«Wir ha­ben keine Wahl»

Am 13. Juni 2021 hat das Schweizer Stimmvolk das CO2-Gesetz an der Urne abgelehnt. Trotzdem will die Schweiz ihre Agenda 2030 umsetzen und bis 2050 Netto-Null erreichen. Was heisst das für den Bausektor? Dr. Chris Luebkeman, ehemaliger Arup-Vordenker und Mitglied im Stab des ETH-Präsidenten, plädiert für schonungslose Ehrlichkeit, Pragmatismus – und eine positive Haltung.

Date de publication
30-09-2021

Der Schweizer Gebäudepark verursacht rund ein Drittel der inländischen CO2-Emissionen, hinzu kommt der ­Ver­kehrssektor mit einem weiteren Drittel. Um den CO2-Ausstoss zu drosseln, sind Verkehrs­planung und Städtebau daher ebenso gefordert wie Architektur, Ingenieurwesen und Gebäudetechnik. TEC21 sprach  mit Dr. Chris Luebkeman, dem Leiter des neu ge­schaffenen «Strategic Foresight Hub» im Stab der ETH Zürich, über seine Einschätzung der Lage: Was kann die Planungsbranche dazu beitragen, dass die Schweiz trotz dem Aus für das revidierte CO2-Gesetz ihre Klimaziele gemäss dem Klimaabkommen von Paris einhalten kann?

TEC21: Herr Luebkeman, mit der Ablehnung des CO2-Gesetzes entfällt ein wichtiges Lenkungs­­instrument, um das Ziel Netto-Null zu ereichen. Was können Planerinnen und Planer im Bauwesen nun konkret tun?

Dr. Chris Luebkeman: Wir haben keine Wahl, wir müssen Netto-Null erreichen. Die Frage ist nur, wie schnell: Forschung und Entwicklung bleibt nur wenig Zeit, bevor Reaktionen im klimatischen System eintreten, die wir weder vorhersehen noch kontrollieren können. Wir müssen die Ursachen des Klimawandels besser verstehen, Wissen sammeln, vermitteln, ausbilden. Es gibt allerdings viele Hebel, die heute schon bekannt sind und die wir Planerinnen und Planer unmittelbar ansetzen können: welche Energiequellen wir nutzen, welche Materialien wir wählen, ob wir Kontrollsysteme implementieren oder nicht. Andere Faktoren sind schwerer zu steuern, etwa die Herkunft bestimmter Materialien. Hier braucht es sicher noch Regelungen und Deklarationspflichten auf globaler Ebene. Vor allem aber braucht es einen Willen zur Veränderung, ein hohes persönliches Engagement aller Baufachleute: Wer nicht selbst überzeugt ist, wird keinen Auftraggeber überzeugen, wirklich etwas an seiner Praxis zu ändern. Der betreibt nur Greenwashing.

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In Bezug auf den Verbrauch von Betriebsenergie hat sich dank Vorschriften einiges getan: 1975 verbrauchte ein durchschnittlicher Wohnungsneubau das Äquivalent von jährlich 22 l Heizöl pro Quadratmeter Energiebezugsfläche, um seinen Wärmebedarf zu decken, mit den MuKEn 2014 sollen sich Neubauten ab 2020 möglichst selbst mit Wärmeenergie versorgen.1 Im Gegensatz dazu rückt die graue Energie, die für die Herstellung der Baustoffe und die Errichtung von Bauten notwendig ist, erst allmählich in den Fokus, obwohl sie in heutigen Neubauten bis zu 25 % der gesamten Primärenergie für Erstellung, Betrieb und Mobilität ausmacht. Welche Handlungsmög­lichkeiten gibt es hier? In vielen Fällen, etwa im Infrastrukturbau, haben wir kaum Alternativen zu energie­intensiven Baustoffen wie Beton.

Umso wichtiger ist es, dass wir den ganzen Lebenszyklus unserer Bauten verstehen und kon­trollieren, inklusive Transformationen und Rückbau. Wir tun immer so, als ob wir für die Ewigkeit bauen würden: Wir haben eine klare Vorstellung unserer Bauten als System, aber diese Vorstellung ist statisch, sie bezieht sich nur auf das Funktionieren zum Zeitpunkt der Fertigstellung, vielleicht noch auf den Betrieb. Darüber, was geschieht, wenn das Leben eines Systems zu Ende ist, mögen wir nicht nachdenken. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, wir verdrängen das Ende unserer Bauten ebenso wie unseren eigenen Tod.

Das ist absurd und kurzsichtig. Unser Ziel muss sein: Circular Economy am Bau, eine Kreislaufwirtschaft von Baustoffen und Bauteilen, die man beim Rückbau demontiert und wiederverwendet. Die Rohstoffe und die graue Energie, die darin stecken, sollen nicht vernichtet werden, sondern anderen Bauten zugutekommen. Deshalb gilt es, Neubauten konsequent systemgetrennt zu konstruieren. Auch muss man anfangs den Wandel und die Anpassbarkeit mitdenken: Wenn es zum Beispiel aus ökonomischen Gründen nicht drin liegt, Dach und Fassade mit PV auszustatten, dann muss man sie eben so kon­struieren, dass ein späteres Nachrüsten möglich ist. Abgesehen davon nimmt der Druck der Öffentlichkeit auf die Baubranche zu. Banken und Versicherungen zum Beispiel bieten günstigere Konditionen für nachhaltige Bauten und solche, die auf die Herausforderungen des Klimawandels vorbereitet sind. Auch die Materialhersteller bekommen diesen Druck allmählich zu spüren, und sie beginnen, CO2-neutrale Baustoffe zu entwickeln – Zementhersteller zum Beispiel tüfteln an einem Beton, der CO2 binden kann. Planerinnen und Planer können diese Entwicklung ankurbeln, indem sie ihre Auftraggeber aufklären und von der Bauindustrie Materialien mit geringerem CO2-Fussabdruck einfordern.

Zurzeit ist der Anreiz für Auftraggeber, CO2-neutral zu bauen, nach wie vor eher ideeller Natur. Bauen für Netto-Null setzt Innovation voraus und bedeutet einen Mehraufwand: Rezyklierte Materialien sind nicht günstiger als neu hergestellte, für wiederverwendete Bauteile gibt es weder Normen noch Garantien, und die Erschliessung lokaler, erneuerbarer Energiequellen ist eine zusätzliche Investition. Wie können Planerinnen und Planer ihre Auftraggeber von der Notwenigkeit überzeugen, trotz Mehrkosten klimaneutral zu bauen?

Es stimmt nicht, dass Bauen für Netto-Null automatisch teurer ist. Es braucht mehr Denkarbeit, das ja – aber wenn man es clever macht und den ganzen Lebenszyklus einbezieht, zahlt sich die Investition wieder aus. Das ist ja gerade der Mehrwert einer kompetenten Planung! Überhaupt sollten wir Professionals unsere Leistung besser hervorheben und viel selbstbewusster auftreten. Mit einem positiven, in die Zukunft gerichteten Diskurs können wir unseren Auftraggebern signalisieren, dass wir der Herausforderung des klimagerechten Bauens gewachsen sind, dass wir Lösungen anbieten. Die Frage ist: Sprechen wir das Vokabular von Netto-Null? Architekturschaffende sprechen über Raum, Inge­nieure über Kräfte, Landschaftsarchitekten über Zeit – ebenso selbstverständlich sollten alle auch über Netto-Null sprechen. Wir müssen eine Leader-Rolle übernehmen, mit gutem Beispiel vorangehen und auch unbequeme Gespräche mit unseren Bauherrschaften führen. Das wird sich als Marktvorteil erweisen: Ich bin überzeugt, dass der Druck der nächsten Generationen zunehmen wird. Projekte, die ohne Rücksicht auf Umweltschäden kurzfristige Gewinnmaximierung anstreben, werden irgendwann einfach nicht mehr nachgefragt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 30/2021 «Netto-Null trotz Bauboom?»

1 «Neue Gebäude versorgen sich ab 2020 ganzjährig möglichst selbst mit Wärmeenergie und zu einem angemessenen Anteil Elektrizität. Gebäude vor 1990 erstellt: Die Verwendung von Strom für Widerstandsheizungen und Warmwasseraufbereitung wird ab 2015, mit einer Sanierungspflicht innert zehn Jahren, verboten. Die Warmwasseraufbereitung muss bei wesentlichen Sanierungen ab 2020 zum grössten Teil durch erneuerbare Energien erfolgen.» Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich MuKEn, Ausgabe 2014 (Nachführung 2018 aufgrund geänderter Norm), S. 10.

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