Bauen in­ne­rhalb der pla­ne­ta­ren Gren­zen

Europa steuert auf eine Zukunft mit Hitzewellen, Nahrungsmittelknappheit und weiteren gravierenden Schäden zu. Warum jedes Grad Erderwärmung zählt, das Tempo der aktuellen Klimapolitik nicht ausreicht und was sich im Bauen konkret ändern muss, damit Netto-Null bis zum Jahr 2030 gelingen kann.

Date de publication
11-06-2024
Jakob Schneider
Architekt, Mitglied der Geschäftsleitung bei Salathé Architekten, Gründungsmitglied von Countdown 2030, Mitglied SIA Berufsgruppe Architektur

Netto-Null ist ein Etappenziel, das auf einem politischen Konsens und einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz gründet. Klimaschützende fordern Netto-­Null bis 2030; ein grosses Schweizer Automobilunternehmen strebt 2040 an und die nationale Politik legte 2050 fest. Ob dieses Ziel jedoch zur Farce oder zum echten Klimaschutz wird, hängt davon ab, welche Berechnungsmethode für die zu reduzierenden Treibhausgasemissionen angewandt wird und wie lang und steil der Absenkpfad festgelegt ist. Werden historische Schulden einbezogen? Rechnet man nur die im Inland verursachten Emissionen oder auch die durch den hiesigen Konsum im Ausland anfallenden Emissionen mit? Um zu verstehen, dass es mit dem Klimaschutz schnell gehen muss, braucht es eine klare Vorstellung davon, was passiert, wenn wir zu spät oder zu langsam reagieren.


Jedes Zehntelgrad ist von Bedeutung

Sicherheit und Gesundheit sind zentrale Themen des Bauens. Sei dies bezüglich Erdbeben, Feuer, Lärm, Schadstoffen oder Einbruchschutz. Merkwürdigerweise sind wir in Bezug auf den Klimaschutz regulatorisch massiv im Hintertreffen; selbst russisches Roulette ist sicherer als die aktuelle Klimapolitik. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird trotz des globalen Netto-Null-Ziels bis zum Jahr 2050 eine Klima­erhitzung von über 1.8 °C stattfinden und 1.5 °C ist bis dahin noch so wahrscheinlich wie Kopf oder Zahl bei einem Münzwurf1. Die geplanten globalen Massnahmen sind sogar derart ungenügend, dass die klimatische Erhitzung bis ins Jahr 2100 voraussichtlich bereits ca. + 3 °C2 erreichen wird und somit aufgrund der Kipppunkte im Klimasystem auch über Jahrtausende nicht mehr auf ein vorindustrielles Niveau gesenkt werden kann.3,4

Die Prognosen sehen düster aus. Falls wir global weitermachen wie bisher, werden wir in der Schweiz gegen Ende des Jahrhunderts eine deutlich spürbare Klimaerhitzung von bis zu 5.4 °C erleben; im Sommer sind das bis zu + 7.2 °C.5 Auf globaler Ebene bedeutet dies, dass grosse Teile der Erde für Menschen unbewohnbar werden. Denn Konditionen von ganzjährig 40 °C bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 60 % lassen einen Aufenthalt im Freien nicht mehr zu.6

Weitere Beiträge zum Thema finden sich in TEC21 12/2024 «Balanceakt Netto-Null»

Eine Gruppe von Umweltwissenschaftlerinnen und Umweltwissenschaftlern des Stockholm Resili­ence Centers entwickelte unter der Leitung von Johann Rockström das Konzept der planetaren Grenzen. Sie hat die Stabilität des Ökosystems der Erde untersucht und dabei festgestellt, dass die Belastungsgrenzen bereits in mehreren Bereichen überschritten wurden und somit hohe Risiken bestehen, dass unser Ökosystem kollabiert.7

Auf diesem Konzept basiert die Annahme, dass ab + 1 °C die Risiken stark steigen und mit einer temporären Klimaerhitzung um 1.5 °C bereits ein erhebliches Risiko besteht, dass grosse Schäden am Ökosystem unumkehrbar sein werden. Das langfristige Ziel sollte daher sein, die Treibhausgase wieder auf das vorindustrielle Niveau zu senken.
Das Konzept zeigt auch, dass es für eine nachhaltige Entwicklung nicht ausreicht, sich allein auf die Bekämpfung des Klimawandels zu fokussieren. Es braucht ein integriertes Verständnis der Wechsel­wirkung der verschiedenen planetaren Grenzen. Bereits überschritten sind die Bereiche globale Erwärmung, Abnahme der Biodiversität, Entwaldung, das Einbringen neuartiger Substanzen (z. B. Mikroplastik, Farb­stoffe oder Pestizide), die Stoffkreisläufe (Übermass an Stickstoff und Phosphor) und der Süsswasser­verbrauch.8

Die Klima- und Biodiversitätskrisen sind dabei die grössten Herausforderungen. Neben Migrationsbewegungen in einem unvorstellbaren Ausmass werden durch die rasante klimatische Veränderung Flora und Fauna vielerorts überfordert. Das weltweite Artensterben wird vielen Menschen die Lebensgrundlage entziehen. Ökosystemdienstleistungen werden versagen, der Meeresspiegel wird steigen und ganze Küstenregionen werden überflutet. Immer häufiger werden Ernteerträge ausbleiben und Wetterextreme massiv zunehmen. 

Weitere Beiträge zu Netto-Null finden sich in unserem digitalen Dossier

Von den erwarteten zehn Milliarden Menschen bis 2050 wird in diesem Szenario bis zum Ende des Jahrhunderts gemäss Professor Schellnhuber, Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung von 1992 bis 2018, nur noch eine Bevölkerung von einer Milliarde Menschen überleben können.9 Die Folgen sind so gravierend, dass sie mit «einer organisierten globalen Gemeinschaft nicht mehr vereinbar sein werden», sagt Kevin Anderson vom Tyndall Center for Climate Change Research.10 


Die Politik allein wirds nicht richten

Momentan bewegen wir uns global in die falsche Richtung. Eine politische Kehrtwende, die ein Limit der Klimaerhitzung bei 1.5 °C ernst nimmt, ist noch nicht in Sicht. Wer will, dass diese 1.5 °C mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überschritten werden, muss global Netto-Null bis zum Jahr 2030 fordern.

Betrachten wir das Schweizer CO2-Budget, ist der Handlungsbedarf noch grösser. Berücksichtigen wir den «Fair Share», also die historischen Emissionen sowie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, und setzen uns das 1.5 °C-Ziel, so ist unser fairer Anteil am globalen CO2-Budget bereits aufgebraucht11 und die Klimaschuld beläuft sich auf rund 1140 Mt CO2-Äquivalente.12 Gemäss Wissenschaftlern der Plattform «Climate Action Tracker» müsste die Schweiz ab 2020 bis 2050 die aktuell 42 Mio. Tonnen im Inland auf null reduzieren und zusätzlich jährlich ca. 70 Mio. Tonnen CO²-Äquivalente im Ausland vermeiden, um dazu beizutragen, dass sich die globale Klimaerhitzung mit 50 % Wahrscheinlichkeit bei 1.5 °C stabilisiert.13 Die aktuelle Klimastrategie des Bundes zielt unter Berücksichtigung des «Fair Share» auf eine Erhitzung von ca. + 2.7 °C bis 2030.14

Begriffsklärungen und Abkürzungen finden sich im Klimaglossar

Selbst wenn wir die Klimagerechtigkeit aus­blen­den, also historische Schulden erst ab 2016 anrechnen und die importierten grauen Emissionen ignorieren, wird mit dem vom Bund geplanten Absenkpfad unser Budget bis 2030 aufgebraucht sein.15 Netto-Null bis 2050 ist somit für die Schweiz ganz klar ungenügend und nicht mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar. Wir brauchen Netto-Null so schnell wie möglich und müssen gleichzeitig unsere Klimaschulden tilgen. Auf internationaler und nationaler Ebene sind die Bemühungen nicht ausreichend, aber Netto-Null kann auch in kleinerem Massstab, beispielsweise für Regionen, Unternehmen oder Gebäude erreicht werden. 

Bau schlau!

«Countdown 2030 – Verein für zukunftsfähige Baukultur» hat die folgenden Strategien und Massnahmen zusammengestellt. Sie zeigen ganz konkret, wie es gelingen kann, die 1.5 °C-Grenze einzuhalten und Netto-­Null im Bauen bis ins Jahr 2030 zu erreichen. Der Verein unterstützt eine umfassende Betrachtung, in der Erstellung und Betrieb über den gesamten Lebenszyklus bilanziert werden. Ergänzend dazu wird mit der geplanten Norm SIA 390/1 eine entsprechende normative Basis geschaffen, die es ermöglicht, Netto-Null für Bauten nachweisen zu können. 

Grundsätzlich gilt, dass neben der Reduktion der Emissionen durch Suffizienz, Effizienz und Konsistenz die verbliebenen Emissionen zeitnah rückgebunden werden müssen. Weiter sind Bauten, die sich durch eine qualitativ hohe Baukultur auszeichnen und als «schön» gelten, vielfach langlebiger und werden besser unterhalten, was sich wiederum positiv auf die Treibhausgasbilanz auswirkt.

Energie
–    Bauten werden bis auf wenige Ausnahmen erneuerbar geheizt und betrieben. Ab sofort werden keine fossil betriebenen Wärmeerzeuger mehr geplant oder eingebaut. Bestehende fossil betriebene Anlagen müssen schnellstmöglich ersetzt werden, möglichst (aber nicht zwingend) nachdem die Gebäudehülle energetisch saniert wurde. Restemissionen sind entsprechend rückzubinden.
–    Der Energiebedarf von Bauten wird erneuerbar erzeugt. Dafür sind zusätzlich ca. 30 TWh mit Photovoltaik zu erzeugen. Dächer und Fassaden sind, wo immer sinnvoll, aktiv zu nutzen. Bauten sollten möglichst energiepositiv werden.

Wohnen
–    Massnahmen zur Erhöhung der Nutzflächeneffizienz reduzieren den Wohnflächenbedarf auf durchschnittlich unter 41 m² pro Person. Somit kann der Bedarf an Wohnraum im Bestand gedeckt werden und das zusätzliche Bauen von Wohnungen wäre vielerorts nicht mehr notwendig.

Erstellung 
–    Für die Erstellung sollte der Zielwert von 6 kg CO2/ m²a (nach SIA 2032) unterschritten werden. Rest­emissionen müssen dauerhaft rückgebunden werden. 
–    Bauten werden zu temporären Kohlenstoffsenken, indem vermehrt schnell nachwachsende biogene Baustoffe zur Anwendung gelangen. So werden netto zwischen 3 und 5 Mt CO2 pro Jahr temporär eingelagert. Dämmungen aus nicht erneuerbaren Rohstoffen sollten nicht mehr verwendet werden. Der Anteil von biogenen Materialien muss mindestens 50 % betragen. Über Baustoffkataster soll die Senkenwirkung nachgewiesen werden.
–    Mittels Kreislauffähigkeit (Cradle to Cradle) wird es zukünftig einfacher, klimagerecht zu bauen und beim Rückbau werden weniger Treibhausgase emittiert. In einem Gebäudepass werden die Mengen aller eingesetzten Baustoffe erfasst. Davon werden 90 % nach dem Rückbau wiederverwendet.

Baukultur
–    Eine qualitativ hohe Baukultur ist Voraussetzung für Nachhaltigkeit. Aufgaben, für die ein planerischer Lösungsvorschlag notwendig und für die Erreichung des Ziels der Beschaffung massgebend ist, werden nach Ordnung SIA 142 oder Ordnung SIA 143 aus­geschrieben. Falls dies nicht möglich ist und die Aufgabe nur einen kleinen Projektierungs- und Gestaltungsspielraum beinhaltet, sollte das Planerwahlverfahren nach Ordnung SIA 144 zur Anwendung kommen.

Klimaanpassung
–    Neben den Massnahmen, die auf die Reduktion der Treibhausgasemissionen abzielen, müssen Bauten zudem resilienter geplant werden. Wetterextreme wie Starkregenereignisse und Hitzeperioden sind zu berücksichtigen. Ausreichend begrünte Aussenflächen, Schattenplätze, Schwammstadt und hygroskopische Materialien sind mögliche Ansätze.

Gemeinschaftsprojekt Netto-Null

Bei allen Massnahmen muss die Bevölkerung überzeugt werden und es ist dafür zu sorgen, dass nicht die Ärmsten den Preis für Klimaschäden zahlen. Daher sind auf politischer Ebene sektorenübergreifende, sozialverträgliche Massnahmen nötig, wie zum Beispiel eine CO2-­Bepreisung, die mit einer Rückvergütung pro Kopf verbunden ist. 
Und um mit «grünem» Wachstum nicht einfach die gleichen Probleme in hübscherem Kleid zu schaffen, braucht es Postwachstumskonzepte, wie zum Beispiel die von der Ökonomin Kate Raworth entwickelte «Donut-Ökonomie». Sie definiert einen Rahmen auf Basis der planetaren Grenzen und der Menschenrechte, innerhalb dessen alle Länder wirtschaften können.
Spannende Konzepte und Möglichkeiten gibt es also viele. Und der gesellschaftliche Umbau in allen Sektoren wird sich sowieso vollziehen. Je früher wir damit beginnen, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir einem grossen Teil der Menschheit weiterhin ein würdevolles Leben ermöglichen können. Ein wirksames, das heisst baldiges Netto-Null gelingt nicht nebenbei; wir müssen uns bewusst dafür entscheiden und dementsprechend handeln.

Begriffsklärungen und Abkürzungen im Klimaglossar


Anmerkungen


1 Patrik Erdes, What are Carbon budgets?, 2022.
2 United Nations Environment Programme, Executive summary, in: Emissions Gap Report 2023.
3 IPCC (Hg.), Synthesis Report of the IPCC Sixth Assessment Report, März 2023.
4 D. I. Armstrong McKay et al., Exceeding 1.5 °C global warming could trigger multiple climate tipping points, in: Science, Band 377, Heft 6611, 9.9.2022.
5 A. M. Fischer et al., Climate Scenarios for Switzerland CH2018 – Approach and Implications, 16.4.2022.
6 National center for climate services, Klimawandel und Auswirkungen, Temperatur, 24.12.2022.
7 C. Mora et al., Global risk of deadly heat, in: Nature Climate Change 7, 2017. 
8 Katherine Richardson et al., Earth beyond six of nine planetary boundaries, in: Science Advances, Band 9, Heft 37, September 2023.
9 Christopher Schrader, Zehnstellig. Die Zahl der möglichen Opfer in der Klimakrise bricht die Milliarden-Grenze – eine Analyse, 19.11.2019.
10 Kevin Anderson, Climate: Where We Are Heading, 15.2.2024.
11 Axel Schubert, CO2-Budget Schweiz für max. 1.5°C, Mai 2020. 
12, 13 Eigene Berechnung auf Grundlage der Daten von www.climateactiontracker.org.
14 Climate Action Tracker, Switzerland in 2030, 6.6.2023.
15 Yann Robiou du Pont et al., Calculation of an emissions budget for Switzerland based on Bretschger’s (2012) methodology, 26.4.2023. 
 

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