La­bor für Re-use: von der Hy­po­these zur Rea­lität

In den letzten Jahren gewinnt das Thema Re-use im franzö­si­schen Bausektor an Bedeutung. Die Architekten des Kollektivs Encore Heureux stellten 2019 das Projekt Grande Halle in der Normandie fertig.

Date de publication
07-07-2021

Dass man in Frankreich immer öfter Bauten aus Re-use-Teilen begegnet, lässt sich mit der zunehmenden Nachfrage ­seitens der Politik erklären, doch auch ­Vor­reiter des gegenwärtigen ökologischen ­Umdenkens spielen eine wichtige Rolle. Das Architektenkollektiv Encore Heureux zählt mit seiner breiten, generalistischen Denkweise zu den Initianten dieser Bewegung in Europa. Im Jahr 2019 hat das Büro das Projekt «Grande Halle en Normandie» realisiert, das thematisch an seinen «Pavillon Circulaire» in Paris aus dem Jahr 2015 anknüpft.

Die Grande Halle in Colombelles, eine ehemalige Elektrowerkstatt, liegt an einer der höchsten Stellen am Stadtrand von Caen und zeugt als ein letztes Relikt im Industriebecken der Normandie von der im Jahr 1993 stillgelegten Metallverarbeitung. Nachdem der Bau mehr als 25 Jahre leer ­gestanden hatte, regte die Organisation Normandie Aménagement an, ihn augenfällig umzugestalten: Er befindet sich am Rand der ­vorstädtischen Zersiedlung, die sich bedrohlich gegen die Ebene ausbreitet, und versinnbildlicht die sich verändernde Praxis architektonischer Konzepte und ein neues Wirtschaftsmodell. Genauso sinnbildlich wie der Bau ist der Entscheid in dieser Industriebrache, die Grundlagen zu schaffen, um aus diesem «tiers-lieu» ein Gemeinschaftswerk zu machen.

Schaufenster der Kreislaufwirtschaft

Der zentrale Auftrag lautete, das Gebäude durch eine Renovation wieder zum Leben zu erwecken – und nicht etwa, es durch einen Neubau zu ersetzen. Dieses Vorgehen wurde nie infrage gestellt, hatte aber an und für sich nichts mit «Re-use» zu tun, da die Bausubstanz auf dem Gelände einfach umgestaltet worden wäre – für eine ähn­liche Nutzung wie vorher.

Ein Richtungswechsel veränderte das Thema inhaltlich: Das brachliegende Gebäude sollte zu einem Schaufenster der Kreislaufwirtschaft werden. Auf die ehrgeizige Idee reagierte der Bauherr mit einer inhaltlichen Doppelung auf einer zweiten Ebene: Die Elektrowerkstatt sollte nicht nur als bestehender Bau einer Instandsetzung unterzogen werden, sondern mit eingefügten Bauelementen, die die Attribute der Re-use-Architektur aufweisen, ergänzt werden.

Mehr zum Thema Kreislaufwirtschaft finden Sie in unserem E-Dossier.

Den Vorschlag, den die Architekten als Initianten mit ihren kompetenten Planungsbüros machten, unterstützte der Bauherr, der hinter dem experimentellen Charakter des Projekts stand, voll und ganz. Zwei Punkte gaben den Handlungs­spiel­raum vor, in dem alle Parteien zu­sam­men­-fanden. Erstens führte der Auftrag­geber für die Ver­trags­gestaltung einen eigenen Kostenpunkt «Lot 01» von 100 000 € ein. Mit dieser etwa 1,7 % der ­Baukosten umfassenden Summe wurde ein Experte bezahlt, der die Unternehmer bei Fragen um die Wiederverwendung unterstützte.

Die Organisation Wip, die mit der Bauleitung beauftragt war, koordinierte die Position «Lot 01» prominent bei allen Schnittstellen jener Arbeiten, bei denen auch neue Materialien infrage kamen. Die Wiederverwendung alter Teile liess sich zweitens mittels des «cahier des clauses techniques et particulières» (CCTP) praktisch in Varianten umsetzen, indem jede vorgeschla­gene Re-use-Leistung mit den Angeboten aus neuen Materialien verglichen wurde.

Kompetenzen erneuern

Die unterschiedlichen Varianten erlaub­ten es, die sonst üblichen Quali­­täts- und Preiskriterien, aufgrund derer normalerweise entschieden wird, um vielschichtigere Quervergleiche aus Kosten, Haltbarkeit, ökologischem Fussabdruck und sozioökonomischen Auswirkungen zu erweitern. Wiederverwendete gusseiserne Heizkörper aus den nahen Verwaltungsabteilungen waren zwar teurer als der Kauf neuer Ge­räte, aber umweltfreundlicher bezüglich Transport, Metallgewinnung und ihrer konkurrenzlosen Lebensdauer.

Die Nutzung alter Schachttüren oder Holzelemente aus den Arbeiterwohnungen war kein finanzieller Vorteil, aber die Bauteile sind gehaltvolle Erinnerungsstücke, konnten einfach installiert werden, die Transportwege waren kurz, und lobenswert war, dass kompetente lokale Handwerker Arbeit erhielten. Auf der Baustelle erzählen die Schreiner, dass ihre nahezu auf Montagearbeiten reduzierten handwerklichen Fähigkeiten endlich wieder gefragt waren.

Vorgefasste Meinungen entkräften

Für Valentin Blanlot von Wip und Morgan Moinet von Encore Heureux geht es beim Thema Re-use genauso um die Dekonstruktion von Gebäuden wie um die von vorgefassten Meinungen. Die Umgestaltung der Grande Halle als Pilotprojekt ermöglichte es, die meisten der für die Wiederverwendungspraxis notwendigen Prozesse mit allen Beteiligten zu vereinheit­lichen: von der Kommunikation mit dem Eigentümer bis zur Validierung der Versicherungen, die nach der Auftragserteilung und vor dem Ausbau der Re-use-Teile abgeschlossen werden mussten.

Eine zentrale Aufgabe, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine ständige Beobachtung der regionalen Bauaktivitäten erfordert, kommt dem Finden von «Lagerstätten» zu, also Bauten, die vor dem Abriss stehen und die ein Potenzial für die Rückgewinnung gesuchter Teile bieten. Das ist in Regionen mit wenig Baustellen und Abbrüchen schwieriger. In Gebieten mit vielen Baustellen kann dies dagegen zu Einsparungen in der Lagerlogistik führen, da der gleichzeitige Rück- und Wiedereinbau von Teilen zwischen den beteiligten Orten einfacher wird.

Der regionale Einfluss, den die Grande Halle als Wiederverwendungslabor hat, ist nicht nur materieller, sondern auch kämpferischer Natur. Das Projekt ist ein Be­kenntnis zur Kreislaufwirtschaft: mit dem auskommen, was man vor Ort hat, mit wiederverwendeten Ressourcen und Materialien aus der Nachbarschaft, aber auch mit erweiterten lokalen Fähigkeiten. Im Gebiet von Colombelles erweckt die Wiederverwendung sinnbildlich die Hoffnung, ein Baunetz mit seinem Potenzial an sozialen, wirtschaftlichen und produktiven Verflechtungen wiederzubeleben, das die Industriegebiete des letzten Jahrhunderts hatten.

Am Bau Beteiligte

 

Bauherrschaft: SEM Normandie Aménagement, + EPFN Colombelles

 

Architektur: Encore Heureux, Paris

 

Tragwerksplanung: Ligne BE + T&E Ingé­nierie, Carquefou

 

 

Facts & Figures

 

Grundstück: 25 927 m2

 

Restaurierte Fläche: rund 3700 m2

 

Das «Grosse Schiff»: 1100 m2

 

Konferenzräume: 16–115 m2

 

Büros: 500 m2

 

Baukosten: 5.8 Mio Euro

Entstanden im Auftrag des Bundesamts für Umwelt sind bei espazium – Der Verlag für Baukultur folgende Sonderhefte zur Kreislaufwirtschaft erschienen:

 

Nr. 1/2021: «Zirkuläre Architektur: Bauten, Konzepte und Zukunftsstrategien»

Die Artikel dieser Ausgabe und weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem digitalen Dossier «Kreislaufwirtschaft».