. München 1965, S. 41.
6 Fritz Stüssi: Über die Entwicklung der Wissenschaft im Brückenbau. Veröffentlichung der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1963.
7 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979.

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