Der grösste ge­mein­same Nen­ner

Genossenschaft Kalkbreite, Zürich (ZH)

Die 2014 bezogene Genossenschaft Kalkbreite ist ein Vorzeige­projekt urbanen Wohnens. Standort und Program­mierung brachten allerdings ausserordentliche orga­nisatorische, statische, bauliche und energetische Herausforderungen. Der Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum zieht sich als roter Faden durch alle Entscheidungen.

Date de publication
10-02-2022

Manchmal ist Architektur wie ein Spiel – je höher das Risiko, desto grösser der Erfolg. Der Bau für die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich Wiedikon spielt in Sachen herausfordernde Rahmenbedingungen in der Champions League. Die Ausgangslage: ein innerstädtisches Grundstück, eingeklemmt zwischen Bahngleisen und einer vielbefahrenen Strasse, vier Bauherrschaften, ein Tramdepot, das in die Überbauung zu integrieren ist, höchste energetische und ökologische Anfor­derungen und als Sahnehäubchen ein partizipativer Entwurfsprozess mit Quar­tierbewohnern und zukünftigen Nutzerinnen und Nutzern.

Das Potenzial erkennen

Am Anfang der Geschichte, vor etwa 20 Jahren, gab es hier zwischen Lochergut und Bahnhof Wiedikon nur einen Wendeplatz der städtischen Verkehrsbetriebe. Schon damals war Zürich notorisch klamm, wenn es um bezahlbaren Wohnraum in der Stadt ging – ein 6350 m² grosses, praktisch unbebautes Grundstück wirkte vor diesem Hintergrund wie ein uneingelöstes Versprechen. Doch mitten in der Stadt heisst in ­diesem Fall auch: mitten in einer Verkehrsinfrastruktur. Im Südwesten liegt der Seebahngraben der SBB-Linie Zürich–Thalwil, im Norden die vielbefahrene Badenerstrasse. Trotzdem gab es ab der Jahrtausendwende Bestrebungen, eine Wohnüberbauung auf dem Grundstück zu realisieren. Fahrt nahm das Projekt im Frühling 2006 auf, als Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers den Verein Kalkbreite gründeten, um das Areal weiterzuentwickeln. Die Stadt stimmte zu, der Verein wurde zur Genossenschaft und erhielt das Land im Baurecht. In einem intensiven Partizipationsprozess mit Genossenschaftsmitgliedern, den VBZ und dem Amt für Hochbauten entwickelten die Beteiligten ein Raumprogramm.

Im Video erklärt Tina Cieslik, weshalb das Projekt in ihren Augen für hohe Baukultur steht.

Schon früh war klar, hier etwas jenseits des üblichen genossenschaftlichen Wohnungsbaus verwirklichen zu wollen: Gewerbe sollten ebenso Platz finden wie Alternativen zu üblichen Wohnungs­typologien für die Kleinfamilie, alles bottom-up gemeinsam entschieden und gemäss den Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft realisiert. 2009 gewannen Müller Sigrist Architekten aus Zürich den dafür ausgeschriebenen offenen Projektwettbewerb.

Gemeinsam statt einsam

Die programmatische Lösung für diese Aufgabe lautet: teilen statt besitzen. Das gilt für die Mobilität – die Siedlung ist autofrei, es gibt E-Bikes und öV-Jahresabos zum Ausleihen – ebenso wie für Gemeinschaftsflächen. Nutzungen, die alle brauchen, wie Wasch- und Trockenräume, aber auch eine Bibliothek, nach Bedarf temporär zumietbare Wohnjoker oder Büroarbeitsplätze, werden nicht individuell den Wohnungen zugeschlagen, sondern allen zur Verfügung gestellt. So konnten die Wohnungsgrundrisse knapp bemessen bleiben, was sich wiederum positiv auf den Mietpreis auswirkt. Durchschnittlich wohnt eine Person in der Kalkbreite auf 32.6 m2 (inklusive ­Gemeinschaftsflächen), der Schweizer Durchschnitt liegt bei 45 m2. Neben Studios und regulären Wohnungen für die Kleinfamilie gibt es auch einen Grosshaushalt aus 20 Wohnungen und 50 Personen, mit Grossküche und Gemeinschaftsraum. Insgesamt bietet der Bau Platz für rund 250 Bewohnerinnen und Bewohner.

Mehr Artikel zum Thema Baukultur: Qualität und Kritik finden Sie in unserem E-Dossier.

Die bauliche Antwort auf die vorge­gebenen Parameter ist eine polygonale Grossform, die das Grundstück maximal ausreizt. Wie ein Ozeandampfer besetzt der bis zu neungeschossige Bau die Parzelle. An der Nord- und Südseite flankiert er das Tramdepot, das ins Gebäude inte­griert wurde. Das gesamte Volumen kann via eine durchgängige rue intérieure durchschritten werden – eine elegante Lösung, die es erlaubt, von der Eingangshalle aus jeden Ort im Gebäude zu erreichen, ohne ein einziges Mal nach draussen gehen zu müssen. Gestalterisch-konstruktiv hielten sich die Architekten an die Maxime, alle Materialien reversibel zu ver­bauen. Das Innere kommt entsprechend schnörkellos, aber hochwertig daher, mit Oberflächen aus Sichtbeton, massivem Eichenholz und wenigen, der Signaletik geschuldeten farblichen Akzenten.

Das Herzstück der Siedlung ist der 2500 m2 grosse Innenhof. Im dritten Obergeschoss, auf dem Dach des Tramdepots gelegen, bietet er die Freifläche und Ruhe, die an dieser dichten, lärm­exponierten Lage sonst nur schwer zu finden ist. Der Hof ist auch für Externe zugänglich. Eine steile Treppe führt vom Trottoirniveau hinauf, was dem Bau auch schon den Vorwurf einer Gated Community einbrachte – wer hier hinaufsteigen will, tut das bewusst. Vom Hof aus reichen weitere Treppen bis auf die Dachterrassen. Spätestens hier sind die Bewohnerinnen und Bewohner dann unter sich, die Öffentlichkeit muss draussen bleiben. 

Mehr Mut!

Lärm und die immer wieder neu zu verhandelnden Grenzen zwischen öffentlich und privat sind denn auch Themen, die die Bewohnerinnen und Bewohner der Kalkbreite immer wieder beschäftigen. Doch trotz diesen Schwierigkeiten lässt sich rund acht Jahre nach dem Bezug feststellen: Das Konzept funktioniert und hält auch den sozialen und ökolo­gischen Ansprüchen der Bauherrschaft stand. Umso mehr fragt man sich: Günstige Mieten, umfassender Service für die Bewohnerinnen und Bewohner, attrak­tive Bedingungen für das Gewerbe und ein Gewinn für das Quartier – wieso ist das nicht auch woanders möglich?

Neben engagierten und fähigen Enthusiasten, die das Potenzial des Standorts erkannten und politischen Druck ausüben konnten, brauchte es auch den Mut der städtischen Behörden, sich auf das Abenteuer mit einzulassen, noch dazu mit einer damals unerfahrenen Bauherrschaft. Dazu passt, dass die Genossenschaft den Bau nicht vom einem Generalunternehmen planen und bauen liess, sondern das Projekt gemeinsam mit Müller Sigrist Architekten realisierte.

Belohnt wurde dieser Einsatz in vielerlei Hinsicht: Die Kalkbreite ist nicht nur eine identitätsstiftende Landmarke für das Quartier und die Stadt, sondern auch ein Vorzeigeprojekt urbanen Wohnens mit mittlerweile internationaler Strahlkraft. Oder um es mit Vitruv zu sagen: Hinsichtlich Dauerhaftigkeit und Nützlichkeit ist das Projekt in der Schwierigkeitsskala weit oben angesiedelt. Was Vitruv allerdings sträflich vernachlässigte, waren Projektorganisation und -abwicklung: Hier hat der Bau neue Massstäbe gesetzt.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Baukultur: Qualität und Kritik». Bestellen Sie jetzt!

Genossenschaft Kalkbreite, Zürich (ZH)

 

Am Bau Beteiligte
Architektur
Müller Sigrist Architekten, Zürich

 

Landschaftsarchitektur
Freiraumarchitektur, Luzern

 

Baumanagement
B & P Baurealisation, Zürich

 

Tragkonstruktion
Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure, Zürich

 

HLK-Planung
3-Plan Haustechnik, Winterthur

 

Bauphysik
BWS Bauphysik, Winterthur

 

Holzbauplanung
Makiol Wiederkehr, Beinwil am See

 

Signaletik
HinderSchlatterFeuz, Zürich

 

Farbgestaltung
Jörg Niederberger, Niederrickenbach

 

Begleitung ökolog. Nachhaltigkeit
Durable Planung und Beratung, Zürich

 

Projektdaten
Fertigstellung
Frühjahr 2014

 

Bauzeit
2012–2014

 

Kosten
Wohn- und Gewerbebau: 63.5 Mio. Fr., Tramhalle 11.5 Mio. Fr.

 

Volumen
Wohn- und Gewerbebau: 76 230 m3 (ohne UG: 66 620 m3), Tramhalle: 25 859 m3

 

Nutzfläche
Wohn- und Gewerbebau: 22 900 m2, Tramhalle: 3050 m2

Sur ce sujet