Berührungen
Die Faszination für den Film ist so alt wie das Medium selbst. Woran liegt es, dass sich auch Architekten immer wieder für den Film interessieren, Beispiele aus Filmen zitieren oder selbst Filme drehen möchten?
Vielleicht spiegelt sich in der Wahrnehmung filmischer Raumillusionen der Wunsch, neben der Beständigkeit des Gebauten auch flüchtige Raumqualitäten zu erfassen. Vielleicht erfüllt der Film die Sehnsucht, mit dem bewegten Raum auf eine Zeitlichkeit einzugehen, die an die persönliche Raumerfahrung gebunden ist. Vielleicht gibt der Film aber auch eine Realität wieder, die unserem subjektiven Empfinden näher kommt als die Architekturdarstellung.1
Das Verhältnis von filmischen und architektonischen Räumen ist durch eine ästhetische Nachbarschaft geprägt, unterscheidet sich aber in vielen Wahrnehmungsbedingungen. Während die Zuschauerinnen und Zuschauer im abgedunkelten Kinosaal im Sessel ver-sinken, bewegte Räume als Lichtprojektion vorüberziehen lassen und in eine Welt eintauchen, welche die physische Präsenz der Gegenwart vergessen lässt und den Erzählraum zur momentanen Wirklichkeit macht, fordert die Architektur den bewegten Blick und das aktive Erkunden des Raums.2
Dort, wo dann die Architektur im Film zum Ausdruck des jeweiligen Zeitgeists wird, zur Projektionsfläche architektonischen Gestaltungswillens oder zum Schauplatz städtebaulicher Visionen, verschmelzen die beiden Bereiche.3 Oder dort, wo die Architekturdarstellung zeitbasierte Visualisierungsformen wählt, nähert sich das eine Medium dem anderen an.
Eine schwieriger zu ergründende Verbindung erschliesst sich uns dort, wo im Film Räume vorbeiziehen, die wir zwar nicht bewusst wahrnehmen, aber dennoch mit Befindlichkeiten, Tagträumen und Stimmungslagen vermischen. Hier zeigt sich, dass der Film über Gestaltungsmittel verfügt, die unsere Emotionen beeinflussen und die Imagination anregen. Wir sehen, wie filmische Raumkonzepte wie beispielsweise der Schnitt oder die Montage subjektive Raumbezüge schaffen und die Sehnsucht der Architekten einlösen, den oft diffus verhandelten Begriff der Stimmung zu präzisieren4 – und sich damit als Untersuchungsmodell anbieten, um Raumwirkungen in der Architektur neu zu begreifen und vermeintlich bekannte Wahrnehmungsmuster aufzubrechen.
Kontextexperimente im Film
Mit einem kleinen Exkurs in die Filmgeschichte der 1920er-Jahre lässt sich zeigen, wie ein filmisches Experiment Ausgangspunkt für raumgestalterische Überlegungen sein kann.
1921 unternahm Lev Kuleschow, Regisseur und Lehrer an der 1919 gegründeten weltweit ersten Filmhochschule in Moskau, verschiedene Kontextexperimente, die unter dem Namen «Kuleschow-Effekt» in die Filmgeschichte eingegangen sind. Geprägt durch die Auseinandersetzung mit bedeutungsgenerierenden Strukturen im Umfeld des sowjetischen Formalismus, geht Kuleschow davon aus, dass das Wesen des Films nicht innerhalb der Grenzen einer einzelnen Einstellung gesucht werden muss, sondern in der Verkettung dieser Fragmente: «Kurz nach der Oktoberrevolution wurde dem jungen Filmemacher Lev Kuleschow eine Filmwerkstatt übergeben. Pudowkin war einer seiner Studenten, wie auch, für kurze Zeit, Eisenstein.
Da sie nicht genügend Rohmaterial für ihre Projekte finden konnten, begannen sie, bereits fertige Filme neu zu schneiden, und bei diesem Prozess entdeckten sie eine Reihe von Wahrheiten über die Technik der Filmmontage. [...] In ihrem wohl berühmtesten Experiment nahm die Kuleschow-Gruppe drei identische Aufnahmen des bekannten vorrevolutionären Schauspielers Mosjukin und fügte sie mit Aufnahmen von einem Teller Suppe, einer Frau in einem Sarg und einem kleinen Mädchen zusammen. Nach Pudowkin, der später die Ergebnisse des Experiments beschrieb, zeigte sich das Publikum höchst begeistert von Mosjukins subtiler und affektiver Fähigkeit, solch unterschiedliche Emotionen wie Hunger, Traurigkeit und Zuneigung zu vermitteln.»5
Subjektive Raumvorstellugen
Dieses Experiment zeigt, dass die Zuschauer eine Kausalverbindung zwischen den einzelnen Einstellungen aufbauen. Aus wahrnehmungspsychologischer Sicht sind sie offensichtlich durch das Erzählkino konditioniert. Allein durch die Reihenfolge der Einstellungen nehmen sie auch die Folgerichtigkeit der Bezüge untereinander an. Die erzählerische Logik und die visuellen Verbindungen bauen im Film eine Erwartungshaltung auf, die es ermöglicht, die einzelnen Einstellungen in einen kausalen Zusammenhang zu stellen.6
Nun gibt es aber auch Situationen, in denen der Regisseur von den Regeln dieser sogenannten Kontinuitätsmontage abweicht und bewusst einen Bruch herbeiführt: In der Verfilmung von Franz Kafkas «Der Prozess» (1962) akzentuiert Orson Welles die Befindlichkeit des Protagonisten und setzt deshalb einen falschen Anschluss.
Der Film erzählt die alptraumähnliche Geschichte des Josef K., der Opfer eines Prozesses wird, ohne die Gründe der Anklage zu kennen. In der Folge gerät Josef K. in den Sog eines undurchsichtigen und vernichtenden Gerichtsprozederes. Welles überträgt mit seiner Verfilmung Kafkas Roman in eine visuelle, ja räumliche Sprache. Labyrinthartige Raumbezüge deuten die Normalität ins Bedrohliche und Paranoide um. In der gezeigten Szene wird Josef K. als Angeklagter zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen. Im berstend vollen Saal ergreift er selbst das Wort und wendet sich in einem leidenschaftlichen Plädoyer an die unbekannte, bedrohliche Menge. Er verlässt daraufhin fluchtartig den Saal und sammelt sich erschöpft vor der unvermittelt übergrossen Türe des Gerichtssaals.
Welles entwirft in dieser kurzen Abfolge von Einstellungen einen szenischen Raum, der erst im Bezug der Bilder zueinander die erwünschte Wirkung entfaltet, wie dies im «Kuleschow-Effekt» beschrieben wird. Zum einen ist die Tür zum Gerichtssaal im Innenraum deutlich kleiner als in der Ansicht von aussen. Zum anderen spannen die Einstellungswinkel der Kamera eine schiefe Ebene auf. Die Ansicht der Tür, unterstützt durch die Untersicht der Kamera, verzerrt die tatsächlichen Proportionen und zeigt eine emotional gezeichnete, subjektive Vorstellung eines Raums, der so nicht gebaut sein kann, der aber die innere Befindlichkeit des Protagonisten spiegelt. Welles bedient sich hier eines falschen Anschlusses, um mit diesem Stilmittel die emotionale Ebene der Szene räumlich nachzuzeichnen.
«Der Kuleschowsche Raum»
Ausgehend von der filmischen Raumkonstellation in «Der Prozess» stellt sich für die Architektur die Frage, welche Wirkungsästhetik der Kontext in der Wahrnehmung von realem Raum zu entfalten vermag. So ist ein gebauter Raum zwar physisch messbar, in der subjektiven Wahrnehmung jedoch vom Kontext abhängig, also von den ihn umgebenden Räumen, die seine eigenen Raumqualitäten determinieren. Ein Raum ist beispielsweise nicht an sich hoch, sondern hoch im Vergleich zu angrenzenden Räumen, zu vertrauten Massstäben, zu einer bestimmten Funktion oder zu Räumen in der Erinnerung. Der Eindruck eines Raums wird einerseits durch den vorhergehenden konditioniert, andererseits durch die Erwartungshaltung an den nächstfolgenden Raum geprägt: «Architektur ist Gliederung des Raums, um im Teilnehmer eine bestimmte Raumerfahrung gemäss früheren oder erwarteten Raumerfahrungen hervorzurufen.»7
Überraschungsmomente treten dann auf, wenn genau wie im Film gegen dieses Syntagma verstossen wird und eine Raumfolge mit der Erwartung der Betrachter bricht. Peter Märkli führt dieses Phänomen am Beispiel von «La Congiunta» (1992), einem Ausstellungsbau
für die Eisenplastiken Hans Josephsons in Giornico, geradezu paradigmatisch vor. Märkli nimmt Bezug auf die klassische Enfilade, entlang deren er die drei langgezogenen Baukörper einander folgen lässt. Zunächst rückt er die Durchgänge seitlich aus der Symmetrieachse, verändert dann aber zudem die Raumhöhen von einem Ausstellungsraum zum nächsten, was wohl die am seltensten veränderte Variable in der Raumgestaltung ist.
Die Räume unterliegen sorgfältig durchdachten Proportionsverhältnissen, treten vermutlich gerade deshalb in ein dialektisches Verhältnis zum Betrachter und fordern dessen bewegte Erkundung entlang der Exponate. Just beim Übergang von einem Raum zum nächsten, dem Schwellenmoment, da das Unerwartete eintrifft und der Raum sich anders präsentiert als erwartet – zunächst tiefer, dann viel höher –, destabilisiert dieser Bruch die Wahrnehmung des Betrachters. Diese Raumkonstellation, welche die Bewegungserfahrung mit einschliesst, könnte man in Analogie zum filmischen Kontextexperiment einen «räumlichen Schnitt», einen «Kuleschowschen Raum» nennen.
Auch beim «Tulach a’tSolais»-Memorial (1998) in Oulart Hill in Irland von Scott Tallon Walker Architects treffen wir auf einen Raum, der unsere Erwartungshaltung bricht. Die Gedenkstätte befindet sich unter einem künstlich angelegten Hügel und lehnt sich damit formal an die Ausprägung keltischer Kultstätten an. Einzig eine schmale Kerbe, bestehend aus zwei Betonscheiben, zerschneidet den Hügel und führt den Blick symbolisch in die Weite. Beim Betreten dieses Korridors öffnet sich im Inneren des Hügels ein breiter, offener Raum, der sich der anfänglich dominanten Ausrichtung des schmalen Zwischenraums entgegensetzt. Im Inneren verbleibt die Schneise durch den Hügel nurmehr als Linie zum Himmel, die in Form von Licht die Symbolik im Innenraum abbildet. Dieser überraschende Richtungswechsel spielt mit den Raumbezügen und setzt die Wirkung des Kontexts voraus.8
Unterscheiden sich Raumkonzepte im Film und in der Architektur in vielen Belangen, zeigen diese Beispiele doch, wie die ästhetische Nachbarschaft für den Umgang mit gestalterischen Problemen neue Wege öffnen kann. Der «Kuleschowsche Raum» erfasst phänomenologisch ein Erlebnismoment, beschreibt eine Raumerfahrung, die mit dem unmittelbaren Kontext und der subjektiven Erwartungshaltung verbunden ist. Der Begriff führt ein raumchoreografisches Element ein, das im Vokabular der Architektur bislang fehlt. Die Metapher wird hier zum Erkenntnisinstrument:9 Neben dem terminologischen Transfer schärft sie die Wahrnehmung, hinterfragt vermeintlich Bekanntes und eröffnet eine neue Perspektive, die in der Auseinandersetzung mit entwerferischen Fragen neue Impulse zu setzen vermag.
Anmerkungen / Literatur
1 «Architektur filmisch animiert»
2 Anne Friedberg: Die Architektur des Zuschauens, in: Gertrud Koch (Hg.): Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume. 2005, Berlin, S. 100–118. Der Text beschreibt die filmische Betrachtung als doppeltes Paradoxon. Dabei werden die Mobilität des Bildes der Stasis des Zuschauens entgegengesetzt und die Materialität des Raums der Immaterialität des Bildraums. Diese Wahrnehmungsdisposition unterscheidet sich grundlegend von derjenigen der Architektur und führt in eine mobilisierte Visualität, welche die Leinwand zum Fenster werden lässt
3 Donald Albrecht: Architektur im Film. Die Moderne als grosse Illusion. Basel 1989; Ralph Eue und Gabriele Jatho (Hg.): Production Design + Film. Schauplätze, Drehohrte, Spielräume. Berlin 2005; Mark Lamster (Hg.): Architecture and Film. New York 2000; Dietrich Neumann (Hg.): Filmarchitektur. Von Metropolis bis Blade Runner. München 2000, u. a.
4 Hans Beller (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raums. Stuttgart 2000; Giuliana Bruno: Atlas of Emotion. Journeys in Art, Architecture and Film. New York 2000.
5 James Monaco: Film Verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films. Reinbek bei Hamburg, 1985/1977; S. 355–356. Die einzige Überlieferung des «Kuleschow-Effekts» geht auf Pudowkin zurück, der diesen in einem Vortrag von 1929 bzw. in einer im selben Jahr erschienenen Publikation beschreibt. In «Pudowkins Experiment mit Kuleschow», Image 5, Zeitschrift für interdisziplinäre Bildforschung, 23. Januar 2007 (www.bildwissenschaft.org/journal/), stellt Hermann Kalkofen fest, dass die Rezeption dieses Experiments erhebliche Unterschiede aufweist. Er stellt die These auf, dass es sich angesichts der ungesicherten Quellenlage möglicherweise um eine Legende handelt
6 Hans Wulff: Der Plan macht’s. Wahrnehmungspsychologische Experimente zur Filmmontage, in: Hans Beller (Hg.): Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. München 1993, S. 178–189
7 Edmund Bacon: Stadtplanung von Athen bis Brasilia. Zürich 1968, S. 21
8 Semesterarbeit von Micha Gamper im WS 2007/08 im Wahlfach Film, Departement Architektur, Hochschule Liechtenstein
9 Christina Brandt: Metapher und Experiment. Göttingen 2004. Brandt zeigt auf, wie sich die Metapher von der wissenschaftlich gemiedenen Sprachfigur zum bedeutungskonstituierenden Element gewandelt hat, das an der Schnittstelle unterschiedlicher Diskurse zur Theoriebildung beitragen kann
10 Die Überlegungen in diesem Artikel beruhen auf der Dissertation «Der filmische Blick auf den Raum. Wirkungsmechanismen der Raumwahrnehmung», ETH Zürich 2006, die unter folgendem Titel erschienen ist: Doris Agotai: Architekturen in Zelluloid. Der filmische Blick auf den Raum. Bielefeld 2007