Luxus des Ein­fa­chen

Räumliche Entdeckungsreise

Kast Kaeppeli Architekten haben in Bern ein bescheidenes Arbeiterhaus umgebaut. Die beengten Grundrisse waren eine Herausforderung, ­doch sie erwiesen sich als treibende Kraft. Eine Subtraktion brachte die Lösung: Ein präziser Eingriff schaffte Raum für überraschende Qualitäten.

Date de publication
28-04-2016
Revision
25-05-2016

Bei einem Umbau sind die Leitplanken des Entwurfs enger gesteckt als bei einem Neubau. Der Bestand bildet den Rahmen, in dem sich das Projekt entwickeln kann. Neben den üblichen Einschränkungen wie den Baukosten, Baugesetzen, Sicherheitsauflagen und statischen Gegebenheiten bildet die physische Präsenz des Gebäudes eine unumstössliche Realität, mit der sich der Entwurf arrangieren muss, an der er aber auch wächst.

Dies kann rebellisch bis ironisch ausfallen, wie bei den «jungen Wilden» in Belgien, namentlich architecten de vylder vinck taillieu und 51N4E. Oder aber die Reaktion auf den Bestand führt dazu, dass die Historie aufgenommen und elegant weitergeführt wird. Der Wiederaufbau des Ostflügels am Museum für Naturkunde in Berlin von Diener & Diener zeigt diese Herangehensweise ebenso wie die Neuinterpretation von Mustern in Putzfassaden von Hild und K Architekten in München.

Wie auch immer die Strategie ist – die Konzepte reiben sich am Bestand und führen zu einer Synthese, die ohne den Dialog mit dem bestehenden Gebäude undenkbar wäre. Erst in Kombination mit einem Haus, an dem sich die Gedanken wetzen und schärfen können, entsteht ein neues Drittes.

Leben im alternativen Quartier

Dieses Dritte kann seine Wirkung auch weit unspektakulärer entfalten als in den oben aufgeführten Beispielen. Im Bestand kann ungenutztes Potenzial schlummern, das erst durch eine sorgfältige Lektüre erkannt und aktiviert werden muss. Bei grossbürgerlichen ­Villen und verschrobenen Altstadthäusern fällt dies naturgemäss leichter als bei ärmlichen oder gar kargen Gebäuden. Dementsprechend sind Freude und Überraschung grösser, wenn unverhoffte Qualitäten zum Vorschein treten. Beim Umbau an der Jurastrasse 59 in Bern war genau dies der Fall.

Das unscheinbare Haus gehört zu einem Ensemble aus vier Gebäuden und steht im Berner Lorraine­quartier. Eingeklemmt zwischen den Viadukt der SBB, auf dem die Züge Richtung Wankdorf gegen Osten verbeirollen, und der Aare mit dem nahe gelegenen Freibad bietet der Ort in direkter Nachbarschaft herausragende Qualitäten wie auch Faktoren, die den Aufenthalt beeinträchtigen. Neben dem Schatten und den Emis­sionen des Bahnviadukts stört vor allem eine Hochspannungsleitung, die zwischen dem Haus und der Aare steht.

Sie gehört zum Dotierwerk Engehalde, das «Energie Wasser Bern» auf der gegenüberliegenden Ufer betreibt. Und doch ist die Lorraine ein sehr beliebtes Quartier. Es ist im 18. Jahrhundert als Folge des Bahnlinienbaus entstanden und erfüllt einige der Klischees, die Aussenstehende der Stadt Bern gern anhängen: Ein nonchalanter Umgang mit dem Aussenraum weist auf ein reges und vergleichsweise ungezwungenes Leben hin. Auf dem Weg vom Helvetiaplatz in Richtung Aare­ufer hängen Reggae-Beats in der Luft: Sie dringen aus dem Studio des Lokalsenders Radio RABE. 

Suffizienz avant la lettre

In den Häusern lebten und leben heute noch oft Arbeiterfamilien – auch wenn dort ebenfalls die Gentrifizierung langsam um sich greift und die finanziell schwächeren Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Quartier drängt. Um dieser schleichenden Entwicklung etwas entgegenzusetzen, sollte das Haus an der Jurastrasse – das sich im Vermögen der Stadt Bern befindet – auch weiterhin günstigen Wohnraum bieten.

Die Ausgangslage war herausfordernd: Auf jedem Stock des 14.5 × 8 m messenden Grundrisses waren vier Wohnungen von etwa 25 m2 Fläche angeordnet. Die Erschliessung erfolgte über den Laubengang gegen die Aare hin. Von diesem Laubengang aus führte ein durchgehender Korridor ins Gebäude und trennte das Haus in zwei Hälften.

Die Kleinstwohnungen wurden über die Küchen betreten, die in einer parallel zum Korridor liegenden Raumschicht untergebracht waren. Erst danach folgten die annähernd quadratischen ­Zimmer mit einer Grösse von 16 m2. Die Wohnungen waren sehr beengt und bescheiden: ein Vorläufer der Suffizienz, der allerdings der wirtschaftlichen Not geschuldet war. Das planerische Schlagwort der Stunde liesse sich in diesem Zusammenhang eher mit «Einschränkung» als mit «Genügsamkeit» übersetzen.

Die Wie-viele-Zimmer-Wohnung

Wie kann man einer Wohnung unter diesen Verhältnissen Qualität abringen? Mit viel Instinkt für räumliche Zusammenhänge haben Kast Kaeppeli Architekten die Enge der Grundrisse in eine Stärke des Projekts verwandelt.

Thomas Kaeppeli beschreibt den entscheidenden Moment, der ihren Entwurf beeinflusste: «Als wir die Wohnung besichtigt hatten, standen alle Türen offen, und der Blick quer zum Korridor war frei. Dabei entdeckten wir den Reiz, der in der Verbindung der Schichten liegt.» Die Strategie lautete also, die Durchlässigkeit zwischen den Räumen auszureizen und die Anzahl der Verbindungen zu erhöhen.

Die Trennwände zwischen den Küchen sind verschwunden, der Eingang um eine Achse zum offenen Treppenhaus hin gerutscht: Das Resultat ist eine Wohnung, von der man nicht sagen kann, wie viele Zimmer sie genau hat. Die mittleren drei Schichten üben einen enormen räumlichen Reiz aus und gehören zu einem Grundriss, den man sich «from scratch» wohl kaum zu entwerfen getrauen würde. 

Lob dem Spezifischen

Auch wenn das Thema der Durchschusszimmer bekannt und weidlich durchexerziert ist, entstand in der Jura­strasse aufgrund der Dimensionen des Raums eine einmalige Lösung. Der mittlere Gang ist lediglich 1.20 m breit, seine Nutzung wurde um 90° gedreht: Man ­durchschreitet ihn in Gegenrichtung, während an den Enden Bad und Toilette untergebracht sind – getrennt lediglich durch eine Falttüre.

In den Details hat das «Badezimmer» viel Aufmerksamkeit erhalten. Das Feinsteinzeug ist von hoher Qualität und aufwendig verlegt; ein umlaufendes Fries fasst die diagonal angeordneten Bodenplatten. Die parallel zum ehemaligen Korridor verlaufenden Zimmer sind in ihren Proportionen weniger pointiert als das Bad, doch sie fallen immer noch reichlich eng aus. In ihnen findet ein Tisch gut Platz – allerdings darf auch er nicht allzu breit sein.

Die Erfahrung weiter nutzen

Dieser Umbau ist bemerkenswert, da die Grundrisse sich ebenso vom Einheitsbrei der 4.5-Zimmer-Wohnungen abheben wie von den seltsam unbestimmten Experimenten mit Clusterwohnungen.

Dem vorliegenden Beispiel kommt zugute, dass die Leitplanken sehr eng gelegt waren und der räumliche Befreiungsschlag eine Erfindung nötig machte, die spezifisch auf die Gegebenheiten vor Ort eingeht. Die eigenwilligen Proportionen erzeugen einen Raum, der an die Obergeschosse der durchgesteckten Wohnungen in den Unités d’Habita­-tion von Le Corbusier erinnert.

Und bereits haben Kast Kaeppeli Architekten ihre Entdeckung auf ein neues Projekt angewendet: Der Wettbewerb für das Schulhaus Kleefeld in Bern (vgl. TEC21 51–52/2014, S. 8–9) nimmt das Motiv der geschichteten Gänge wieder auf – in einem anderen Massstab und Kontext. 

Zu den räumlichen Qualitäten kommt die neue Behaglichkeit hinzu: Auslöser für die Instandsetzung waren die fehlende Wärmedämmung und die mangelhafte Haustechnik. Die Fassade erhielt eine Isolation aus 20 cm Mineralfaserplatten und eine neue Verkleidung aus einer stehenden, geschuppten Bretterverkleidung aus grau lasiertem Holz.

In diesem Detail haben die Architekten ein wohlbekanntes Thema interpretiert: Das Haus war ursprünglich mit Holzschindeln eingekleidet, die in der Zwischenzeit durch Schindeln aus Faserzement ersetzt wurden. Mit der neuen Verkleidung zitieren sie das Material und die Fügung der ursprünglichen Eindeckung. 

Der Umbau wurde letztes Jahr mit dem «atuprix, auszeichnung berner baukultur» bedacht. Juror Phi­lippe Cabane bringt es in seiner Wertung auf den Punkt: «Das Projekt ist für Modernisierungsvorhaben vorbildlich und zeigt, dass Bauten wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltig erhalten und umgenutzt werden können, wenn sich Architekten und Bauherren von herkömmlichen Standardvorstellungen emanzipieren.»

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