Zerstört geglaubte Dokumente gerettet
Landschaftsarchitektur
Ein sensationeller Fund: Im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur wurden rund 320 Originalpläne und -skizzen von Leberecht Migge entdeckt.
Im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur ASLA an der Hochschule für Technik Rapperswil HSR wurden rund 320 Originalpläne und -skizzen des deutschen Gartenarchitekten Leberecht Migge (1881–1935) gefunden. Migge ist einer der bedeutendsten Gartenarchitekten und -reformer des 20. Jahrhunderts.1 Sein Einfluss reicht weit über die deutsche Landesgrenze hinaus, unter anderem auch in die Schweiz.
Bis vor Kurzem glaubte man, dass sein gesamtes Werk zerstört sei; seine Arbeiten waren nur aus verkleinerten Abbildungen bekannt. Nach seinem Tod hatte die Familie das Büro mit allen Plänen vernichtet. So musste sich die Forschung auf Quellen in Büchern und Zeitschriften zwischen 1907 und 1935 stützen.2 Dies ist nun überholt. Das entdeckte Konvolut zeigt Migges Schaffen in seiner ganzen Vielfalt: Stadtplanungen, Siedlungsentwürfe, Volksparks, Friedhöfe, Ehren- und Grabmale, Haus-, Villen- und Gutsgärten, Kleingartenanlagen, Gartenreform-Projekte, Gartenbautechnik, Ausführungs- und Pflanzpläne.
Wertvolles für Forschung und Praxis
Dabei sind auch viele Entwürfe enthalten, die bisher vollkommen unbekannt waren, weil sie nie publiziert wurden, so zum Beispiel ein Vorentwurf zu seinem eigenen Haus oder der Wettbewerbsbeitrag für einen Volkspark in Berlin-Schöneberg. Zu vielen bekannten Anlagen finden sich nicht nur die Originale der abgedruckten Pläne, sondern oft auch weitere Skizzen, Projekt- und Ausführungspläne, beispielsweise zum oft publizierten Garten Trunkhahn in Budapest. Manche Gruppen umfassen neue Inhalte zu noch existierenden Anlagen, wie Konstruktions- und Pflanzpläne zum Mariannenpark in Leipzig. Andere zeigen komplett unbekannte Arbeiten, so etwa den Garten Ury am Königssee in Berlin, der 1944 durch Bomben zerstört wurde.3 Zusätzlich enthält das Konvolut auch eine grosse Anzahl von Akten, Briefen und Fotos zu Arbeiten aus Migges Büro. Der Fund ist ausserordentlich bedeutend, weil er weitgehende Einblicke in die Arbeitsweise von Migge und seinen Mitarbeitern erlaubt.
Im Herbst 2015 nahmen wir eine systematische Gesamtsichtung der Bestände des Archivs in Angriff. Dabei stiessen wir im Nachlass des Zürcher Gartenarchitekten Walter Leder (1892–1985) auf die ersten Pläne Migges. Im Juli 2016 gelangte dann der letzte Teil dieses Nachlasses ins Archiv. Das Migge-Konvolut deckt einen Zeitraum zwischen 1913 und 1920 ab und stammt aus seinem eigenen Büro sowie aus der Zeit als künstlerischer Leiter bei seinem ehemaligen Arbeitgeber Jakob Ochs.4
Die Familie Leder, die unter dem Namen «Leder Gärten» noch heute den von Walter Leder 1920 gegründeten Gartenbaubetrieb in Zürich betreibt, hatte die Migge-Pläne aufbewahrt und schliesslich dem Archiv übergeben. Migge muss Leder diese Blätter 1920 mitgegeben haben, weil er sein Büro auflöste und mit seiner Frau, sieben Kindern und einem Dienstmädchen in ein kleines Häuschen in die Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen zog. Seine Tochter Rose Lenzner-Migge schildert die beengten Raumverhältnisse und sagt, dass der Umzug für ihren Vater eine willkommene Gelegenheit gewesen sei, «angehäuften ‹Kruscht› von Jahren mit Anstand loszuwerden».5
Migge und die Schweiz
Für die Schweizer Gartenarchitekten des beginnenden 20. Jahrhunderts war Leberecht Migge eines der wichtigsten Vorbilder. Im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur findet sich eine Mappe6, in der der Gartenarchitekt und Lehrer Albert Baumann (1891–1971) Zeitschriftenartikel von und über Migge gesammelt hat. Darin liegt auch ein handschriftlicher Brief von Migge an Baumann.
Zwei später einflussreich gewordene Gartenarchitekten aus Zürich hatten unter Migge gearbeitet. Der eine war Walter Leder, der vom 1. September 1918 bis zur Auflösung des Büros 1920 an einer grossen Zahl von Projekten mitgewirkt hatte. Der andere war Gustav Ammann (1885–1955), der neben Walter Leder zu einem wichtigen Botschafter von Migges Ideen in der Schweiz wurde und mit ihm befreundet war.7 Die Pläne Migges und die umfangreichen Schriftstücke aus dem Nachlass Leder werden Aufschlüsse darüber erlauben, wie Leder, Ammann und Baumann vom Werk ihres deutschen Vorbilds beeinflusst waren.
Die rund hundert Jahre alten Pläne und Skizzen müssen restauriert und von Schimmelbefall befreit werden; diese konservatorische Sicherung wird rund 100 000 Franken kosten. Zurzeit wird das Konvolut am Institut für Landschaft und Freiraum der HSR Rapperswil wissenschaftlich aufgearbeitet. Dabei stehen die Einordnung des Funds in den aktuellen Forschungsstand und seine Bedeutung für die Schweizer Gartenarchitektur im Zentrum. Nach der ersten wissenschaftlichen Aufarbeitung wird der gesamte Bestand digitalisiert und im Internet verfügbar gemacht. Eine Publikation im Birkhäuser Verlag wird den Sensationsfund dokumentieren und der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Mehr zu Leberecht Migge finden Sie in TEC21 34/2017.
Anmerkungen
1 Zu Leben und Werk vgl.: David D. Haney. When Modern was Green. Life and work of landscape architect Leberecht Migge. New York 2010.
2 Heidrun Hubenthal (Hrsg.). Bibliographie über Leberecht Migge. Findbuch zum Leberecht-Migge-Archiv. Arbeitsberichte des Fachbereichs Architektur Stadtplanung Landschaftsplanung Heft 156. Kassel 2004. S. 9.
3 Antje Hansen (Hrsg.). Oskar Kaufmann. Ein Theaterarchitekt zwischen Tradition und Moderne. Berlin 2001.
4 Jakob Ochs war zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der grössten und wichtigsten Gartenbaubetriebe in Deutschland. Migge erlangte darin schnell eine wichtige Rolle als künstlerischer Leiter. Zum Betrieb von Jakob Ochs und der Rolle von Leberecht Migge siehe: Britta von Husen und Heino Grunert. Der Gartenarchitekt Jacob [sic] Ochs (1871–1927) und sein Atelier. In: Die Gartenkunst, 11. Jahrgang, Heft 1, 1999, S. 54.
5 Rose Lenzner-Migge. Väterchens Sonnenhof. In: Helmut Böse-Vetter und Inge Meta Hülbusch (Redaktion). Worpswede und umzu. Haus und Hof – Land und Leute. Notizbuch 25 der Kasseler Schule. Kassel 1991. S. 38.
6 Leberecht Migge. Sammelmappe. Hrsg. Albert Baumann. Oeschberg-Koppigen, 1920 (SLAB 814).
7 Vgl. Johannes Stoffler. Gustav Ammann. Landschaften der Moderne. Zürich 2008. S. 29 ff.
Leberecht Migge
Leberecht Migge, geboren 1881 in Danzig, absolvierte ab 1898 eine gärtnerische Ausbildung in Hamburg, arbeitete 1904–1913 als Techniker und künstlerischer Leiter in der Gartenbaufirma Ochs in Hamburg und gründete 1913 sein eigenes Büro in Hamburg-Blankenese.
1920 zog er mit Büro und Familie in die avantgardistische Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen und eröffnete 1926 ein Büro in Berlin. Er starb 1935 in Worpswede.
Migge zählt zu den führenden Vertretern der sozialen Freiraumplanung: Vor dem Hintergrund der extremen politischen Umbrüche in Deutschland forderte er den Garten, insbesondere den Nutzgarten, für die breite Bevölkerung.
Diesem Anspruch folgte er in seinen Siedlungsplanungen, und er detaillierte ihn in der Gartengestaltung. Während seiner produktivsten Phase arbeitete er u. a. mit den Architekten Bruno Taut, Martin Wagner und Ernst May zusammen.
ASLA, SLA, HSR
Besitzerin aller Pläne des Archivs für Schweizer Landschaftsarchitektur ASLA ist die gemeinnützige Stiftung für Schweizer Landschaftsarchitektur SLA. Gemeinsam mit der Hochschule für Technik Rapperswil HSR ist sie Trägerin des Archivs.
Das Archiv sammelt die Nachlässe der wichtigsten Schweizer Landschaftarchitektinnen und Landschaftsarchitekten und weist heute einen Bestand von rund 100 000 Archivalien auf, die einen Zeitraum von 1860 bis 1990 abdecken.
Es ist die wichtigste Quelle für die praktische Gartendenkmalpflege in der Schweiz. Die Archivalien dienen vor allem der Forschung und Lehre an der HSR, aber auch auswärtigen Instituten und Forschenden.