Sign of the times

Aktuelle Arbeiten aus dem SIA Masterpreis

In Basel sind die ausgezeichneten Projekte des nationalen Wettbewerbs für Masterarbeiten «SIA Masterpreis» der Jahre 2022 und 2023 zu sehen. Die Arbeiten zeugen von einem grundlegenden Wandel im Verständnis dessen, was Architektur zu leisten vermag.


 

Date de publication
11-06-2024

«Sign of the Times: Aktuelle Arbeiten aus dem SIA Masterpreis» – auch wenn der Titel der Ausstellung im Schweizer Architekturmuseum S AM zunächst sehr allgemein klingt und kaum Neugierde weckt, die ausgestellten und prämierten Masterarbeiten von Studierenden der Schweizer Architekturschulen1 sind inspirierend, zum Teil überraschend und selten auf die Architektur selbst beschränkt. 

Unter den ausgezeichneten Arbeiten befinden sich viele freie Projekte, also Aufgaben, die sich die Studierenden selbst gestellt und oft über zwei Semester bearbeitet haben. Die Gründlichkeit, mit der die Recherche in diesen Fällen erfolgen konnte, merkt man den Arbeiten an. Fundierte Analysen füllen ganze Bücher, filmische Dokumentationen vermitteln Einblicke in die Arbeit der Studierenden. Sie befassen sich ebenso mit dem Klimawandel, dem Umgang mit Ressourcen und den Folgen extensiver und industriell geprägter Landwirtschaft wie mit sozialen und gesellschaftlichen Fragen. 

Auffällig ist, dass die Projekte selten ein singuläres Bauwerk als Resultat zeigen, vielmehr sind es Infrastrukturen, die verwoben sind mit der Landschaft, dem Kulturraum oder der Stadt. Die baulichen Interventionen zeigen gleichzeitig ein verändertes Verständnis davon, was ein Bauwerk ist oder sein kann. Die aus der Funktion und/oder der Ästhetik der vorherigen Nutzung heraus entwickelten Anlagen suchen den Dialog mit dem Ort, sind als Teile des Kulturraums gedacht oder nutzen diesen und fordern uns damit auf, das Potenzial des Gebauten neu zu sehen. 

Überraschende Symbiosen

Eine Arbeit etwa befasst sich mit der Frage unseres Wassermanagements nach der Gletscherschmelze. Der Vorschlag zeigt den Ersatz der natürlichen durch künstliche Wasserspeicher, die temporär Wasser aufnehmen, aber auch anderweitig genutzt werden können, wenn kein Wasser gespeichert werden kann oder muss. Das Konzept eines dezentralen Netzwerks von Stationen bindet Parkplätze und Strassen ebenso ein wie Wiesen- und Ackerflächen. 

Eine weitere Arbeit nutzt die Erosion, die durch die schmelzenden Gletscher massiv zunimmt, um mittels minimaler Hilfskonstruktionen in einem Walliser Bergtal einen Staudamm wachsen zu lassen, der ein Wasserreservoir bilden kann. Ein Projekt ermöglicht mit der Wiederverwendung von Stahlinfrastrukturen aus Skigebieten die Reaktivierung der Kastanienwirtschaft im Misox. 

➔ Hier gibt es das Interview mit Sandro Hauser, Preisträger 2022 und Autor des Entwurfs «Alpine Rekomposition – Über das Wiederverwenden von Stahlinfrastrukturen im Misox»

Die industrielle Landwirtschaft in Polen, die nicht nur das Kulturland, sondern auch die traditionelle bäuerliche Kultur grundlegend verändert hat, nimmt eine Studentin als Ausgangspunkt, um aus dem Bestehenden Perspektiven für den Ort und die Menschen abzuleiten. Sie nutzt den bei der Maisproduktion entstehenden natürlichen Abfall zur Herstellung von Dämmmaterial, dessen Trocknung auf den Maisfeldern in eigens entwickelten Konstruktionen erfolgt, die die Landschaft genauso prägen wie die traditionellen Heutrockengestelle in der vorindustriellen Zeit. Gleichzeitig hilft das Material, den maroden Gebäudebestand der einfachen Landarbeitersiedlungen zu sanieren. Die Arbeit bildet eine Brücke von der handwerklichen zur industriellen Landwirtschaft. 

Kluge Eingriffe, grosse Wirkung

Am Beispiel der an der nordfriesischen Küste gelegenen Stadt Husum zeigt eine andere Studentin eine mögliche Lösung für den Erhalt von Landschaft bei steigendem Meeresspiegel. Die partielle Öffnung des Deichs ermöglicht die Sedimentablagerung auf der Landseite. Damit steigt nicht nur das Meer, sondern auch die Landschaft in die Höhe. Landschaft und Bauwerk formen sich dabei gegenseitig. Alle Projekte arbeiten mit der jeweils spezifischen Landschaft, ihrer Geschichte und den Rahmenbedingungen und schaffen mit dem Vorhandenen eine zukünftige Perspektive. 

Diese Haltung zeigt sich auch bei den Arbeiten, die sich mit dem Gebauten im urbanen Kontext befassen. Eine Studentin nutzt etwa ein ehemaliges Fabrikgebäude in Winterthur um und kombiniert den Anbau von Zitronen mit einer Wohnnutzung, wobei die Wohnungen als Teil der vertikalen Plantagen dienen. Eine andere Arbeit bietet dauerhaftes Wohnen für Obdachlose in Brüssel durch die Umnutzung eines Bürobaus mit nur minimalen Eingriffen, um gleichzeitig mit der Öffnung des Erdgeschosses den Stadtraum zu aktivieren. 

Für das unter Denkmalschutz und leer stehende Hotel National in der moldawischen Hauptstadt Chişinău entwickelt eine Studentin ein gesellschaftliches Projekt, das auf Aneignung und Teilhabe basiert. Eine weitere Arbeit zeigt, wie additive Bestandsergänzungen einer bestehenden Blockrandstruktur mit Gewerbebauten im Innenhof es ermöglichen, Verdichten und Weiterbauen sensibel und sozialverträglich umzusetzen. 

➔ Lesen Sie hier das Interview mit Olga Cobuscean, Preisträgerin 2023 und Autorin des Entwurfs «Hotel National – Arriving Back Home»

Relevant und vielseitig

Die angehenden Architektinnen und Architekten zeigen mit ihren Projekten, dass Architektur aus der Mitte der Gesellschaft und für die Gesellschaft entsteht. Zentral sind für die Studierenden die Analysen von Klima, Geschichte, Ort, den wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen und in der Konsequenz das Entwickeln von Strategien, die umfassende Lösungsansätze bieten können. 

Dieses Verständnis spiegelt sich auch in den Projektpräsentationen. Die Darstellung der Arbeiten beschränkt sich nicht auf die klassischen Präsentationsformen von Plan und Gebäudemodell. Bleistiftzeichnungen, Fotografien, Videodokumentationen, Interviews und Landschaftsstudien ergänzen das Repertoire und bieten unterschiedliche Zugänge zu den Arbeiten. 

Es ist schön, dass die Projekte den jeweils benötigten Raum bekommen und grosszügig präsentiert sind – das macht sie gut nachvollziehbar und die Schau lebendig. Die Ausstellung ist eine Kooperation des S AM mit dem SIA und dem Architekturrat2 und noch bis Ende August zu sehen. Ein Besuch lohnt sich.

Die Ausstellung «Sign of the times: Aktuelle Arbeiten aus dem SIA Masterpreis» im Schweizerischen Architekturmuseum S AM in Basel ist bis 25. August zu sehen. 

Anmerkungen

 

1 Gemeinsam mit dem Architekturrat der Schweiz zeichnet der SIA mit dem Masterpreis Architektur jährlich die besten Masterarbeiten in diesem Fachbereich aus. Alle Schweizer Hoch- und Fachhochschulen, die einen Masterstudiengang in Architektur anbieten, nominieren Arbeiten für die Auszeichnung. Eine unabhängige Jury prämiert aus den nominierten Projekten jeweils fünf bis acht. 

 

2 Der Architekturrat vereint alle Hochschulen und Fachhochschulen der Schweiz im Bereich Architektur und als Berufsverband den Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA) sowie den Bund Schweizer Architekten (BSA) in einer gemeinsamen Plattform.

Weitere Information sowie die ausgezeichneten Arbeiten finden Sie in unserem E-Dossier SIA Masterpreis Architektur und sia-masterpreis.ch.

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