Les Jar­dins de la Gra­delle

Selten ergreifen private Investoren die Gelegenheit, sich über die Konventionen des Wohnungsbaus hinwegzusetzen. Die Bauherrschaft von «Les Jardins de la Gradelle» in Cologny GE hat es getan und auf räumliche Grosszügigkeit gesetzt. Entworfen und umgesetzt wurde das Projekt vom Genfer Büro LIN.ROBBE.SEILER.

Date de publication
08-06-2021
Yony Santos
Head of education espazium.ch | Architekt | Redaktor

Durch politischen Druck und neue Vorschriften hat sich die Lage am Genfer Markt für Renditeliegenschaften in den letzten Jahren bedenklich zugespitzt. Die drei Mehrfamilienhäuser, die das Genfer Büro LIN.ROBBE.SEILER in Cologny umgesetzt hat, bringen frischen Wind in die Vorstadt und lohnen eine genauere Betrachtung.

Das Anfang 2020 fertiggestellte Projekt steht auf einer privaten, ein Hektar grossen Parzelle im Quartier La Gradelle am Stadtrand von Genf und bietet staatlich subventionierte günstige Miet- und Sozialwohnungen an idealer urbaner Lage.

Fünf Jahre vor der Fertigstellung hatte der Grundeigentümer einen Studienauftrag auf Einladung ausgeschrieben. Das Projekt sollte zur Verdichtung des urbanen Quartiers beitragen und darüber hinaus eine einzige Vorgabe erfüllen: der nächsten Generation «eine qualitativ einwandfreie Liegenschaft zu hinterlassen».

Wohnen in einem blühenden Garten

Das Siegerteam nahm diese Herausforderung an. Um mitten in einem Geflecht aus bunt zusammengewürfelten Einfamilienhäusern exemplarische Architektur entstehen zu lassen, galt es, die Parzelle und ihre Qualitäten voll auszunutzen.

Das ist dem Architektenteam mit drei kompakten Häusern mit jeweils fünfeckigem Grundriss gelungen. Die Bauten verfügen über sechs, acht respektive neun Geschosse, auf denen das gesamte Bauprogramm mit insgesamt 99 Wohnungen untergebracht ist. Sie beanspruchen ein Minimum an Bodenfläche und lassen dadurch Raum für einen gemeinsamen Park als wichtigste Ressource des neuen Quartiers.

Diese Ausrichtung am Umfang bildet den roten Faden des Projekts. So sind die drei Volumen von grosszügigen umlaufenden Balkonen eingefasst, die durch ihre organische Geometrie und die versetzte Anordnung für eine gute Besonnung sorgen und der Überbauung eine gewisse Verspieltheit und Leichtigkeit verleihen. Diese bei jeder Witterung nutzbaren Aussenräume sind bezeichnend für die räumliche und funktionale Grosszügigkeit des gesamten Gebäudekomplexes.

Dem gleichen Prinzip folgt die Landschaftsgestaltung vom Zürcher Büro Studio Vulkan. Eine ringförmige Promenade rahmt die Gebäude ein und gewährt über mehrere Wege den Zugang zum Zentrum des Parks und zum Herzstück der Überbauung. Hier befinden sich eine Grünfläche und die Hauptzugänge zu den Häusern und den gemeinsamen Räumen, die Anlage bietet sich als Begegnungs- und Austauschort für alle Bewohner an.

Im Projekt La Gradelle agieren Architektur und Landschaftsarchitektur Hand in Hand im Dienst der ursprünglichen Projektidee, die die Architekten als «eine zeitgemässe Interpretation der Gartenstadt» bezeichnen. Die Gebäude scheinen aus einer blühenden Wiese zu wachsen, die von steinernen Wegen, Spielplätzen und vielfältigen Begegnungsräumen durchbrochen ist.
 

Neue Formen der Grosszügigkeit

Dieselbe Grosszügigkeit wie in den Aussenbereichen findet sich auch im Innern der Gebäude. Jede Wohnung verfügt über eine 15 x 35 m2 grosse, in einer Gebäudeecke angeordnete Loggia, die das Wohnzimmer in Ess- und Wohnbereich gliedert und sämtliche Räume nach aussen erweitert. Auch die Badezimmer und der Stauraum entsprechen nicht den Standardgrössen, sondern allein den Kriterien des Bauherrn, der fand, die Normvorgaben entsprächen nicht den Bedürfnissen und der Lebensweise heutiger Familien.

Sämtliche Zirkulationsflächen verfügen über raumhohe Türen und Fenster. Schiebewände ermöglichen eine flexible Nutzung, was die Mieter gerade während der Pandemie sehr zu schätzen wussten. Auch die Oberflächen und die Ausstattung sind aussergewöhnlich: eine eloxierte Aluminiumfassade, massives Eichenparkett, Holz-Metall-Fenster und eine voll ausgestattete Küche. Die harmonisch aufeinander abgestimmten Materialien schaffen eine gemütliche Atmosphäre.

Auf jedem Geschoss sind fünf 1.5- bis 6-Zimmer-Wohnungen so angeordnet, dass sie sich nicht direkt gegenüberliegen und vor dem Verkehr geschützt sind, aber trotzdem Ausblicke in die weitere Umgebung zulassen. Vor allem aber bringen sie eine neue Vielfalt in die normierten Lösungen für Mietwohnungen ein und interpretieren Verdichtung nicht nur als eine Frage der Quantität, sondern auch als Gelegenheit, neue Formen der Grosszügigkeit zu entwickeln. Die Grösse der Wohnungen – z. B. eine 4-Zimmer-Wohnung mit 109 m2 ohne Aussenflächen – ist ein handfester Beleg dafür.

Warum nicht mehr Wettbewerbe für private Bauprojekte?

Das Projekt, das von Beginn an unter der Leitung der Immobilienverwaltung Moser Vernet & Cie stand und über alle Etappen hinweg von den Projektverfassenden selbst umgesetzt wurde, ist auch ein Hoffnungsschimmer für Architektinnen und Architekten, die den «Gesetzen» des privaten Markts unterworfen sind, auf dem zeitliche und finanzielle Vorgaben oft wichtiger sind als die Qualität. Die beispielhafte Umsetzung in Cologny wurde sogar erst durch Abweichung von den Vorgaben ermöglicht.

Eine Ausnahmebewilligung, im stark urbanisierten Umfeld ohne Quartierplan zu bauen, erlaubte es dem Eigentümer, das schwerfällige und langsame Quartierplanverfahren durch einen Wettbewerb auf Einladung zu ersetzen. Das ist bei solchen Projekten äusserst selten der Fall. Wäre es – in Anbetracht des Marktanteils von privaten Immobilien – nicht sinnvoll, die rechtlichen Mechanismen oder die politischen Strategien dahingehend weiterzuentwickeln, dass qualitativ hochstehende private Projekte gefördert werden? Warum sollen den Eigentümern nicht häufiger Abweichungen von rechtlichen oder zeitlichen Vorgaben bewilligt werden, wenn sie im Gegenzug Wettbewerbe als «Qualitätssicherungsinstrument» einsetzen?

Bisher schienen die einzigen Wohnbauprojekte, die einen Mehrwert für den städtischen Raum bringen, von Wohnbaugenossenschaften zu stammen. Das von einem privaten Bauherrn initiierte Projekt La Gradelle entstand aber ohne Quartierplan, Mitsprache- und Referendumsmöglichkeiten und zeigt, dass qualitativ hochstehende Architektur auch spontan entstehen kann, sofern ein Immobilienentwicklungsprojekt nicht um jeden Preis von finanzieller oder räumlicher Rentabilität dirigiert wird. Hoffen wir, dass «Les Jardins de la Gradelle» vielen anderen als Beispiel dienen werden.


Die französische Originalversion dieses Artikels finden Sie hier.

Übersetzung: Wulf Übersetzungen.

 

 

Les Jardins de La Gradelle in Cologny GE

 

Auftraggeber: privat

Bauzeit: 2014–2020

Kosten: 51 Mio. CHF

Fläche: 10 600 m2

SIA 102 | 100%

 

Am Bau Beteiligte

 

ArchitekturLIN.ROBBE.SEILER, Genf

BauingenieurwesenMoser Ingénierie SA, Genf

Landschaftsarchitektur: Studio Vulkan, Zürich

Étiquettes

Sur ce sujet