Erfrischung in der Hochkonjunktur
Die Monate September bis November sind die Veranstaltungssaison der Baubranche. Unter den altbekannten Events mischt nun ein neues Format mit: «Stadtluft» setzt auf Peer-Review und Schwarmwissen und kennt dabei keine Landesgrenzen. Ein Erfahrungsbericht.
In der Zeit nach den Sommerferien gibt es kaum einen Tag, an dem man keine Besichtigung, kein Symposium, kein Podiumsgespräch und keine Fachtagung besuchen könnte. Dementsprechend füllen sich nicht nur die Agenden der Mitarbeitenden auf unserer Redaktion laufend mit Terminen, sondern auch tagtäglich die digitalen Postfächer mit neuen Anfragen. Eigentlich gehören solche Anlässe zu den schönen Seiten unseres Berufs – würden wir aber bloss noch von Veranstaltung zu Veranstaltung, von Apéro riche zu Stehtischgespräch tingeln, hätten wir keine Zeit mehr fürs Tagesgeschäft: das Produzieren und Publizieren redaktioneller Inhalte. Als mich kürzlich per E-Mail die Anfrage zur Veranstaltung «Stadtluft – Die rezyklierte Stadt» in Winterthur erreichte, dachte ich zunächst: Nicht noch eine Stadtentwicklungs-Veranstaltung!
Doch irgendetwas war anders. Es begann damit, dass mich der Veranstalter am Tag nach der Einladung anrief und nachfragte, ob ich denn komme und ob wir einen Veranstaltungshinweis in unseren Medien platzieren würden. Etwas überrascht und kurz angebunden sicherte ich ihm am Telefon den Veranstaltungshinweis zu, musste aber mit ehrlichem Blick auf meinen Terminkalender eine Teilnahme absagen. Damit hätte die Geschichte wie so viele derzeit enden können.
Als ich mir aber das Programm der Veranstaltung genauer ansah, um den Veranstaltungshinweis für meine Kolleginnen vorzubereiten, fielen mir sofort einige sehr selbstbewusste Eigenheiten der «Stadtluft» auf. Da war einerseits das trinationale Setting mit Vertreterinnen und Vertretern aus Berlin, Wien – und eben – Winterthur. Okay, dachte ich: Es sei auch einmal Winterthur, das im Schatten des tendenziell überheblichen Zürichs eher nicht für Selbstüberschätzung bekannt ist, vergönnt, dass es sich mit den beiden grössten deutschsprachigen Städten auf Augenhöhe sieht. Aber nicht nur das: Mich beeindruckte weiter, dass der Anlass mit handverlesenen Gästen aufwartete, offensichtlich sehr hohe Kritikfähigkeit der Teilnehmenden verlangte und eigentlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand.
Das brachte mich in einen Konflikt: Entweder liess ich mir mangels zeitlicher Ressourcen den Anlass entgehen oder ich räumte meine Agenda – eigentlich widerwillig und meinen Prinzipien dieser Herbstwochen widersprechend – frei und folgte der Einladung. Am Ende sass ich an jenem Freitagvormittag im Zug Richtung Winterthur.
Kreislaufwirtschaft greifbar nah
«Stadtluft» ist eine Peer-Review-Veranstaltung, die auf internationale Schwarmintelligenz setzt. Dabei stellt in der Regel die gastgebende Organisation im Hauptteil mehrere Projekte zu einem bestimmten Thema vor – in diesem Fall die Stadt Winterthur zum Thema «Die rezyklierte Stadt». Mitgestaltende der Veranstaltung sind zwei ausländische Teams aus vergleichbaren Organisationen und eine Tribüne, besetzt mit etwa 50 Fachexpertinnen und Fachexperten aus dem jeweiligen Themengebiet.
Konkret waren es in diesem Fall die für Städtebau und zirkuläres Wirtschaften verantwortlichen Vertreterinnen und Vertreter der Wiener und Berliner Behörden, Bauwissenschaftler von ebenda und namhafte Schweizer Planungs- und Baufachleute. Der moderierte Austausch fand in verschiedenen Blöcken statt, wobei im Wesentlichen die Stadt Winterthur mit drei Teams respektive drei Projekten antrat, um sich der professionellen Kritik der Partnerstädte und der Fachtribüne zu stellen.
Erfrischend an diesem Format ist, dass nicht – wie an so vielen anderen Veranstaltungen – einfach ein Pendant aus dem Ausland ein Referat hält, aus dem sowohl die Gastgebenden als auch das Plenum Schlüsse für das jeweils eigene Vorhaben oder Handeln zu ziehen versuchen. «Stadtluft» lebt davon, dass die ausländischen Gäste und die Fachtribüne die von der Gastgeberorganisation vorgestellten Projekte spiegeln, hinterfragen und wertvolle Inputs zur weiteren Bearbeitung leisten.
An dieser Stelle sei nur so viel aus dem Nähkästchen geplaudert: Durch das hohe fachliche Niveau auf allen Seiten des Teilnehmerfelds, eine professionell-neugierige Moderation und nicht zuletzt die Qualität der vorgestellten Projekte entstand eine Diskussion, die weit über die Wirkung eines einzelnen Projekts zur nachhaltigen Stadtentwicklung hinausging und sich sehr vielfältig mit dem Einfluss der klimatischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf die Planung und die zugehörigen Prozesse auseinandersetzte.
Kurzum: Die vereinte Expertise und Kritik aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer lieferte tatsächlich bereichernde Aussensichten auf die drei von der Stadt Winterthur vorgestellten Projekte und liess für einen kurzen Moment daran glauben, dass sich eine Vielzahl von Hürden auf dem Weg in «Die rezyklierte Stadt» – und allgemein in Richtung Kreislaufwirtschaft – durch derart vereintes planerisches und technisches Wissen effektiv überwinden lassen.
Nicht revolutionär, aber wegweisend
Expertise und kreative Ideen nützen aber nur, wenn sie sich unter gegebenen Randbedingungen einbringen beziehungsweise umsetzen lassen. So stellte sich sowohl im Verlauf des Tages als auch im Rahmen der öffentlichen Abendveranstaltung immer wieder die Frage nach dem erforderlichen Mass an Regulation, um kreislaufwirtschaftliche Prozesse politisch einzufordern. Auf diese und andere Fragen, die regelmässig an Fachveranstaltungen aufkommen, fand man selbstredend auch hier keine abschliessenden Antworten.
In der öffentlichen Reflexion am Abend waren sich die Protagonisten der Tagesveranstaltung zumindest einig, dass auf dem Weg in «Die rezyklierte Stadt» Iteration vor Perfektion kommen muss, das Vorankommen ein positives Mindset und Perspektiven (im Originalton: «Bilder») erfordert, aus verwaltungsgetriebenen Initiativen wie in Winterthur beeindruckende Projekte entstehen, man aber zu guter Letzt in seinen hehren Absichten noch konkreter und präziser werden muss – nur schon, wenn es um die Bedeutung des Begriffs der Kreislauffähigkeit geht. So weit die Schlussvoten des letzten Blocks der Abendveranstaltung.
Davor lieferte sich die munter gestimmte und illustre Gruppe eine zwischen Inspiration und Unterhaltung schwankende Podiumsdiskussion, die von einem literarischen Block eingeleitet wurde. Ein gut gelaunter Max Dudler sorgte mit seinen Kommentaren neben dem Impulsreferat des Schriftstellers Jonas Lüscher für den Unterhaltungsteil, der eloquente und schlagfertige Zürcher Regierungsrat Martin Neukomm baute jeweils wieder die Brücke zur sachlichen Podiumsfrage «Kann man Häuser wie Pfandflaschen rezyklieren?», die Zürcher Ständerätin Tiana Moser meldete sich leider kaum zu Wort und die österreichische Holzbau-Koryphäe Hermann Kaufmann erinnerte in seinen Voten daran, dass kreislauffähiges Bauen nur gelingen kann, wenn man sich vom massgeschneiderten Bauen entfernt und sich an flexiblen Typologien orientiert.
Alles in allem erreichte «Stadtluft» trotz gedrängtem Programm, den zahlreichen Teilnehmenden und der Vielzahl an angesprochenen Themen eine beachtliche fachliche Tiefe. Das Format, die versammelte Expertise, die Projekte und die Moderation überzeugten – bitte mehr davon!
Mehr Informationen zu «Stadtluft» und zur Veranstaltung in Winterthur befinden sich hier.