Zuhause
Jeder und jede wohnt. Entsprechend ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen richten sich die Leute ein – praktisch, repräsentativ oder eher vorläufig. Das Vitra Design Museum widmet sich in der neuen Ausstellung «Home Stories» dem Zuhause und den Entwicklungen, die private Interieurs während der letzten 100 Jahre geprägt und verändert haben.
Was zeitgemässes Wohnen im 20. und 21. Jahrhundert ausmacht, wurde in Musterwohnungen und Publikationen hinreichend gezeigt. Von Seite Architektur kamen oft Vorschläge, die sich gern mit dem Anspruch des Allgemeingültigen schmückten – oder dem, was sie dafür hielten. Vonseiten der Innengestaltung waren es eher Lösungen von Fall zu Fall, individuell und massgeschneidert. Und wer dafür keine Mittel hat, sieht sich in einschlägigen Publikationen um. Bücher und Zeitschriften zum Wohnen bilden längst ein eigenes Genre und machen wiederum den Innenraumgestaltern das Leben eher schwer.
20 stilbildende Interieurs
Die Ausstellung «Home Stories» gleicht einer Reise in die Vergangenheit. Sie zeigt, wie sich in unserem Wohnumfeld gesellschaftliche, politische und technische Veränderungen der letzten 100 Jahre widerspiegeln. Angelpunkt sind wirtschaftliche und gesellschaftliche Zäsuren, die das Design und die Nutzung des westlichen Interieurs geprägt haben: knapper werdender Wohnraum, das Vermischen von Arbeit und Privatem, die ungezwungene Wohnkultur ab den 1960er-Jahren, verbunden mit der neuen Wohnform im Loft, und die modernen Haushaltsgeräte ab den 1950er-Jahren. Diese Umbrüche werden anhand von 20 stilbildenden Interieurs des eher exquisiten Standards veranschaulicht, darunter Entwürfe von Architekten wie Adolf Loos, Finn Juhl, Lina Bo Bardi oder Assemble, Künstlern wie Andy Warhol oder Cecil Beaton sowie der legendären Innenarchitektin Elsie de Wolfe.
Das verspricht teils wenig bekannte, aber doch relevante Positionen. Andere bekannte Namen wie Charlotte Perriand und Le Corbusier, Frank Lloyd Wright, Gae Aulenti1, Carlo Molino oder Piero Fornasetti fehlen in der Schau entweder ganz oder werden einzig im Katalog zur Ausstellung erwähnt. Dafür werden einige Überraschungen gezeigt, so etwa Josef Frank, Michael Graves, Bernard Rudolfsky und Jacques Tati. Dazu aber auch, man staune, IKEA.
Dokumentationen und drei Installationen 1:1
Die Ausstellung stellt keine Interieurs nach, zu viele Elemente würden so fehlen, z.B. Raumhöhen, Raumfluchten, Tageslicht oder die Übergänge zwischen innen und aussen. Dokumentiert sind diese Interieurs mit Fotografien, Filmen und Dokumenten, und gezeigt werden jeweils auch repräsentative Referenzobjekte. Das tut dem Sehvergnügen keinen Abbruch: Wer sich die Musse nimmt, genau hinzuschauen, wird die Ausstellung geniessen.
Drei Objekte sind 1:1 zu sehen. Zwei begehbare Installationen in Originalgrösse finden sich ausserhalb des Museums. Die Rekonstruktion von Verner Pantons legendärer «Phantasy Landscape» (1970), ein höhlenartiger Wohntunnel aus buntfarbigen Polsterelementen, steht im Feuerwehrhaus von Zaha Hadid. Und vor dem Museum veranschaulicht das Mikro-Haus «Hexacube» (1971) von George Candilis die Experimente mit modularen, mobilen Wohneinheiten. Im Museum steht zudem eine Frankfurter Normenküche von Margarete Schütte-Lihotzky, wie sie von 1926 bis 1930 zehntausendfach in verschiedenen Frankfurter Siedlungen eingebaut wurde.
Adieu, gute Stube – hello, lockere Bude
Thema sind zudem die radikalen Traditionsbrüche im Interiordesign von den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren, allen voran jene der aus dem Studio Alchimia hervorgegangenen italienischen Designergruppe Memphis unter Ettore Sottsass. Der Modedeschöpfer Karl Lagerfeld sammelte Memphis-Entwürfe und verwandelte damit seine Wohnung in Monte Carlo zu Beginn der 1980er-Jahre in einen Ort der Postmoderne. Andy Warhols «Silver Factory» in New York (1964–1967) wiederum war in den 1960er-Jahren eines der ersten Beispiele für das Wohnen in einem verlassenen Fabrikgebäude, dem Loft.
Dasselbe geschah, wenn auch nicht so radikal, aber immerhin merklich, mit den Wohnungen der Generationen, die sich ab etwa 1960 erstmals einrichteten. Die Polstergruppe mit passendem Büfett fiel dem Zeitgeist zum Opfer. Man suchte sich in der Brocante zusammen, was man brauchte, leistete sich ab und zu ein Designerstück und wollte vor allem anders leben als die Elterngeneration. Und hier kam das Angebot von Ingvar Kamprad mit seinem 1958 in Schweden gegründeten Möbelhaus IKEA genau richtig. IKEA fasste in der Schweiz erstmals 1973 in Spreitenbach Fuss und betreibt heute (Stand Ende 2019) über 423 Shops in 52 Ländern. So verwundert es nicht, dass auch der blau-gelbe Möbelriese in der Ausstellung seinen Platz erhalten hat.
Bilder mit Sinn für den Raum
Der Auftakt im ersten Raum wartet unter anderem mit einer ruhigen und höchst sehenswerten Diaschau auf, Bilder, die der britische Entwerfer Jasper Morrison gesammelt hat. Er sagt bescheiden, einigermassen zu wissen, was einen gelungenen Einrichtungsgegenstand ausmache. Aber einen stimmigen Raum zustande zu bringen sei schwieriger. Morrison sagt, aussergewöhnlich gut gelungene Interieurs seien viel seltener als aussergewöhnliche Möbelstücke. 44 dieser Fotografien werden auch im empfehlenswerten Katalog gezeigt, eine Art kleine Schule des Sehens.
Anmerkung
1 Gae Aulenti hat eine eigene Ausstellung im Vitra Schaudepot: 21. Februar bis 11. Oktober, «Gae Aulenti - ein kreatives Universum»
Home Stories. 100 Jahre, 20 visionäre Interieurs
Vitra Design Museum, Weil am RheinDie Ausstellung ist noch bis zum 23. August zu sehen.
Öffnungszeiten: täglich 10–18 Uhr
Infos zum Begleitprogramm gibt es hier.
Katalog zur Ausstellung
Mateo Kries, Jochen Eisenbrand (Hrsg.): «Home Stories. 100 Jahre, 20 visionäre Interieurs.
Softcover, mit Klappen, 25 x 25.5 cm, 320 Seiten, ca. 500 Bilder. Vitra Design Museum: Weil am Rhein 2020, ISBN: 978-3-945852-37-8. 84.90 Fr.
Unser Zuhause ist ein Ausdruck dessen, wie wir leben möchten. Die Inneneinrichtung von Wohnräumen unterhält weltweit einen eigenen Wirtschafts- und Medienzweig. Dennoch fehlt es heute an einem ernsthaften Diskurs darüber, wie wir wohnen und uns einrichten. Dieses Buch bietet einen umfassenden Blick auf die Gestaltung von Wohnräumen.
In einem eigens für das Buch entstandenen Portfolio ausgewählter Fotografien untersucht Jasper Morrison, was ein gutes Interieur ausmacht. Neben Praktikerinnen im Bereich der Innenarchitektur kommen Expertinnen für Wohnsoziologie und Wohnpsychologie zu Wort. Die Fülle von Beiträgen macht das Buch zu einer wertvollen Quelle für jeden, der sich für Innengestaltung interessiert.